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Pop Nick Cave in Berlin

Zum Niederknien auch für Atheisten

Chefkorrespondent Feuilleton
Keine Angst vorm Sterben: Nick Cave in Berlin Keine Angst vorm Sterben: Nick Cave in Berlin
Keine Angst vorm Sterben: Nick Cave in Berlin
Quelle: PIC ONE/Ben Kriemann
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Nick Cave und seine Band The Bad Seeds spielen in der Berliner Waldbühne ein berückend schönes Konzert voller Liebe und Obszönitäten. Den Abend umflorte Tragik: Erst im Mai verlor der Sänger seinen zweiten Sohn.

Und was hat Nick Cave so gemacht in der Pandemie? Mundharmonikaspielen gelernt. Das fehlte noch in seinem Sortiment. Entgegen einem anderslautenden Vorurteil ist der Rock’n’Roll nämlich nicht tot. Er hat sich, dem merkantilen Zeitgeist folgend, nur konsolidiert. Das Kleinvieh ist verschwunden, übrig bleiben die großen Konglomerate, die zur Not, wie Abba, auch als Avatare auftreten. Die Stones spielen auch bald hier in der Berliner Waldbühne, beim Abschlusskonzert ihrer Welttournee, der ersten ohne Charlie Watts, für ihre Verhältnisse dann fast einen intimen Clubgig vor 22.000 Zuschauern.

Auch Nick Cave and the Bad Seeds füllen das gloriose Amphitheater neben dem Olympiastadion. Es ist eine Art Heimspiel; der gebürtige Australier Cave lebte hier länger, in der Dresdner Straße am Kotti, noch heute unwiderstehlicher Magnet für Nachtschwärmer dank alkoholischer Institutionen wie dem Würgeengel. Seinen Song „The Mercy Seat“, fünf Minuten pure Energie, komponierte er hier, in einer super inspirierten Zeit namens Jugend.

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Cave begrüßt Berlin ein paar Mal an diesem Abend, wobei er sich Mühe gibt, es so auszusprechen wie ein Einheimischer, was mehr oder weniger klappt. Einmal lässt er sich zu einem für seine Verhältnisse längeren Exkurs hinreißen, in dem er verkündet, Berlin sei am schönsten, wenn es „fucked up“ sei. Die Berliner, die schon länger an der zunehmend ungebrochenen Schönheit ihrer Stadt leiden, zumal sie auch mit immer höheren Mieten einhergeht, grölen und heben zustimmend ihre Plastikbecher Bier für neun Euro (inklusive Pfand).

In dieser Grabeskluft

Was hat die Firma Nick Cave and the Bad Seeds also im Angebot? Punk wie die Sex Pistols, Balladen wie traurige Bänkelsänger, religiöse Ekstase wie Depeche Mode, Eleganz wie Bryan Ferry, Erbauungs- und Quasi-La-Ola-Kitsch wie, tja, eigentlich nur wie Nick Cave. „Get ready to love“, singt dieser seltsame Mensch eingangs. Man kann nicht umhin, ihn einen Schmerzensmann zu nennen, sosehr es auch in den Fingern, die diese Buchstaben tippen, selber schmerzt, weil es meistens ein in der Übertreibung nichtssagendes Wörtchen ist – bei Cave aber hundertprozentig zutrifft. Man könnte sagen, es ist ihm auf den Leib geschneidert, wie seine Uniform aus dunklem Anzug mit Weste überm weißen Hemd mit Karl-Lagerfeld-Gedenkkragen und monströsen Manschetten.

Auf Tuchfühlung: Nick Cave stürmisch in Berlin
Auf Tuchfühlung: Nick Cave stürmisch in Berlin
Quelle: DAVIDS/Christina Kratsch

In dieser Grabeskluft wirft er sich schon um sieben Uhr – die Sonne steht noch hoch und beißend am Himmel – in Erlöserpose. Ist er vielleicht doch ein Vampir, bloß ein gegen das tödliche UV-Licht gut eingecremter? „Boom, boom, boom“, ruft er und pocht auch schon mal in gestischer Wiederholung mit dem Mikro dreimal gegen die eigene Brust. Dort drinnen, will er sagen, schlägt ein glühendes Herz. „Cry, cry, cry“, fügt er üblicherweise hinzu, mehrmals an diesem schönen Sommerabend, egal, welchen Song er gerade singt. Gefolgt von „All night long“. Es ist zwar nicht das richtige Wetter für Albträume, aber dafür ist Nick Cave eben ein Weltstar, dass er es notfalls auch mit der Sonne aufnehmen kann.

Das Open-Air-Spielen liegt ihm andererseits ungemein. Sein höchstens halb säkulares Priestertum, die evangelikal einpeitscherische Seelenmarter, die er mit der Power und Ausdauer eines Derwischs performt, kommt vor kosmischem Hintergrund, der sich vom Bühnendach eben immer weiter zieht bis zum Ende des Universums, erst zur vollen Geltung. „There are some people trying to find out why“, heißt es im Song „Hand of God“, den er gleich zur Darbietung bringen wird, „There’s some people who aren’t trying to find anything/ But that kingdom in the sky.“ Er, will er damit wohl andeuten, gehört zu Letzteren, zu denen, die ihr Heil im Glauben suchen.

Das allein wäre zumal für die religiös Unmusikalischeren unter den 22.000 schwer zu ertragen. Aber Cave kontrastiert die christliche Verzückung gleich mit brutalem Geschrammel und obszönen Explosionen. Der Sound geht so dicht an die Lärmgrenze, dass selbst ein Neil Young Mühe hätte mitzuhalten. So ginge das im Vatikan eher nicht durch.

Das verdankt das Publikum einerseits dem ungestümen Cave, andererseits mindestens gleichberechtigt dem Multi-Instrumentalspiel von dem zauselbärtigen Rumpelstilzchen Warren Ellis, der umstandslos von der Geige zur E-Gitarre zum wackeligen Schoß-Keyboard wechselt. Die Klänge, die er gleich welchem Gerät entlockt, sind auch für Atheisten zum Niederknien. Ein Höhepunkt, für den allein die Pilgerfahrt gelohnt hat: der „Higgs Boson Blues“ von dem Jahrhundertalbum „Push the Sky Away“. Gleiches gilt für den Song „Jubilee Street“, an gleicher Stelle nachzuhören.

Die internationale Presse hat vor wenigen Wochen den Tod von Caves erstgeborenem Sohn verkündet. Ein anderer war vor ein paar Jahren tragisch von einer Klippe in Caves Wahlheimat Brighton gestürzt. An diesem Abend verliert der Sänger keine Worte darüber. Was sollte er auch sagen? Im Grunde hat er schon vor dreißig Jahren begonnen, es mit dem Ende von allem aufzunehmen, es ist das Thema seines Werks. Wie heißt es im großen „The Mercy Seat“: Auge um Auge und Zahn um Zahn, ich habe jedenfalls die Wahrheit gesagt, und ich habe keine Angst zu sterben. Gänsehaut bei 26 Grad.

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