WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Kultur
  3. Cherson: Potemkin und die Niederlage für die „russische Welt“

Meinung Cherson

Der Abtransport von Potemkin ist eine Niederlage für die „russische Welt“

Fähiger Staatsmann: Potemkin (1739-1791) Fähiger Staatsmann: Potemkin (1739-1791)
Fähiger Staatsmann: Potemkin (1739-1791)
Quelle: Fine Art Images/Heritage Images/Getty Images
In der Südukraine demontieren die Besatzer Denkmäler und nehmen sie auf ihrem Rückzug mit. Statue und Gebeine von Fürst Potemkin sind schon fort. Der Vorgang ist hochsymbolisch. Denn Potemkin spielte eine große Rolle, als die Region russisch wurde.

Serhii Khlan, ein Berater des entmachteten ukrainischen Chefs der Region Cherson, postet auf seiner Facebook-Seite ein Foto vom leeren Sockel des Denkmals für den Fürsten Potemkin (1739–1791), der die Stadt im 18. Jahrhundert gründete und der hier begraben liegt. Khlan schreibt: „Nach Uschakow und Suworow wurde auch Potemkin aus Cherson ‚evakuiert‘. Das Einzige, was den Russen bleibt, ist, seine sterblichen Überreste aus der Kathedrale zu stehlen“. Auch die Chersoner Publikation „Most“ veröffentlichte ein Foto des leeren Sockels.

Tatsächlich wurden nicht nur die Statuen der zarischen Feldherrn Suworow und Uschakow, des Sowjetgenerals Margelow (der 1944 die Wehrmacht aus Cherson vertrieb und dafür zum Helden der Sowjetunion geadelt wurde) oder eben das Potemkin-Denkmal aus Cherson entfernt, sondern auch die sterblichen Überreste des Stadtgründers aus der Katharinen-Kathedrale – weil die ukrainische Armee immer weiter vorrückt und auch der Kampf um die Stadt unmittelbar bevorstehen könnte.

Die Umbettung Potemkins teilte der mit den Russen kollaborierende Leiter des besetzten Teils der Region, Wolodymyr Saldo, im Fernsehsender Krim24 selbst mit. Auch behaupteten lokale russische Behörden am 24. Oktober, sie hätten beschlossen, die Denkmäler „aufgrund ständiger Bombardierung und Sabotage“ aus der Ukraine zu entfernen. Die russischen Besatzer zerlegen die Kulturgüter in Cherson und anderen Ortschaften und holen sich ihr kulturelles und historisches Erbe aus der Ukraine zurück. Oder, wie sie sagen würden, sie „evakuieren“ es.

Wenn man mit Ukrainern aus dem Süden über Zarenhelden wie Suworow, Uschakow oder Potemkin spricht, so gibt es Stimmen, die sagen, dass es nur Überbleibsel aus der Sowjetunion gewesen seien, die sie nicht mehr in der Stadt sehen wollen. Diese alten Helden standen auf öffentlichen Plätzen, aber sie waren eigentlich reif fürs Museum, geeignet, aus dem öffentlichen Raum verbannt zu werden. Denn sie verkörperten das russische Imperium und dessen Expansion. Sie standen für die „Russki Mir“, für die russische Welt und deren Kultur.

Die Südukraine, das war für das russische Imperium „Neurussland“, also ein Ort zur Erschließung und Kolonisierung. Diese Region war aber historisch alles andere als unumstritten. Vor der Eingliederung ins russische Imperium unter Katharina II. war das Gebiet „Neurusslands“ lange Zeit zwischen Polen-Litauen, dem Osmanischen Reich und dem Russischen Reich umkämpft. Bis 1774 gehörte die Region zum Khanat der Krim, also zu den Krimtataren.

Fürst Potemkin ist heute bekannt durch die sprichwörtlichen Attrappendörfer zur Vortäuschung von zivilisatorischen Fortschritten für die Zarin (eine auf Neider zurückgehende Legende) oder durch den nach ihm getauften Panzerkreuzer aus Eisensteins Filmklassiker.

Historisch war Potemkin eine zentrale Figur in der Erschließung der südlichen Ukraine. Unter Katharina II. stieg er zum Feldherrn und obersten Verwalter der Region auf. 1778 wurde Cherson gegründet; Straßen, Plätze und Gebäude waren dem progressiven Geist der Zeit entsprechend im Schachbrettmuster angeordnet. Weitere Gründungen wie Odessa, Sewastopol, Dnipro, Saporischschja, Mykolajiw, Mariupol folgten.

Solche Ikonen des Zarenreichs sind für die russischen Besatzer heute Teil ihres vermeintlichen Erbes und legitimieren so ihren Anspruch auf die Südukraine. Die aktuelle Demontage der Kulturgüter in Cherson kommt daher einerseits einer Niederlage der „russischen Welt“ gleich, also der Ideologie der kulturellen Totalität des Russischen. Aus russischer Sicht freilich ist es zugleich ein verzweifelter Versuch, diese vergangene koloniale Welt zu retten.

Suworow, Uschakow oder Potemkin sind Helden eines russischen Reiches, das sich unter den anderen europäischen Großmächten behaupten wollte und ganze Landstriche durch Deportation russifizierte. Der Raub dieser Kulturgüter ist eine Verteidigung der russischen Deutungshoheit über die Geschichte. Aus Putins Sicht darf die historisch-kulturelle Definitionsmacht auf keinen Fall dem Opfer dieses bis heute fortdauernden Imperialismus, der Ukraine, überlassen werden.

Anzeige

Jedoch waren Cherson und die Südukraine nie vollkommen russisch, sondern haben sich immer durch ihre Vielfalt ausgezeichnet. Bereits im 19. Jahrhundert waren die Straßen Chersons von ukrainischer, jüdischer, polnischer, moldauischer, deutscher, tatarischer und russischer Sprache erfüllt.

Im August 2012 teilte die Stadtverwaltung mit, dass in Cherson 110 Nationalitäten leben. Die Entfernung der Kulturgüter in Cherson ist nur ein Versuch, die „russische Welt“ durch die Rettung ihre Helden symbolisch zu erhalten. Doch die Südukraine ist multiethnisch.

An dieser Stelle finden Sie Inhalte von Drittanbietern
Um eingebettete Inhalte anzuzeigen, ist deine widerrufliche Einwilligung in die Übermittlung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten notwendig, da die Anbieter der eingebetteten Inhalte als Drittanbieter diese Einwilligung verlangen [In diesem Zusammenhang können auch Nutzungsprofile (u.a. auf Basis von Cookie-IDs) gebildet und angereichert werden, auch außerhalb des EWR]. Indem du den Schalter auf „an“ stellst, stimmst du diesen (jederzeit widerruflich) zu. Dies umfasst auch deine Einwilligung in die Übermittlung bestimmter personenbezogener Daten in Drittländer, u.a. die USA, nach Art. 49 (1) (a) DSGVO. Mehr Informationen dazu findest du hier. Du kannst deine Einwilligung jederzeit über den Schalter und über Privatsphäre am Seitenende widerrufen.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema