WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Kultur
  3. So wird der „Polizeiruf 110“: Hexensabbat in Thalrode

Kultur So wird der „Polizeiruf 110“

Hexensabbat in Thalrode

Redakteur Feuilleton
Dem Patriarchat am Brocken schlägt in "Hexen brennen" die letzte Stunde Dem Patriarchat am Brocken schlägt in "Hexen brennen" die letzte Stunde
„Hexen brennen“ spielt im Harz
Quelle: MDR/filmpool fiction/Conny Klein
Im Magdeburger „Polizeiruf“ an Halloween kämpfen alte Männer und starke Frauen um die Herrschaft über ein idyllisches Harzdorf. Scheiterhaufen brennen, Schüsse fallen. Muss man sehen. Das hat vor allem einen Grund.

Spätestens dann, wenn schwarze Vögel in Fernsehfilmen anfliegen, sich irgendwo malerisch hinsetzen und seltsam krähen, ist der Moment gekommen, sich wichtigeren Dingen zuzuwenden. Schwarze Vögel sind für Fernsehfilme, was den Weg kreuzende schwarze Katzen für Abergläubische sind – ein ganz schlechtes Zeichen. Ihr Krächzen bedeutet größten Humbug-Alarm.

Der Regel folgend, müsste man „Hexen brennen“ nach ziemlich genau vier Minuten ausschalten. Da rüttelt erst ein kleiner schwarzer Raubvogel hoch in der Luft über dem malerischen Harzstädtchen Thalrode am Fuße des Brockens. Dann knallt eine sehr schwarze Amsel derart gegen die Fensterscheibe der gerade ankommenden Kommissarin Brasch, dass sie scheintot auf dem Kopfsteinpflaster liegt.

Dass wir es in diesem Fall mit einem Mummenschanz zu tun bekommen, hätten wir uns bei dem Titel und dem Sendedatum kurz vor dem 31.10. (nein, nicht der Reformationstag ist gemeint, der andere, der mit den Kürbissen und den Gruselkindern an der Tür) sowieso denken können. Nach dem Schwarze-Vogel-Desaster abzuschalten, wäre trotzdem die falsche Entscheidung.

Lesen Sie auch

In den mittelalterlichen Mummenschanz hat Wolfgang Stauch, der so was kann wie kaum ein zweiter, ein ziemlich modernes Endspiel verpackt. Thalrode ist nämlich die Welt in einer Nussschale, weniger wegen des am Klimawandel und am Borkenkäfer sterbenden Waldes, der es ständig grauer werdend wie Fantasién bei Michael Ende umgibt. Sondern wegen der Balance der Geschlechter in der Gesellschaft und den letzten Kampf des Patriarchats auf den Barrikaden gegen die anstürmenden Hexen. Pardon. Frauen.

Mit niemandem an der Seite möchte man lieber in dieses tödlichen Mysterienspiel ziehen als mit Kommissarin Brasch. Ihre ersten Worte sind, da fliegt der tote Vogel wundersam wieder genesen fröhlich pfeifend auf den nächsten Baum: „Das glaub ich jetzt nicht.“

Gabriela Maria Schmeide und Claudia Michelsen in „Hexen brennen“
Gabriela Maria Schmeide und Claudia Michelsen in „Hexen brennen“
Quelle: MDR/filmpool fiction/Conny Klein

So ist sie. Mit Glauben hat sie es nicht so. Für Mythen und Märchen ist sie wahrscheinlich seit ihrer frühen Kindheit verloren. Sie will hinsehen, will verstehen, in diesem Fall, was hinter der Herbsthexerei im Harzwald tatsächlich steckt. Brasch ist eine empathische Rationalistin, eine vorbildlich unverhärtete Feministin. Ohne sie wäre dieser „Polizeiruf“ schon nach vier Minuten im Humbug geendet, und wir hätten stattdessen… Aber das hatten wir ja schon.

Es ist also Hexensabbat in Thalrode. In den engen Straßen zwischen den niedlichen Fachwerkhäusern treiben Hexen und Teufel ihr Unwesen. Feuer brennen. Magische Symbole prangen an Hauswänden. Zwei Mädchen, denen in „Hexen brennen“ die Aufgabe der drei Knaben in der „Zauberflöte“ zukommt, schauen zu.

Sie finden‘s gruselig, begegnen einer Tanja, die aber grußlos vorbeizieht, und gehen durch einen unheimlichen deutschen Wald nach Hause, in den ich jedenfalls kein Mädchen des Nachts gehen lassen würde. Es nebelt, es knackt, irgendwo schreit wer. „Der ganze Berg schreit“, sagt die Jüngere. Und hat sehr recht.

Brasch fährt am folgenden Tag von Magdeburg aus an, weil das Mittelalter in Thalrode nicht nur gespielt war, sondern seine blutige Fratze erhoben hat. Eine Leiche liegt in der Asche eines Feuers. Man hatte sie – es war Tanja – vorher gefoltert und dazu beherzt ins Inventar mittelalterlicher Schreckensinstrumente gegriffen (mit der Schädelschraube unter anderem, deren Funktionsweise hier nicht weiter ausgeführt werden soll). Und dann hatte man sie angezündet.

Anzeige

Stauchs „Polizeiruf 110“ bringt Brasch gleich im Epizentrum des Geschlechterkrieges von Thalrode unter. In der Dorfkneipe. Da lässt sich – das hat man ja beinahe vergessen, weil es kaum mehr Dorfkneipen gibt – alles auffalten. Da sitzen die alten Jungs zusammen, trinken Bier und Schnaps, wie sie es immer getan haben. Als alles noch gut war, weil es immer so war. „Wir haben Pimmel“, wird der Kommissarin beschieden, als sie versucht, sich dazuzusetzen. Die Zeit steht still im „Dorfkrug“.

Gehen wir Hexen jagen im Wald: Männer von Thalrode
Gehen wir Hexen jagen im Wald: Männer von Thalrode
Quelle: MDR/filmpool fiction/Conny Klein

Draußen, daheim und auf der Straße bewegt sich aber was. Kommt was ins Rutschen. Was früher gut war, beschwert sich einer der Männer, soll es jetzt nicht mehr sein. Die Frauen ermächtigen sich, machen zunehmend ihr Ding, treffen sich im Wald, feiern ihre Stärke bei Ritualen am Feuer. Und weil sie zurückkehren in eine Zeit des magischen Denkens, tun die Männer es auch. Es wird nicht bei einer Frauenleiche im Feuer bleiben.

Thalrode ist im Kern Twitter mit anderen Mitteln. Stauch verpackt das ohnehin gruselige Debattengeschehen in eine Gruselgeschichte, die allerdings mit allen Beinen, die Thalrodes Bewohner haben, in der Realität steht. Es sind keine mystischen Konflikte, die da ausgetragen werden, sondern höchst reale.

Familienkonflikte, Generationskonflikte, die Beziehungen der Dörfler sind sowieso explosiv. Wenn da einer mit einer Fackel, einer echten oder einer symbolischen, es gibt von beiden Sorten viele, durchs Dorf läuft, explodiert es halt.

Stauch findet einen feinen Ton für seinen Hexensabbat. Mit feiner Ironie tanzt Thalrode über alle im Dickicht derartiger Geschichten lauernden Klischeefallen hinweg. Die ganze Mummenschanzerei lebt. Man bekommt fast Mitleid selbst mit den verbohrtesten Kerlen.

Und dann ist da Claudia Michelsens Brasch und deren staunend aufgeklärter Blick, durch den wir das alles sehen. Es ist schon klar, von wo aus sie auf die Harzer schaut. Sie ist eine verhältnismäßig einseitige Ethnologin. Aber eine genaue, unbestechliche. Aus den Forschungsgesprächen, die sie auf beiden Seiten des großen Grabens durch Thalrode führt, schlägt Stauch ungefähr so viele Funken wie ein Samhain-Feuer mit nicht ganz trockenem Brockenholz.

„Polizeiruf 110: Hexen brennen“. ARD 30.10. um 20:15 Uhr und Mediathek

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema