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Hamburg Kristine Bilkau

Die schaurige Häuslichkeit

In Hamburg geboren, in Schleswig Holstein aufgewachsen, lebt Kristine Bilkau seit vielen Jahren in der Schanze In Hamburg geboren, in Schleswig Holstein aufgewachsen, lebt Kristine Bilkau seit vielen Jahren in der Schanze
In Hamburg geboren, in Schleswig Holstein aufgewachsen, lebt Kristine Bilkau seit vielen Jahren in der Schanze
Quelle: Bertold Fabricius
Für ihre ersten zwei Romane bekam die Hamburger Autorin Kristine Bilkau viel Lob. Mit ihrem neuen Werk „Nebenan“ könnte sie nun den Deutschen Buchpreis gewinnen. Mit WELT AM SONNTAG sprach sie über die Entstehung ihres Schauerromans und ihr neues Projekt.

Kristine Bilkau kann sich nicht daran erinnern, je etwas anderes zu wollen, als Geschichten zu schreiben. Sie wollte als junges Mädchen nicht Tierärztin oder Astronautin werden, nicht Primaballerina oder Lokomotivführerin. Da war immer nur der Wunsch: Schriftstellerin.

Früh bekam sie dafür Unterstützung, und zwar von autorisierter Stelle: der Kinderbuchsparte des Rowohlt Verlages rororo. Sie muss etwa zwölf Jahre alt gewesen sein, da hatte ihre Mutter eine Geschichte von ihr eingeschickt. Zurück kam ein freundlicher Brief mit einer nachdrücklichen Ermutigung: „Mach weiter so.“

Das tat sie. Als Austauschülerin in den USA schrieb sie weiter, belegte sogar einen „Ten Fingers Typing“-Kurs. „Ich dachte, das könnte irgendwann hilfreich sein“, erzählt Bilkau in einem Gespräch mit WELT AM SONNTAG. Inzwischen sind drei Romane der heute 48-Jährigen erschienen, allesamt von Kritik und Leserschaft viel gelobt. Mit ihrem jüngsten Roman „Nebenan“ könnte sie nun am Montag im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse den Deutschen Buchpreis gewinnen, eine der renommiertesten Auszeichnungen des Landes, mit 25.000 Euro dotiert. Ihr Hamburger Kollege Heinz Strunk hatte es mit „Ein Sommer in Niendorf“ in die Vorrunde geschafft, war dann aber ausgeschieden.

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„Nebenan“ ist das, was man im Englischen als „domestic novel“ bezeichnen würde, also ein Roman, der die häusliche Domäne erkundet. Und er ist ein Schauerroman. Zentrale Figuren sind Julia und Astrid. Julia ist eine junge Frau, die mit ihrem Freund aus Hamburg an den Nord-Ostsee-Kanal gezogen ist, nicht als Flucht, sondern um einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen – und um endlich schwanger zu werden. Astrid ist eine mit beiden Beinen fest im Leben stehende Ärztin kurz vor der Rente, die Kinder sind aus dem Haus, ihr liebevoller, etwas schluffiger Mann bereits in Rente.

Doch dann geschehen seltsame Dinge: Astrid erhält Drohbriefe und wird von Geistern der Vergangenheit heimgesucht. Julia wiederum kann sich in das Leben am Rande einer schleswig-holsteinischen Kleinstadt nicht recht einfinden. Noch dazu geschehen seltsame Dinge: Die Familie aus dem Nachbarhaus verschwindet, im Kanal treiben rätselhafte Teilchen.

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Dabei erweist sich Bilkau als sehr genaue Beobachterin, die nüchtern-präzise formuliert. Sie erkundet, was Orte aus den Menschen machen, wie Figuren von Emotionen geleitet werden, ihren Sehnsüchten folgen, die sich dann ganz langsam pulverisieren. Julias Keramiklädchen in der naheliegenden Kleinstadt will nicht so recht anlaufen, vielleicht liegt es auch daran, dass sie viel Zeit mit Mama-Influencerinnen auf Social Media verbringt, die ihr Glück ins Gesicht schreien.

Astrid will sich von den Drohbriefen nicht einschüchtern lassen, lebt stoisch ihr Leben weiter. „Ich wollte kein Stadt-Land-Dichotom schreiben, von der Sehnsucht der Großstädter nach dem Land,“ sagt Bilkau. Vielmehr will sie von strukturellen, kulturellen Entwicklungen erzählen, wie schon in ihrem ersten Roman „Die Glücklichen“. Darin droht sich das Wohlstandsleben einer jungen, hippen Familie aufzulösen, nachdem der Mann seinen Redakteursjob verliert, die Frau aufgrund von (psychosomatischen) Lähmungserscheinungen nicht mehr als Orchestermusikerin arbeiten kann.

Bilkau geht es um die Frage des Miteinanders

Bilkaus Romane sind Zeugnisse ihrer Zeit, die ein Lebensgefühl genau beschreiben. „Ich verarbeite in meinen Romanen natürlich Erfahrungen, Beobachtungen, die ich in meinem Umfeld mache, Entwicklungen, die ich wahrnehme“, sagt sie. Es gebe Parallelen zu ihrem Leben, anderes sei fiktionalisiert.

Mit ihrem Mann und ihrem 14-jährigen Sohn lebt sie seit vielen Jahren im Schanzenviertel. Geboren ist sie in Hamburg, aufgewachsen in einer schleswig-holsteinischen Kleinstadt. „Ich kenne das Leben dort, weiß um die Bedeutung sozialer Geflechte, Institutionen wie Bücherhallen, die Eisdiele, der Sportverein, sehe, was die Orte aus den Menschen machen, und umgekehrt, wie die Menschen die Orte prägen, mal aktiv, mal eher passiv“, sagt sie. Ihr geht es um die Frage des Miteinanders.

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Dafür steigt Bilkau nicht nur tief in Beobachtungen ein, sondern auch in die Recherche all ihrer Geschichtendetails, die bei der Lektüre wie kleine Puzzleteilchen nach und nach das Bild vervollständigen. Ihr ist wichtig, bei jeder ihrer Arbeiten etwas Neues zu erkunden, wie jetzt die schaurigen Elemente.

Dafür hat sie beim Schreiben des Romans, während der Pandemie zwischen Küchentisch und Arbeitszimmer, die Schauerromane des 19. Jahrhunderts genau studiert, sich intensiv mit Keramik beschäftigt. „Völlig zu Unrecht wird Keramik oft als Kleinkunst abgetan, dabei ist sie eine Kunst mit langer, vielfältiger Tradition“, sagt sie. Keramik sei ein fester Bestandteil der häuslichen Domäne, sagt viel über die jeweilige Zeit aus, habe in einigen Epochen durch die Darstellung und Gestaltung gar subversive Eigenschaften entwickelt.

Bilkau ist eine ruhige, eine überlegte Frau, die von sich sagt „ganz gern allein zu sein“, bei Spaziergängen am Kaiser-Friedrich-Ufer, bei Besorgungen, die sie nach Möglichkeit zu Fuß erledigt, bei Museumsbesuchen, die sie sich als freie Autorin und Journalistin auch tagsüber gönnt. „Ich bin dann oft nach innen gekehrt und beobachte dabei doch sehr genau“, sagt sie.

Als begeisterte Schwimmerin macht sie dies gerne in Schwimmbädern: „Das ist mein Sport und es sind Orte, an denen die Beziehungen der Menschen miteinander und ihrer Umgebung sehr deutlich werden.“ Gerade schreibt sie an einem Essayband zum „Schwimmen“, ähnlich dem, den ihre Kollegin Katharina Hagena über das Singen veröffentlicht hat. Der Buchpreisverleihung blickt sie mit einer freudigen Gelassenheit entgegen. Sie weiß um die Subjektivität der Auswahl, den unterschiedlichen Perspektiven. Man nimmt ihr diese Bescheidenheit unbedingt ab und wünscht ihr den Preis umso mehr.

Buchcover "Nebenan" von Kristine Bilkau
Quelle: Lucherhand
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