Hat der „Spiegel“ über einen Todesfall an der türkisch-griechischen Grenze und Vorwürfe in diesem Zusammenhang gegen Griechenland berichtet, ohne dass es den Todesfall oder das angeblich gestorbene Kind jemals gab? In einem ausführlichen Bericht hat das Hamburger Medienhaus jetzt die Ergebnisse eigener Nachforschungen veröffentlicht.
Im Kern geht es um den Vorwurf, dass griechische Behörden den angeblichen Tod des Kindes, genannt Maria, auf griechischem Staatsgebiet hätten verhindern können. Flüchtlinge hatten „Spiegel“-Journalisten ein Handyfoto eines Kindes zukommen lassen, dass bleich aussah und mit geschlossenen Augen auf dem Boden lag. An einem Bein soll ein Bluterguss zu sehen gewesen sein. Die Version der Flüchtlinge: Der Biss eines Skorpions soll zum Tod des Kindes geführt haben.
Ergebnis der Nachforschungen des „Spiegel“: „Auch wenn ein letztgültiger Beleg fehlt, deutet doch manches darauf hin, dass einige der Geflüchteten den Todesfall in ihrer Verzweiflung erfunden haben könnten. Möglicherweise dachten sie, dass sie dann endlich gerettet würden.“
Ein Foto taugt nicht als Beweis
In ihrer Aufarbeitung schreiben die Journalisten, das Bild des angeblich toten Mädchens sei kein Beweis dafür, dass das Kind wirklich gestorben ist: „Das Foto wurde per WhatsApp verschickt und enthält keine Metadaten, denen man entnehmen könnte, wann es wo aufgenommen wurde. Zudem lässt sich nicht sagen, ob das Mädchen darauf nur die Augen geschlossen hat oder tot ist.“
Zudem beschreibt das Rechercheteam Zweifel an den Angaben von Maryam B., der angeblichen Mutter Marias, sie habe insgesamt fünf Kinder gehabt. Auf Fotos sei die Frau immer nur mit maximal vier Kindern zu sehen, auch sonst gebe es keine Beweise für die Existenz des fünften Kindes. Maria soll Zwillingsschwester eines anderen Kindes gewesen sein.
„Die Familie behauptet, alle Erinnerungsfotos seien auf einem Handy gespeichert gewesen, das die Griechen ihnen abgenommen hätten. Verwandte oder Bekannte könnten ebenfalls keine Beweisbilder schicken.“
Die Eintragung des Kindes in ein syrisches Register sei nicht nach der Geburt oder vor der Flucht, sondern erst drei Monate nach dem angeblichen Tod erfolgt. Nachträgliche Eintragungen seien nicht unüblich, aber mit den richtigen Verbindungen in Syrien bereits für 50 US-Dollar einfach zu bekommen.
Auch ein Ort, an dem das Kind begraben sein soll, konnte nicht gefunden werden. Die Eltern sagen laut „Spiegel“, dass sie sich an den genauen Ort nicht mehr erinnern könnten. Ein Grabstein sei entgegen islamischen Ritualen nicht gesetzt worden. Die Begründung: Andere Migranten sollten nicht darauf aufmerksam werden. Das Risiko, dass jemand die Totenruhe des Kindes störe, weil er verbuddelte Wertgegenstände an der markierten Stelle vermute, sei zu hoch gewesen.
Forderung nach Konsequenzen
Möglicherweise auch aufgrund des Veröffentlichungszeitpunkts liegen bislang wenige Reaktionen auf das Eingeständnis der Fehler des „Spiegel“ vor. Marvin Schade, Medienjournalist und Gründer des Branchendienstes „Medieninsider“ thematisierte das Timing der Veröffentlichung: „Freitagabend, ein Abend vor Silvester“. Zudem schrieb der Branchenkenner bei Twitter: „Bin gespannt, welche Konsequenzen der ‚Spiegel‘ daraus ziehen wird. Trotz der ausführlichen Aufarbeitung: das hätte nicht passieren dürfen. Höchste Standards bringen nichts, wenn alle Kontrollmechanismen versagen.“
Der Fall weckt Erinnerungen an gefälschte Reportagen von Claas Relotius, die über Jahre hinweg im „Spiegel“ erschienen und zahlreiche Preise gewannen. Im Unterschied zu Relotius geht es in diesem Fall offenbar nur darum, dass Reporter einer ausgedachten Geschichte Glauben geschenkt haben – und sie nicht ausreichend überprüft hätten. Relotius fälschte dagegen vorsätzlich.
Der „Spiegel“ schreibt, dass die ursprünglichen Berichte über den Fall der angeblich gestorbenen Maria nicht mehr auf die Website gestellt würden, weil zu viel korrigiert werden müsste. Stattdessen verweisen die Journalisten auf ihre ausführlichen Nachforschungen zu dem Fall.