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Literatur Comic-Künstler Luz

„Ich konnte nach dem Attentat jahrelang keine Musik mehr hören“

Rénald Luzier alias Luz Rénald Luzier alias Luz
Rénald Luzier alias Luz
Quelle: picture alliance/abaca
Aus „Vernon Subutex“, dem Erfolgsroman von Virginie Despentes, hat der Künstler Luz jetzt eine Graphic Novel gemacht. Mit dem Helden konnte sich Luz, als „Charlie Hebdo“-Zeichner selbst unter Polizeischutz lebend, besonders identifizieren.

Luz, bürgerlich Rénald Luzier, hat viele Jahre für die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ gearbeitet, aber das Attentat gegen die Redaktion am 7. Januar 2015 glücklicherweise verschlafen. Nach „Katharsis“ und „Wir waren Charlie“ hat er jetzt „Das Leben des Vernon Subutex“, den dreiteiligen Erfolgsroman der französischen Bestsellerautorin und WELT-Literaturpreisträgerin Virginie Despentes, in eine Graphic Novel verwandelt (Reprodukt, 304 S., 39 Euro).

WELT: Luz, fühlen Sie sich mit Vernon Subutex seelenverwandt?

Luz: Ich ähnele ihm auf jeden Fall. Vernon ist ein Umherirrender, das ist die Conditio des Menschen. Wir haben noch etwas gemeinsam: die Entmaterialisierung. Vernon verschwindet einfach. Das ist sehr hart, wenn es nicht, wie bei ihm und bei mir, Ergebnis einer freien Entscheidung war. Allerdings habe ich ein Dach über dem Kopf, das unterscheidet uns. Ich beneide ihn dafür, dass er selbst am Tiefpunkt noch ein Beben und Schwingen fühlt und ihm die Musik bleibt. Die war bei mir verschwunden. Indem ich mich an seiner Figur abgearbeitet habe, ist sie langsam wiedergekommen. Ich höre wieder Musik. Ich konnte nach dem Attentat jahrelang keine Musik mehr hören.

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WELT: Was unterscheidet die Arbeit an einer Graphic Novel von der an einem Cartoon für „Charlie“?

Luz: Nichts. Ich bin dieselbe Person, die zeichnet. Für mich gibt es keine Grenzen, keine Kategorien. Vielleicht auch deshalb, weil ich das bei „Charlie“ so gelernt habe. Ich habe dort alles gemacht, Pressezeichnungen, Reportagen, Illustrationen, Comics, Bücher. Letztlich war diese Graphic Novel die Gelegenheit, wachzurufen, was ich 25 Jahre lang bei „Charlie“ und anderswo gemacht habe, vor allem natürlich meine Konzertskizzen. „Vernon Subutex“ ist übrigens ein sehr politisches Buch.

Es wirft die Frage auf, was eigentlich übrigbleibt, wenn einem Menschen nichts mehr bleibt, wenn die Gesellschaft ihn einfach ausspuckt. Vernon ist ein angesehener Typ der Pariser Subkultur und landet auf der Straße. Das Buch thematisiert die Prekarität, es erzählt von dem, was vorher war. Durch „Vernon Subutex“ konnte ich Zeugnis ablegen von einem Frankreich, das wir irrsinnig lange gar nicht anders kannten. Dazu gehören auch die Konzerte, zu denen ich nicht mehr gehen kann.

WELT: Weil Sie unter Polizeischutz leben. Fehlt Ihnen Paris?

Luz: Und wie. Ich habe die Arbeit an „Vernon Subutex“ als Wiedergeburt erlebt. Ich war dadurch wieder in Paris, mitten im Leben. Mit Paris ist es wie mit der Musik. In Wahrheit könnte ich auf dem Mond leben – sobald ich nach Paris komme, fühle ich mich wieder zu Hause.

WELT: Despentes’ Roman „Vernon Subutex“ kam am Tag des Attentats raus. Hat das Ihr Verhältnis zu dem Buch geprägt?

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Luz: Auf jeden Fall. Am selben Tag, dem 7. Januar 2015, ist auch Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ erschienen. Ich erinnere mich so gut daran, weil ich die Titelseite von „Charlie“ dazu gezeichnet hatte und auch eine ganze Seite im Inneren. Aber das Attentat war eine Zäsur, und ich konnte „Vernon Subutex“ lange nicht lesen.

Ein Panel aus der Graphic Novel „Vernon Subutex“
Ein Panel aus der Graphic Novel „Vernon Subutex“
Quelle: Luz, nach Virginie Despentes

Als ich dann endlich den ersten Band beendet hatte und den langen Monolog von Vernon las, habe ich mich gefragt, wann Virginie das eigentlich geschrieben hatte: „Ich bin ein einsamer Mann, ich bin 55 Jahre alt, meine Kehle ist seit meinem Krebs durchlöchert, und ich rauche Zigarre, während ich am Steuer meines Taxis sitze, bei offenem Fenster, und mir völlig egal ist, welche Grimassen meine Kunden ziehen … Ich bin ein Penner auf einer Bank hoch oben auf einem Hügel, in Paris.“

WELT: Das war vor dem Attentat.

Luz: Richtig. Aber dieser Monolog gab mir das Gefühl von „Je suis Charlie“, von Zugehörigkeit. Plötzlich wusste ich, dass „Vernon Subutex“ das Buch ist, an das ich glauben will. Ich glaube an Geistesverwandtschaft. Die einen finden sie in der Politik, die anderen in der Religion, in der Musik, der Literatur, der Kunst. Ich versuche, durch meine Arbeit Gemeinsamkeiten aufzuzeigen und zu schaffen. Das ist in den Zeiten, in denen wir leben, gar nicht so einfach. Aber das ist der Kern des Menschseins. Ein sehr schöner Kern.

WELT: Anders als bei Houellebecq, in dessen Spiegel der Mensch nicht sonderlich gut aussieht oder sich noch Hoffnung macht.

Luz: Wir Franzosen haben aus „Unterwerfung“ eine Art Orakel und aus Houellebecq eine Pythia für die Wochen, Monate und Jahre gemacht, die folgten. Ich aber hatte das Gefühl, dass diese Pythia eher Virginie Despentes ist.

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Luz: Sie sieht die Möglichkeit des Kollektivs, während Houellebecq nur die Vereinsamung und Unterwerfung des Einzelnen sieht. Virginie hofft, dass uns am Ende vor allem die Gruppe antreibt und dass wir es vielleicht gemeinsam schaffen, und dass es vielleicht gar nicht so schlecht ist, als gemeinsames Ziel eine Utopie zu haben. Vielleicht täusche ich mich, aber ich habe Lust, daran zu glauben.

Vielleicht liegt die Utopie im Inneren eines Mannes wie Vernon, der obdachlos geworden ist. Wir haben während der Lockdowns gelernt, dass wir nicht dafür bestimmt sind, eingesperrt zu leben, und dass wir eben mit Menschen zurechtkommen müssen, die wir nicht unbedingt leiden können. Wir müssen uns wieder dran gewöhnen, durch eine Welt zu spazieren, in der wir auf Menschen treffen, die uns nicht unbedingt ähneln.

Luz: „Vernon Subutex“. Nach dem gleichnamigen Roman von Virginie Despentes. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz und Lilian Pitha. Reprodukt Verlag, 304 Seiten, 39 Euro

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