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Kultur Currentzis-Nachfolger

Der beste französische Dirigent wechselt nach Stuttgart

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Von Köln nach Baden-Baden: François-Xavier Roth Von Köln nach Baden-Baden: François-Xavier Roth
Von Köln nach Baden-Baden: François-Xavier Roth
Quelle: picture alliance/dpa/CTK/Katerina Sulova
François-Xavier Roth ist das Chamäleon unter den Dirigenten. Der Franzose lässt aufregend neu klingen, was immer er anfasst. Nun wird der Universalist beim SWR-Symphonieorchester Nachfolger des umstrittenen Teodor Currentzis. Zu ihm hat Roth eine ganz spezielle Meinung.

Das trojanische Pferd der Griechen, ein veritabler, schwarzer Statistenmenschgaul, macht sich über Kassandra her, die Prinzessin, die das Unheil voraussieht. Es ist so eine symbolische Vergewaltigung der Warnerin auf der milchig leuchtenden Passerelle, direkt vor dem Publikum.

Zwischen den beiden – wir sind im Kölner Staatenhaus, dem Endlosausweichquartier der seit Jahren renovierungsgeschlossenen Oper, da müssen kreative Bühnenlösungen her – geht François-Xavier Roth seiner Generalmusikdirektorenarbeit nach. Der 51-jährige, schmächtige Mann mit dem fast kahlen Schädel sitzt im schwarzen Hemdchen auf einem Stühlchen und hebt mit parallelen, sehr minimalistischen Armbewegung – einen Bleistift. Das langt.

Autorität braucht keine große Geste. Nur persönliche Magie. Und deswegen entfesseln sich hier, in dieser eindrücklichen Vorstellung von Hector Berlioz‘ fünfstündigem Monumentalepos „Les Troyens“ wie in einem brodelnden Hexenkessel intensiv-mitreißende, verführerische Klänge der besonderen Art.

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Das Gürzenich-Orchester ist nur moderat groß. Die sechs obligaten Harfen stehen außerhalb des tönenden Zauberkreises. Die Ophikleide, das Dunkles raunende und für Berlioz charakteristische Klapphorn, sitzt drinnen. Da macht sich ein Riesenchor auf der amphitheatralischen schwarzkahlen Bühne breit, in deren Mitte das Orchester samt Chef thront.

Ein Dutzend Statisten gibt die vom Gang der Geschichte immer mehr gezausten Götter. Viele, viele Solisten singen in diesem stationenhaft-episodischen, von Troja nach Karthago wechselnden Arienparcours nur je eine Solonummer. Regisseur Johannes Erath hat ihn raffiniert als ungewöhnlich gewitzte, ja zirzensische Mischung aus Offenbachiade und großer Tragödie inszeniert – das kippt dauernd, ist im besten Fall beides gleichzeitig. Aus der Menge der Sänger ragen die großmächtige Casssandre (Isabelle Drout), die anrührende, aber trockene Didon (Veronica Simeoni) und der höhenstarke, etwas einfarbige Enea Scala als sein heroischer Namensvetter Énée hervor.

Einer der universellsten Dirigenten

Aber die auch mit vielen Raummusikeffekten glitzernde Krone für eine unwiderstehliche, in keiner Sekunde langweilige Mischung aus Grandeur und Hintersinn, irrlichtenden Farbenspielen und fokussierter Attacke, vitaler Rhythmik und agogischem Laissez-faire, Tristesse und sinnlich vibrierender Liebesglut, die gebührt einmal mehr François-Xavier Roth. Dem im Alltag so gar nichts hermachenden, längst besten französischen Dirigenten. Einer der universellsten ist er sowieso.

Roth kann einfach alles. Er wühlt in barocken Schätzen, hat vor Bach wie Beethoven keine Angst, beherrscht das lange 19. Jahrhundert auf seinen Hauptrepertoirewegen wie Raritätennebenpfaden, liebt das frühe 20. Jahrhundert, das er aufregend neu klingen lässt, aber ist auch ein Könner der klassischen Moderne und ein furioser Anwalt wie Sachverwalter des ganz Neuen.

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Einen solchen Allesbeherrscher gibt es heute kaum ein zweites Mal. Er vollführt solches mit seinem französischen Spezialensemble Les Siècles, das sein Instrumentarium mit der jeweiligen Zeitepoche bis ins Heute durchwechselt. Der ehemalige Assistent von John Eliot Gardiner und Colin Davis macht aber den rauen, leuchtend kolorierten Les-Sieclès-Sound auch mit den Berliner Philharmonikern hörbar, die eigentlich noch von Simon Rattle mehr auf virtuosen Klassizismus-Strawinsky gebürstet sind.

Roth ist seit 2017 Principal Guest Conductor des London Symphony Orchestra und Associate Artist der Philharmonie de Paris. Und seit 2015 sind zudem das Gürzenich und die Oper Köln ebenfalls Roths Wahlheimat.

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Doch das wird sich jetzt ändern. Der gelernte Flötist, Sohn des berühmten elsässischen Organisten Daniel Roth, wird nämlich nach zehn Jahren spektakulär seinen Arbeitsplatz wechseln: Er zieht 2025 vom Rhein an die Oos, von Nordrhein-Westfalen ins Baden-Württembergische. Er wird Chefdirigent des SWR Symphonieorchesters.

Teodor Currentzis leistete beim SWR Symphonieorchester hervorragende Aufbauleistung
Teodor Currentzis leistete beim SWR Symphonieorchester hervorragende Aufbauleistung
Quelle: Barbara Gindl/APA/dpa/Archivbild

Die Personalie, die einen Tag vor der denkwürdigen Berlioz-Aufführung in Köln bekannt wurde, ist eine halbe Rückkehr und doppelt bemerkenswert: François-Xavier Roth beerbt nämlich nach sechs Jahren den künstlerisch sich bewusst als Chamäleon inszenierenden, fast gleichaltrigen Teodor Currentzis.

Der Grieche mit russischem Pass ist nicht nur seit dem Beginn von Putins Ukraine-Krieg durch seine finanziellen Verpflichtungen gegenüber russischen Sponsoren und Politikern für sein freies Ensemble MusicAeterna in Erklärungsnot geraten. Er hat es zudem auf sich genommen, seit 2018 aus den beiden 2016 zwangsfusionierten SWR Klangkörpern Radio-Sinfonieorchester Stuttgart und Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg ein neues Orchester formen.

Des Lobes voll für Currentzis

Das war eine Win-win-Situation für beide Partizipienten: Currentzis konnte in Stuttgart, Freiburg und Baden-Baden inhaltlich und klanglich bei Null starten, hatte aber das mediale Backup und die Tourneewilligkeit des Senders hinter sich. Und das nicht schmerzfrei frischgeformte Orchester besaß unversehens einen glamourösen, vielgefragten Chef.

Dass diese Rechnung aufgegangen ist, belegt die Roth-Berufung nun doppelt: Denn Roth ist des Lobes voll über die Aufbauarbeit seines Vorgängers, auch über dessen Aktivitäten wie Pre-Talks, Werkstatt-Einblicke, Nachtkonzerte und Late Shows im Radio. Roth war schließlich bereits einmal, von 2011 bis zu Auflösung 2016, Musikdirektor des SWR Symphonieorchesters Baden-Baden und Freiburg. Er wusste sehr genau, wohin er da teilzurückkehrt.

Und Roth sagt auch deutlich: „Meine Berufung auf zunächst fünf Jahre und mit 14 Arbeitswochen hat nichts mit einer Neubewertung der Russlandrolle von Currentzis zu tun. Wir reden bereits seit vor dem Krieg über diesen Wechsel. Warum auch sonst hätte Teodor 2021 seinen damals dreijährigen Vertrag nur um drei Jahre verlängert?“

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Was Sinn macht. Currentzis, der dem Orchester auf dreifachen Wunsch – von ihm selbst, dem SWR und Roth – weiterhin verbunden bleiben soll, hat inzwischen kaum mehr Zeit. In der laufenden Saison ist er wegen diverser, durch die Pandemie verschobener Projekte nur ab Dezember für drei Perioden anwesend, im SWR-Sendegebiet dirigiert er lediglich sieben Konzerte.

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Außerdem hat er – schon länger geplant, jetzt allerdings von der Zeitgeschichte gepuscht – ein neues Orchester namens Utopia an den Start gebracht, das dieser Tage in Luxemburg probt und startet. Diesmal allerdings westlich finanziert, vor allem durch eine Stiftung von Dietrich Mateschitz (Red Bull, Servus-TV). Auch in diesem Zusammenhang gibt Currentzis weiterhin keine Interviews, das erste Tourprogramm – Strawinsky, Debussy, Ravel – mutet wenig spektakulär an.

François-Xavier Roth wird bei Les Siècles, in Köln, Baden-Baden und auch auf seinen vielfach ausgezeichneten CDs bei Harmonia mundi weiterhin mit Fantasie, Mut, Experimentierfreude und der Leidenschaft für Neuentdeckungen glänzen. Und er wird mit dem dafür angestammten Orchester auch wieder in Donaueschingen auftauchen; der einzige Versuch von Currentzis (noch vor seiner SWR-Berufung) blieb eine nie zustande gekommene, vielbelachte Farce.

Millionen sehen ihn im Fernsehen

Mit dem Gürzenich-Orchester hat Roth neben Mahler, Bruckner und Strauss viel Musik von Georg Friedrich Haas, Philippe Manoury oder Martin Matalon aufgeführt. Das Projekt „Fanfares for a new Beginning“, bei dem während der Corona-Pandemie zehn bedeutende Komponisten mit jeweils einem kurzen Bläserstück beauftragt wurden und damit ein tönendes Signal der Zuversicht in einer Phase kulturellen Stillstands setzten, war ebenfalls seine Initiative.

Prägnanz, Variabilität, Geradlinigkeit, Poesie, Authentizität – und das auf höchstem, gern französisch charmantem Niveau. Kinder- und Mitmachkonzerte gehören zu den festen Bestandteilen seiner Arbeit, ebenso die vielfältige wie nachhaltige Unterstützung angehender Musiker. Damit hat François-Xavier Roth in seiner Generation in der Oper wie auf dem Konzertpodium leider kaum Konkurrenz. Selbst im französischen Fernsehen hat er es geschafft, ein Millionenpublikum für klassische Musik zu begeistern

Köln kann sich also noch glücklich schätzen und der SWR sich schon ab 2024 auf erste Konzerte freuen. Und in Köln klingt ein satter, vollmundiger, ganz anderer Berlioz als den, den Roth mit Les Siècles etwa beim Festival an dessen Geburtsort La Côte-Saint-André zusammenmixt, lange, sehr lange nach. Und wenn es die Götter der Sanierung gut meinen, dann darf Francois-Xavier Roth ja auch vielleicht noch einmal im Kölner Opernstammhaus am Offenbachplatz seine Kunst der Klangbetörung entfalten.

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