Es ist eine entspannte Atmosphäre bei der Documenta in Kassel. Gruppen von Kunstinteressierten schieben sich durch die Ausstellungsräume. Immer wieder sitzen Menschen im Kreis, massieren sich, halten Fäden oder hämmern irgendwas, getreu dem offiziellen Motto „make friends not art“. Kollektive Praxis ist das Stichwort der diesjährigen Weltkunstschau.
Und man wundert sich, dass dabei oft nicht mehr als Sitzkreisatmosphäre herauskommt – bis auf ein paar Ausnahmen, wie der Videoarbeit von Hito Steyerl. Dazu gehört auch, dass die Kritik an den Brutalitäten des weltweiten Kapitalismus oft mit einem Rückgriff auf Kultur, Tradition und Kollektiv daherkommt, sodass ein paar antisemitische Darstellungen in der als Widerstand etikettierten Mischung aus Praxisfetischismus, Do-it-Yourself-Glorifizierung und Ethnokitsch kaum weiter auffallen.
Auf dem zentralen Friedrichsplatz kündet nicht einmal mehr das Gerüst der antisemitischen Installation „People’s Justice“ (2002) vom indonesischen Künstlerkollektiv Taring Padi, mit der alles begann. Alles bereinigt, alles gut? Die Pappfiguren, die rund um den Platz aufgestellt waren, sind im Hinterhof des Fridericianums gesammelt.
Auch hier geht es entspannt zu. Der indonesische Kaffee schmeckt gut, die Tassen wäscht man selbst ab. Der Skandal scheint weit weg, als hätte er ausschließlich in den Medien stattgefunden. In den sozialen Medien überbieten sich die Kommentatoren immer noch, doch vor Ort stellt sich die Lage deutlich weniger aufgeregt dar. Nur hundert Meter weiter, an der Fassade eines C&A, hängt ein weiteres großformatiges Bild von Taring Padi, auf der anderen Seite der Fulda im Hallenbad Ost finden sich Hunderte weitere ihrer großformatigen, figurenreichen Gemälde und Pappfiguren.
Der viel kritisierte Auftritt im Hübner-Areal vom Kollektiv Subversive Film zeigt heute unkommentiert Filmpropaganda der Palestine Liberation Organization (PLO) aus den 1970er und 1980er-Jahren ohne jegliche Erklärung. Ein paar Jugendliche kichern, schauen aber nicht einmal auf die Leinwand, andere nutzen den kühlen dunklen Raum für ein kurzes Schläfchen. Währenddessen erklärt Arafat im Hintergrund den faschistischen Charakter des imperialistischen Zionismus. Dass Performer eines Kollektivs vor ein paar Tagen lauthals mit Besuchern darüber gestritten haben sollen, ob die Israelis mit den Palästinensern das Gleiche wie damals die Nazis mit den Juden machen, wird zwar erzählt, ähnliche Szenen sind aber nicht zu beobachten.
Ruhig war es in den vergangenen Tagen auch, weil alle Veranstaltungen wegen zahlreicher Corona-Fälle im Documenta-Team abgesagt wurden. Erst am Abend des 29. Juni wurde der Betrieb wieder aufgenommen. Jetzt sollte es zur Sache gehen. Unter dem Titel „Antisemitismus in der Kunst“ hatten Documenta und Bildungsstätte Anne Frank zur Diskussion geladen.
Die Erwartungen waren groß. Nun sollte stattfinden, was seit Wochen und Monaten erfolglos gefordert oder wieder abgesagt wurde: eine Debatte mit allen Beteiligten. Und tatsächlich versammelten sich einige davon auf dem Podium – andere wichtige Figuren des Skandals jedoch nur im Publikum. Und so zeigte der Abend vor allem, wie verfahren die Lage inzwischen ist.
Man wolle zuhören und lernen, sagte ein Vertreter des Kuratorenkollektivs Ruangrupa in einem spontanen Redebeitrag aus dem Publikum, in dem sich auch die Documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann befand. Zuhören und lernen, das war auch der Tenor des Grußworts der hessischen Ministerin für Kunst und Wissenschaft Angela Dorn.
Und darin stimmten auch die Philosophin Nikita Dhawan als Vertreterin der postkolonialen Theorie und Adam Szymczyk als Vertreter der Kunstwelt und Kurator der vorigen Documenta ein. Meron Mendel von der Bildungsstätte Anne Frank und insbesondere Doron Kiesel als Repräsentant des Zentralrats der Juden mussten dann darauf aufmerksam machen, dass der Dialog ja eben gerade nicht gesucht und auch nicht geführt wurde.
Dorn fand deutliche Worte. Bereits im Januar habe sie zusammen mit Claudia Roth eine Kommission vorgeschlagen, erfolglos. Nun müsse ein „Prozess der Klärung“ einsetzen. Die Ministerin forderte eine gemeinsame Anstrengung. Antisemitismus könne man nicht per Dekret entfernen. Und vor allem müsse man den Blick auf die hiesigen Zustände richten, denn der Antisemitismus in Deutschland sei nicht überwunden. Es gibt keinen Grund für Überlegenheit, so Dorn weiter, am deutschen Wesen sei die Welt noch nie genesen. In dem Rundumschlag der Ministerin war viel angerissen, von den Strukturen bis zum Inhaltlichen. Doch im Folgenden blieb es weit unverbindlicher.
Hortensia Völckers von der Kulturstiftung des Bundes hielt sich auffällig zurück. Der Bund habe sich bereits 2018 – nach der von Szymczyk mit einem Finanzdesaster beendeten Documenta – aus dem Aufsichtsrat zurückgezogen, eine angekündigte Reform sei bis heute ausgeblieben. Eine weitere Baustelle, die aber nicht weiter vertieft wurde.
Man könne auch nicht alle geförderten Kunstprojekte überprüfen, so Völckers weiter, der Kampf gegen Antisemitismus sei nicht allein eine bürokratische Herausforderung. Das stimmt zwar, als Kommentar zum umfassenden Versagen der vergangenen Wochen war es jedoch wenig hilfreich. Der Wille zur öffentlichen Aufarbeitung, er wurde zwar proklamiert, praktiziert wurde er nicht.
Antisemitismus in der Kunst, ist da was? Dhawan und Szymczyk bemühten abstrakte Begriffe wie Intersektionalität und Multidirektionalität, hielten sich sonst aber eher bedeckt. Als Kiesel die These wagte, dass in der postkolonialen Theorie auffällig sei, dass sie trotz nicht zu leugnender Erkenntnisse immer wieder Israel als imperiales Kolonialprojekt verdammt, warnten die Angesprochenen vor Pauschalisierung und Dämonisierung des Postkolonialismus – eine Antwort aber gaben sie nicht. Es war ein ständiges Ausweichen. Merklich angegriffen blieben sie bei den eingeübten Abwehrreflexen. Kiesel zeigte sich entmutigt, als er feststellte, ein Dialog sei anscheinend unmöglich.
Auch die Anmerkung von Mendel, dass der Kunstbetrieb nicht nur mit „Boycott, Divestment and Sanctions“ (BDS) sympathisiere, sondern vielfach bereits ein „stiller Boykott“ praktiziert werde, um möglicher Kritik zu entgehen, versandete. Seiner Frage, wie man gemeinsam dieser Entwicklung entgegentreten könnte, stellte sich an diesem Abend keiner. Der Frankfurter zeigte auf den Weg, aber es folgte ihm niemand.
Das Bündnis gegen Antisemitismus Kassel, das auf Flugblättern BDS als antisemitisch kritisierte und Verbindungen zur Documenta aufzeigte, demonstrierte derweil mit einem Transparent und Israelfahnen vor dem Veranstaltungsort. Noch ein Beispiel für die Parallelwelten der Debatte. Der viel beschworene Anfang der großen Aussprache fiel enttäuschend aus. Das mag daran liegen, dass das Bedürfnis nach Schadensbegrenzung und Ausgewogenheit deutlich zu merken war.
Offen blieb dann aber die Frage, die Kiesel aufgeworfen hatte: Was bedeutet es für das Selbstverständnis einer Gesellschaft, wenn Antisemitismus sich in einer Form äußert, die in sich selbst als aufgeklärt empfindenden Kreisen offensichtlich als ehrbar gilt, sobald nur der „kulturelle Kontext“ stimmt?