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Theater Anne Lenk

„Theater ist eine analoge Veranstaltung“

Freier Mitarbeiter im Feuilleton
Anne Lenk im Stadtpark Anne Lenk im Stadtpark
Anne Lenk im Stadtpark
Quelle: Marlene Gawrisch
Wer sagt, das Theater wäre tot? Wenn Anne Lenk nicht inszeniert und probt, geht sie am liebsten in der Berliner Hasenheide spazieren – und erinnert sich daran, was sie in einem Workshop für Clowns gelernt hat.

Anne Lenk kommt nicht zur Ruhe. Erst vor drei Tagen hatte die Regisseurin mit „Minna von Barnhelm“ Premiere am Deutschen Theater Berlin, einen Tag später als geplant. Eine Erkrankung im Ensemble erforderte Umbesetzungsproben bis zum letzten Moment – eine Herausforderung für Lenk, die lieber gründlich und mit etwas Zeit arbeitet. Und weil einer der Schauspieler wegen eines Filmdrehs für die nächsten Vorstellungen ausfällt, musste sie gleich zwei Tage nach der Premiere wieder auf die Probebühne, die nächste Umbesetzung.

Keine Pause? Oder Urlaub? Lieber nicht, sagt Lenk lachend. Ihr reicht es, einmal gut zu kochen. Gründlich und mit Zeit – wie im Theater. Beim Gemüseschnippeln kommt sie zur Ruhe. Die Endproben sind in der Regel alles andere als ruhig, selbst zum Essen kommt sie dann manchmal nicht, vom Kochen ganz zu schweigen. Hier die Absprachen mit der Bühnentechnik und der Beleuchtung, dort noch die letzten Feinheiten bei den Schauspielern, es gibt immer noch etwas zu tun und zu verbessern.

Und dann steht schon wieder das nächste Stück an, nach der Premiere ist vor der Premiere. Dieses Mal „Drei Schwestern“ von Anton Tschechow, bis in den frühen Nachmittag hinein konferiert Lenk mit dem Hamburger Thalia-Theater, obwohl die Premiere erst im nächsten Frühjahr ist. Die gelangweilten Schwestern, die wirklichkeitsentrückt um sich selbst kreisen, sich von ihren Erinnerungen und Träumereien nährend, während sie zum Handeln völlig unfähig sind; was sagen sie uns noch – oder wieder? „Nach Moskau!“, was heißt das heute?

Von der Konferenz geht es in die Hasenheide in Berlin-Neukölln. Das Denkmal Friedrich Ludwig Jahns grüßt am Eingang von einer Anhöhe. Der „Turnvater“ propagierte die Leibesertüchtigung als vaterländisches Programm, Frauen und Juden waren unerwünscht. Der erste öffentliche Turnplatz des Landes war in der Hasenheide, bis auf das Denkmal erinnert daran wenig. Doch seit einem Jahr gibt es neue bunte Sportgeräte, die sich über das Gelände verteilen. „Berlin bewegt sich“, hat die Stadt das Programm genannt.

Licht aus, Aufmerksamkeit an

Anne Lenk spaziert lieber. An Stangen hangeln oder an „Bewegungselementen“, wie es offiziell heißt, sich verrenken, das ist nicht ihre Sache, auch joggen nicht. Lieber spazieren. Die Hasenheide ist noch nass vom Regen, ein Windstoß weht die Tropfen aus den Bäumen, die Säufer haben sich unter dem Flachbau der „Hasenschänke“ versammelt, die nur in den Sommermonaten geöffnet hat, ein paar Drogennahversorger streifen durch die Büsche. Es ist leer, ein einsamer Plastikstuhl steht auf der Wiese, wenig später bricht ein Sonnenstrahl durch die Wolkendecke – Berliner Herbstidylle.

Selbst das Spazieren ist bei Anne Lenk in letzter Zeit etwas zu kurz gekommen, obwohl die Hasenheide oder das ehemalige Flugfeld Tempelhof nicht weit von ihrer Wohnung im angesagten Norden Neuköllns entfernt liegen. Manchmal fragt sie sich, ob sie nicht wegziehen sollte aus der Hauptstadt. Aufs Land? Ihr Sohn im Teenager-Alter wäre wohl kaum begeistert. Der hätte lieber ein Smartphone. Lenk ist skeptisch. Wir hingen so viel an den Bildschirmen, sollte man damit nicht besser so spät wie möglich erst anfangen?

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Skeptisch ist Anne Lenk auch, wenn verkündet wird, die Zukunft des Theaters läge im Digitalen. „Für mich ist Theater noch immer eine analoge Veranstaltung“, sagt sie. Menschen kommen zusammen, richten ihre Blicke von den Endgeräten, die sie permanent mit sich herumtragen, auf eine gespielte Sache vorn auf der Bühne. Licht aus, Aufmerksamkeit an. Eine Übertragung auf einen Bildschirm erzeugt nicht denselben Sog, diese kollektive Gespanntheit des Publikums, der man sich kaum entziehen kann.

Doch was ist, wenn das Publikum wegbleibt, die Säle halb leer bleiben – Stichwort: Publikumsschwund? Das kennt die Regisseurin nur vom Hörensagen. Die Vorstellungen ihrer Inszenierungen sind meistens ausverkauft. Deswegen auch die umständlichen Umbesetzungen, kein Intendant sagt gerne eine Vorstellung vor vollem Haus ab. Was Lenk macht, ist nicht nach drei Vorstellungen abgespielt; auch das ist nachhaltiges Theater. „Der Menschenfeind“, „Maria Stuart“ und „Der zerbrochne Krug“ laufen alle im Repertoire des Deutschen Theaters auf der großen Bühne – und sie laufen gut. Woran liegt das?

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Um die Frage zu beantworten, muss Anne Lenk etwas ausholen. 1978 geboren, geht sie zum Studieren nach Gießen. Das dortige Institut für Angewandte Theaterwissenschaft, gegründet Anfang der 1980er-Jahre, ist so etwas wie die Kaderschmiede des Performance-Theaters. „Postdramatisches Theater“ von Hans-Thies Lehmann und „Die Ästhetik des Performativen“ von Erika Fischer-Lichte sind die heiligen Schriften, unter den berühmten Absolventen finden sich René Pollesch und Kollektive wie Rimini Protokoll und She She Pop. Für Lenk ist das nichts, sie will Theater machen, das Handwerk lernen – und wechselt nach München.

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Während in schöner Regelmäßigkeit das literarische oder psychologische Theater für tot und überholt erklärt wird, geht Anne Lenk einen anderen Weg. „Ein Mensch ohne Psyche, was soll das sein?“, fragt sie. „Das gibt es nicht. Selbst wenn wir alle autistisch wären, ist das eine psychologische Tatsache.“ Psyche, Körper und Sprache, in diesem Spannungsfeld findet das Theater von Lenk statt, ein Theater der Welt des Menschen. Das Material findet sie in Klassikern der Bühnenliteratur wie Racine, Lessing, Schiller und Kleist, ebenso in modernen Stoffen wie „Der nackte Wahnsinn“, an dem sie zurzeit in Hannover arbeitet.

Unvermeidlich kommt das Gespräch auf die gegenwärtige Krise des Theaters, begleitet von einem Wechsel der Atmosphäre. Aus der Hasenheide geht es über den trubeligen Hermannplatz in ein kleines Café direkt am St.-Jacobi-Friedhof. Die Grabsteine und Statuen versprühen einen morbiden Charme. Ist das Theater tot? So schlimm ist es auch nicht, sagt Lenk, aber sie hofft auf den Nachwuchs. Dem sie vielleicht etwas mitgeben kann; Lenk hat bereits Gastprofessuren an Schauspielschulen in Hamburg und Berlin gehabt.

Der Geist des Turnvaters ist überall: Die Theaterregisseurin Anne Lenk beim Spaziergang
Der Geist des Turnvaters ist überall: Die Theaterregisseurin Anne Lenk beim Spaziergang
Quelle: Marlene Gawrisch

Bei der Sprache fängt es für sie an. „Ich kann keinem Roboter zuhören“, sagt Anne Lenk: „Da bin ich sofort raus.“ Darum geht es in der Arbeit mit den Schauspielern, um „gedachte Sprache“, wie sie es nennt. Das Gegenteil von gedankenlosem Aufsagen. Und auch das Gegenteil davon, nur eine Tonlage auf den Text anzuwenden. Ob Flüstern oder Schreien, manierierte Betonungen oder Dialekt, wenn die Sprache nicht durch Kopf und Körper gegangen ist, hilft das alles nichts. Niemand arbeitet im Theater zurzeit so präzise mit Sprache wie Lenk; kein Wunder, dass sie keine Laxheiten erträgt.

Lenk hat den Ruf, streng zu sein. Gut, aber streng, so hat ein Schauspieler die Kollegen informiert. Oder gewarnt? Lenk ist gründlich, das wird geschätzt. Mit ihrer Bühnenbildnerin und ihrer Kostümbildnerin arbeitet sie seit Jahren zusammen, wenn es passt, bevorzugt sie Langzeitbeziehungen statt künstlerischer One-Night-Stands. Die Wertschätzung hat auch im Betrieb ihren Ausdruck gefunden: Mit „Der Menschenfeind“ wurde Lenk erstmals zum Berliner Theatertreffen eingeladen, bereits im nächsten Jahr folgte mit „Maria Stuart“ die nächste Einladung. Es dürfte kaum die letzte gewesen sein.

Bei „Der Menschenfeind“ war die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel, sonst nicht als eifrige Theatergängerin bekannt, im Publikum. Nach der Premiere von „Der zerbrochne Krug“ gehörte sie, kurz zuvor aus ihrem Amt verabschiedet, zu den ersten Gratulanten hinter der Bühne. Es habe ihr gefallen, aber den Krug als koloniale Raubkunst darzustellen, ging Merkel dann doch zu weit. Was sie prompt mit den Glückwünschen übermittelte. Ein Tadel von „Mutti“? Ein bisschen eigenartig war es schon, erzählt Lenk, doch ohne die Kritik wäre es vermutlich auch eigenartig gewesen.

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Klassiker zu inszenieren könnte heute am Theater als Strafe aufgefasst werden. Nicht für Anne Lenk, für sie als genaue Leserin und von Sprache begeisterte Regisseurin ist es eine glückliche Gelegenheit. Nichts gegen Kino oder Serien – sie liebt „Fleabag“ –, aber Theater ist eben auch eine Auseinandersetzung mit Stoffen, die älter sind als Netflix. Man kann mit den Fragen der Gegenwart an die Stücke aus der Vergangenheit herangehen, um dann, zum eigenen Erstaunen, festzustellen, dass sich daraus ein fruchtbarer Dialog über die Epochen hinweg ergibt.

„Minna von Barnhelm“, den Klassiker von Gotthold Ephraim Lessing, hat Lenk als Komödie über Geschlechterrollen inszeniert. Sie konzentriert sich ganz darauf, das Spiel der Figuren miteinander zu zeigen. Das Publikum darf sich ermutigt fühlen, selbst das vergessene Spielerische im eigenen Leben zu entdecken, das verborgene Gewordensein auf die Bühne zu bringen. Das Mittel, das Lenk nutzt, ist der Humor, der sich nicht über die Figuren erhebt, sondern diese miteinander ins Spiel bringt. Das hat sie in Studienzeiten bei einem Workshop für Clowns gelernt, erzählt Lenk, das hat Spuren bis heute hinterlassen.

Lenks Vorliebe für das Subtile und Untergründige sticht heraus, das steht im Gegensatz zu den grellen Extremperformances einer Florentina Holzinger oder den martialischen Stampf-und-Brüll-Abenden eines Ulrich Rasche. Das Theater kann aus anderen Quellen schöpfen, aus ruhigeren, klareren und tieferen. Inzwischen ist es dunkel, Anne Lenk verabschiedet sich Richtung Sonnenallee. Sie hat am Theater zu tun, die nächste Inszenierung ruft schon.

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