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Kultur Kriegstagebuch aus der Ukraine

Die Kirschen sind an die Russen gefallen, die Erdbeeren nicht

Ein Ehepaar unweit der Front im Osten Ein Ehepaar unweit der Front im Osten
Ein Ehepaar unweit der Front im Osten
Quelle: Philippe De Poulpiquet/picture alliance/dpa/MAXPPP
Seit dem ersten Kriegsmorgen hält uns der preisgekrönte Übersetzer Juri Durkot aus Lemberg über die Lage in der Ukraine auf dem Laufenden. Er berichtet vom Kriegsgeschehen, aber auch vom Alltag jenseits der Front. Lesen Sie hier seine Einträge aus dem vierten Kriegsmonat.

Juri Durkot setzt sein Tagebuch fort. Lesen Sie hier seine neuesten Einträge.

Lemberg, den 24. Juni, nachmittags

Für 65 Euro kann man im Internet eine Medaille kaufen. Auf deren Vorderseite ist Adolf Hitler abgebildet, die Rückseite schmücken ein Reichsadler und die Losung „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“. Unter den Krallen des Wappenvogels, dort wo sich früher, umringt von einem Kranz, das Hakenkreuz befand, sieht man einen schwarzen Fleck. Einem Hinweis unter dem Bild kann man entnehmen, dass aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen Hakenkreuze auf den Fotos nicht sichtbar seien. Gleichzeitig wird versichert, dass sie auf den angebotenen Artikeln selbstverständlich unbeschädigt vorhanden sind. Es wird weiter darauf hingewiesen, dass Gegenstände aus der nationalsozialistischen Zeit nur zu historisch-wissenschaftlichen Zwecken erworben werden können.

„Als im März 1938 die Kampagnen für den ‚Anschluss Österreichs‘ an das Deutsche Reich auf Hochtouren liefen, wehte über den Plätzen und Märkten immer wieder ein Spruchband: ‚Ein Volk, ein Reich, ein Führer‘“, schreibt der deutsche Historiker Dietmar Süß in seinem gleichnamigen Buch mit dem Untertitel „Die deutsche Gesellschaft im Dritten Reich“. Aus verständlichen Gründen ist heutzutage die Verwendung dieser NSDAP-Losung in Deutschland strafbar.

In Russland offenbar nicht. Der in Donezk geborene ukrainische Journalist und Blogger Denys Kasanskyj, der seine Heimatstadt 2014 nach dem Putsch der russischen Marionetten verlassen musste, hat heute ein Foto getwittert. Es zeigt eine Aktion der Schullehrerinnen und Schullehrer in Klin, einer etwa 100 Kilometer nordwestlich von Moskau liegenden russischen Stadt. Nach einer kurzen Recherche erfährt man, dass der etwa 80.000 Einwohner zählende Ort seit 2016 den stolzen Titel „Stadt der militärischen Tapferkeit“ trägt und dass der Komponist Pjotr Tschaikowski hier seine zwei letzten Lebensjahre verbracht hat. Das Herrenhaus „Demjanowo“ am Stadtrand, in dem Anfang des 19. Jahrhunderts viele Dichter, Komponisten und Maler ein- und ausgingen, steht heute als Ruine da.

Für die patriotische Aufnahme posieren die Lehrkräfte mit einem Plakat in den russischen Nationalfarben weiß, blau und rot im Hintergrund. Dort steht es in einem Dreizeiler in handgeschriebenen Großbuchstaben: „Ein Volk, eine Nation, ein Herrscher“. Wenn man den kleinen stilistischen Unterschied zwischen „Führer“ und „Herrscher“ außer Acht lässt, ist es eine wörtliche Übernahme der Nazi-Parole. Das letzte Wort wird auf der Losung übrigens als „праVитель“ mit einem V geschrieben, einem Buchstaben, der neben Z zum Symbol der Unterstützung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine geworden ist.

Alleinherrscher mit Hang zum Personenkult: Wladimir Putin
Alleinherrscher mit Hang zum Personenkult: Wladimir Putin
Quelle: Evgeny Biyatov/Sputnik Kremlin/AP/dpa

Vielleicht wird es bald in Russland eine Medaille oder eine Münze geben – mit dem Herrscherbild auf der Vorder- und einer entsprechenden Losung auf der Rückseite. Selbstverständlich auch mit einem V und einem Z drauf. Auf jeden Fall fehlt es nicht mehr viel dazu.

Lemberg, den 22. Juni, nachmittags

Ich liebe Wetter-Apps. Sie wissen immer alles über das Wetter. Man bekommt nach einem kurzen Blick auf den Bildschirm sofort alle nützlichen Ingredienzien der Wetterküche präsentiert – Lufttemperatur, Windverhältnisse, Luftfeuchtigkeit, UV-Index, Luftdruck, Taupunkt, Sichtweite und vieles mehr. Die Apps sagen sogar, ob es jetzt regnet und ob es regnen wird. Die erste Information kann ich gleich visuell oder sogar haptisch überprüfen, bei der Vorhersage hat man die Wahl – glauben oder nicht. Manchmal irren sich die Apps, vor allem deswegen, weil sie den Regenschirm-Faktor nicht berücksichtigen können. Es ist ja allgemein bekannt, dass sich die Regenwahrscheinlichkeit umgekehrt proportional zur Mitnahme eines Regenschirms verhält.

Meine Wetter-App sagt mir in der letzten Zeit immer, dass die Luftqualität in Lemberg gut ist und dass ich meine Aktivitäten im Freien genießen kann. Keine gefährlichen Konzentrationen von Feinstaub oder Kohlenmonoxid. Also gibt die App ihre Standard-Meldung heraus. Das sagt sie übrigens auch, wenn es draußen bei unbedenklichen Schadstoffwerten wie aus allen Eimern gießt. Auch da empfiehlt mir die App Aktivitäten im Freien. Bewegung ist wichtig. Im Krieg haben viele Menschen zugenommen. Ständiger Stress, falsche Ernährung, kaum noch Sport. Interessant, ob die Sport-Apps bald auch einen Kriegsmodus anbieten werden.

Für einen Allergiker ist das Wissen über den Pollenflug wichtig. Auch dazu liefert die App die notwendigen Informationen. Ich erfahre zum Beispiel, dass im Juni die Gräser dran sind. Also sollten die Allergiker doch lieber keine Aktivitäten im Freien genießen. Dazu gibt es aber keine Empfehlung.Den Hauptgrund für die gute Luftqualität nennt die App auch nicht. Es ist die Spritknappheit. An den meisten Tankstellen gibt es keinen Sprit, und dort, wo es Benzin oder Diesel gibt, bilden sich kilometerlange Schlangen. Die Folgen – viel weniger Autos, deutlich sauberere Luft und viele Fahrräder und E-Scooter auf den Straßen. Vor allem der Zustellservice funktioniert einwandfrei – Pizza und Co. kommen in nur wenigen Minuten geliefert. Es ist beinahe eine umweltfreundliche Idylle.

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Beim Thema Sprit lernt man wieder zwischen den Zeilen zu lesen. An manchen Tankstellen sind die Anzeigetafeln mit Spritpreisen tot, an den anderen leuchten lauter Nullen darauf. Ein ahnungsloser Ausländer würde vielleicht meinen, dass es keinen Unterschied gäbe. Weit verfehlt. Die Nullen bedeuten, dass man hier Benzin oder Diesel nur mit Spritmarken kaufen kann. So werden Stadtbusse, Rettungswagen und Autos der kritischen Infrastruktur betankt.

Nur der Himmel ist ungetrübt: Trauerfeier für den gefallenen Aktivisten und Soldaten Roman Ratushny auf dem Maidan-Platz in Kiew.
Nur der Himmel ist ungetrübt: Trauerfeier für den gefallenen Aktivisten und Soldaten Roman Ratushny auf dem Maidan-Platz in Kiew.
Quelle: Natacha Pisarenko/AP/dpa

Nachdem Russland die einzige ukrainische Raffinerie und etliche Ölreservoirs zerbombt hat, kommt die Umstellung auf Lieferungen aus der Europäischen Union nur schleppend voran. Vor dem Krieg wurden lediglich kleine Mengen an Benzin und Diesel aus der EU importiert, der Großteil kam aus Belarus, Russland und der Eigenproduktion. Die Regierung verspricht, das Problem bis Ende des Sommers zu lösen. Sie muss ja etwas versprechen. Eine Prognose hier ist allerdings ebenso unzuverlässig wie eine Wettervoraussage für zwei Monate im Voraus. Deswegen gibt es sie bei den meisten Wetter-Apps gar nicht.

Lemberg, den 20. Juni, nachmittags

Nur noch eine Woche, und die erste Erdbeersaison ist vorbei. Eigentlich dauert sie von Mitte Mai bis Mitte Juni. Zunächst kommen die Erdbeeren noch aus Transkarpatien, dann reifen auch schon die einheimischen heran. In diesem Jahr gibt es die großen, saftigen, roten Gartenfrüchte länger als sonst. Als hätten sie gewusst, dass sie die Kirschen aus dem ukrainischen Süden würden ersetzen müssen. Denn anders als die Kirschen wurden die Erdbeeren nicht von den russischen Truppen besetzt. Ihre bessere Kriegsresistenz ist geografisch bedingt – sie brauchen nicht so viel Wärme wie Kirschbäume und gedeihen auch in nördlicheren Breiten. Also praktisch überall, wo es passende Böden und etwas Sonne gibt. Das wusste man schon immer, lange bevor die Erdbeeren zur Gorbatschow-Zeit massenhaft auf den Datschas gezüchtet wurden. Damals dufteten die Busse im Mai immer nach Erdbeeren. Und die engen warmen Küchen nach köchelnder Erdbeermarmelade.

Seit einigen Jahren gibt es auch eine zweite Ernte, im August oder so. Doch eigentlich kann man Erdbeeren das ganze Jahr über kaufen. Im Dezember kommen sie doch aus dem Süden, wenn auch nicht aus dem ukrainischen. Sie werden aus Spanien oder aus Afrika importiert, genau weiß ich es nicht. Sie sind teuer und wässrig, schmecken nicht richtig, also kauft sie kaum jemand. Es sei denn, man braucht ein paar Früchte, um den Tisch an Silvester zu schmücken. In Folie verpackt, duften sie nicht und wirken wie etwas Exotisches und Fremdes. Sie haben nichts mit dem Heimatgefühl zu tun, das Erdbeeren wohl so wie keine andere Frucht verkörpern. Denn Erdbeeren dürfen nicht fremd sein. Sie kommen aus dem Garten. Oder aus dem Wald in der Nähe.

Im Donbass
Im Donbass
Quelle: Philippe De Poulpiquet/picture alliance/dpa/MAXPPP

Vielleicht heißt Joseph Roths ungeschriebener Roman über seine galizische Heimat eben aus diesem Grund „Erdbeeren“, auch wenn es sich dort wie in vielen seiner Schriften um etwas anderes handelt – um Nostalgie und Trauer. Als einzige Wesen versprühen Erdbeeren Freude und Stolz in einer sonst tristen Gegend voller Armut und Elend. „Sie zitterten auf dünnen, aber starken Stängeln. Sie waren voll und wuchsen nicht aus Demut so tief am Boden, sondern aus Stolz. Man musste sich bücken, um sie zu erreichen“, heißt es in einem als Erzählung veröffentlichten Fragment.

Als wir Kinder früher auf Ausflügen die roten saftigen Beeren am Waldrand pflückten, klebten an ihnen kleine Erdklümpchen, so wie vor Jahrzehnten und Jahrhunderten. Regen hatte die Erde auf die kleinen Früchte gespritzt, man wischte sie nur kurz ab und steckte sich die Beere in den Mund. Wir wussten nicht, dass schon Joseph Roth darüber geschrieben hatte. Damals lasen wir ihn nicht. Heute gehen wir nicht mehr so oft in den Wald.

Anders als das Deutsche unterscheiden die slawischen Sprachen streng zwischen zwei verschiedenen Arten von Erdbeeren. Für Walderdbeere und Gartenerdbeere verwendet man zwei verschiedene Wörter. Man geht dabei recht praktisch, aber unwissenschaftlich vor, da es sich aus botanischer Sicht um eng verwandte Arten handelt. Mittlerweile werden die kleinen Walderdbeeren auch gezüchtet, also vermischt sich hier die wilde Natur mit der kultivierten. Sprachlich aber bleibt alles sauber getrennt. Die Vorteile liegen auf der Hand: Wenn jemand „Erdbeere“ sagt, muss man nicht raten, ob es sich um eine Wald- oder Gartenfrucht handelt. In der ukrainischen Übersetzung von Joseph Roths Erzählung hätte man bereits am Titel erkannt, dass es sich dort um Walderdbeeren handelt. Man hätte sich nur gewundert, dass damals das Pflücken der Früchte im Wald verboten war.

Lemberg, den 17. Juni, nachmittags

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Ausgedehnte Bahnreisen in Osteuropa sind immer eine Leidenschaft der Intellektuellen gewesen. Sie schwärmten für die geheimnisvolle Seele der alten Waggons, die auf unebenen Gleisen ratterten, verherrlichten die unendlichen Weiten der Landschaften, die an ihrem Fenster vorbeizogen, und ließen sich durch nächtliche Gespräche mit Mitreisenden inspirieren. Manch ein russischer Rockmusiker widmete dem Dialog zweier Passagiere sogar einen Song und Wenedikt Jerofejew verewigte in seinem postmodernistischen Werk „Die Reise nach Petuschki“, vollgespickt mit Bibelmotiven, Karnevalsburlesken und zahlreichen Anspielungen auf klassische Literatur, das Alkoholdelirium eines Zugreisenden durch die Einöde der russischen Provinz.

Auch aus der modernen ukrainischen Literatur sind Zugreisen nicht wegzudenken. Da dies aber ein besonderes Kapitel ist, muss ich darüber irgendwann in der Zukunft etwas schreiben. Heute wollte ich mich eher mit Politik beschäftigen.

Denn die europäischen Politiker scheinen derzeit bei Zugreisen den Intellektuellen den Rang abzulaufen. Da im Moment Flüge in die Ukraine aus Sicherheitsgründen nicht infrage kommen, sind alle auf die Bahn umgestiegen. Das ist sogar umweltfreundlicher, nimmt aber wesentlich mehr Zeit in Anspruch. So könnte man schon die Tatsache, dass Emmanuel Macron, Olaf Scholz und Mario Draghi als Vertreter der drei großen EU-Staaten allein bei der Hinfahrt nach Kiew zehn oder elf Stunden in einem Luxusabteil eines Sonderzuges verbracht haben, als klares Zeichen für europäische Solidarität gedeutet werden. Doch sie hatten tatsächlich etwas mehr im Gepäck, nämlich die Nachricht, dass die Ukraine ein Beitrittskandidat für die Europäische Union werden soll.

Es ist sehr wichtig, dass Macron, Scholz und Draghi nach Kiew gefahren sind. Es ist gut, dass sich der rumänische Präsident Klaus Johannis in der ukrainischen Hauptstadt der Gruppe angeschlossen hat. Dass sie sich alle klar für den EU-Kandidatenstatus der Ukraine ausgesprochen haben. Ein deutlicheres symbolisches Zeichen dafür, dass Europa hinter der Ukraine steht und dass das Land zu Europa gehört, konnten sich die Ukrainerinnen und Ukrainer kaum wünschen. Sie werden diese Solidaritätsgeste zu schätzen wissen.

Hoffentlich werden die europäischen Spitzenpolitiker aber auch den Besuch im zerstörten Irpin nicht so schnell vergessen. Wenn man das Bild des Grauens mit eigenen Augen gesehen hat, verändert es die Wahrnehmung. Immer wieder führt die Ukraine den ausländischen Gästen die Verbrechen der russischen Armee vor Augen, die sie im Horrorviereck Hostomel-Butscha-Irpin-Borodjanka verübt hat. Hier in der Nähe von Kiew sind mindestens 1.500 Zivilisten getötet worden, manche Leichen hat man bis jetzt nicht identifiziert.

Diese Verbrechen hören aber nicht auf. Heute zerstören russische Truppen ukrainische Städte im Donbass. Russische Raketen schlagen täglich im gesamten Land ein. Jeden Tag sterben ukrainische Soldaten und Zivilisten. Die Ukraine hat immer noch nicht genug Waffen, um sich gegen die barbarischen Angriffe zu wehren. Doch bei den Waffenlieferungen tun sich einige europäische Staaten, allen voran Deutschland, immer noch schwer. Der ukrainische Präsident als höflicher Gastgeber hat diesmal zwar keine öffentliche Kritik an der Haltung der Bundesregierung geübt. Für Ukrainerinnen und Ukrainer liefert jedoch die deutsche Position längst Stoff für allerlei Witze.

Wo bleibt der Tee? Draghi, Macron und Scholz im Zug nach Kiew
Wo bleibt der Tee? Draghi, Macron und Scholz im Zug nach Kiew
Quelle: Ludovic Marin/AFP POOL/AP/dpa

Genauso wie Weißwurst zu Bayern oder Fish and Chips zu den britischen Inseln gehört das Teetrinken fest zum Klischee einer Zugfahrt in Osteuropa. In der Anspielung auf diese Teekultur auf Rädern stichelte man in den sozialen Netzwerken gegen die Zögerlichkeit mancher europäischen Länder bei Waffenlieferungen. Anhand des bekannten Fotos aus dem Sonderzug ist nun folgende Comic-Geschichte entstanden: Der italienische Premier fragt die Mitreisenden, ob sie denn vielleicht einen Tee möchten. Der französische Präsident will bei der Zugbegleiterin gleich dreimal Tee bestellen. Eine charmante Ukrainerin in der blau-gelben Uniform nimmt die Bestellung auf und warnt: „Der Tee kommt Ende August, Zucker im Oktober oder im Dezember. Und Teelöffel gibt es übrigens gar keine. Das Geklimper könnte Putin verärgern.“

Lemberg, den 15. Juni, nachmittags

Manchmal spielt die Post ihren Kunden einen Streich. Mal landet ein Brief beim falschen Empfänger, mal findet der Postbote den Adressaten nicht, mal wandert eine Epistel quer durch mehrere Herrenländer und Kontinente, bevor sie erst einige Monate später ihr Ziel erreicht, und manche Weihnachtskarte trudelt bei der Oma in Australien im Juni ein. Kann schon passieren. Schließlich schickt eine Fluggesellschaft einen Koffer auch manchmal nach Manchester statt nach Hamburg. Jede Post der Welt könnte in einem faszinierenden Pannenbuch ihre eigenen lustigen und traurigen Geschichten erzählen. Jede Post hat ihre Geheimnisse. Ich meine nicht nur das Briefgeheimnis.

Ich konnte nie verstehen, warum früher, also in Friedenszeiten und vor der Corona-Pandemie, die Post in die Ukraine zuverlässiger und schneller funktionierte, als umgekehrt. Einen Brief aus der Ukraine ins Ausland zu verschicken, war immer ein Glücksspiel gewesen. Mal brauchte ein Brief nach Polen fünf Tage, ein anderes Mal sechzig. Da hätte sogar eine Waffenlieferung aus Deutschland noch eine kleine Chance gehabt schneller zu sein.

Wegen solcher Unwägbarkeiten versuchten alle immer, wichtige bürokratischen Dokumente – wie beispielsweise Bordkarten für einen Flug oder Bahntickets, die als Beleg zur Erstattung von Reisekosten dienten – aus dem europäischen Ausland zu verschicken. Andernfalls liefe man Gefahr, dass der Empfänger dieses unerlässliche Stück Papier nie zu Gesicht bekam.

Als ich einmal vor Jahren einen Brief mit zwei Bordkarten aus Deutschland zur Erstattung nach Brüssel schickte, kam er dort nie an. Der Empfänger war eine Stelle im Europäischen Parlament, der Umschlag war garantiert richtig adressiert, ich war penibel allen Anweisungen gefolgt. Ungefähr nach einem Jahr kam der Brief zusammen mit den Bordkarten an mich zurück – mit dem Vermerk, dass er unzustellbar gewesen sei. Laut einem Stempel gab es keinen solchen Empfänger. Für die Deutsche Post war das Europäische Parlament ein Phantom. Wie es heute für manche Regierungen ein Phantom ist, welche die Meinung von Europaabgeordneten am liebsten ignorieren.

Anfang Juni fanden wir in unserem Briefkasten eine Weihnachtskarte. Es war eine Botschaft aus einem anderen Leben. Im Krieg funktioniert die klassische Post nicht wirklich. Das wissen ja alle, und es war schon immer so gewesen. Wo die Karte mehrere Wochen vor dem Krieg herumirrte, werden wir nie erfahren.

Zwei Kinder in Kiew vor einem zerstörten Gebäude
Zwei Kinder in Kiew vor einem zerstörten Gebäude
Quelle: picture alliance/dpa/kyodo

Eine alte Bekannte wünschte meiner Frau und mir frohe Weihnachten und ein friedliches neues Jahr; sie brachte auch ihre Hoffnung zum Ausdruck, dass trotz der bedrohlichen Lage das Schlimmste nicht eintreten werde. Es ist in der Geschichte der Menschheit schon vorgekommen, dass – während ein Brief oder eine Karte monatelang unterwegs war – entweder der Absender oder der Empfänger in der Zwischenzeit gestorben war. Diesmal war es nur die Hoffnung.

Lemberg, den 13. Juni, abends

Nach einem heftigen Regen verwandelt sich die Lemberger Innenstadt in einen Fluss. Die Wissenschaftler und städtische Behörden behaupten, dass es sich dabei um ein ganz normales physikalisch bedingtes Phänomen handelt, da ja das Wasser nicht sofort in die Kanalisation abfließen kann. Vielleicht passiert es aber einfach aus der Nostalgie nach den alten Zeiten, als es hier einen echten Fluss gegeben hat. Seit über 150 Jahren fließt er nur noch unterirdisch und weigert sich seitdem hartnäckig, alle Wassermassen aufzunehmen, die vom Himmel auf die Erde herunterkommen.

Wie dem auch sei, beobachtet man beim Sturzregen immer wieder das gleiche Bild: Ein paar mutige Fußgänger stapfen resigniert durch die Gewässer, die meisten Menschen drängen sich unter Balkone und Gesimse der alten Häuser. Es ist höchste Zeit, ein Taxi zu rufen. Es ist gut, dass es jetzt Taxi-Apps gibt.

Früher war es schlicht unmöglich, beim Unwetter ein Taxi zu finden. Jetzt ist es überhaupt kein Problem. Die App verlangt nur einen Regenzuschlag. Es passt schon, einst haben ja die Kutscher im Regen auch mehr Geld verlangt. Der Preis ist mindestens doppelt so hoch wie beim Sonnenschein, die unsichtbare Hand des Wettergottes richtet es. Sie sorgt auch dafür, dass das Taxi in wenigen Minuten da ist und mitten in einem kleinen See anhält. Ich verstehe nicht sofort, dass es mein Taxi ist. Der graue Toyota hat ein Charkiwer Kennzeichen.

Als ich vor paar Jahren in Charkiw mit einem Taxi gefahren bin, war es ein echtes Abenteuer. Es war wie in der New-York-Episode aus „Night on Earth“ von Jim Jarmusch. Der Fahrer sah zwar nicht wie Armin Mueller-Stahl aus, aber die Stadt kannte er nicht, sein Auto bewegte sich nur ruckartig, sein Navi streikte, sodass er schließlich anhielt und die Zentrale anrief, um nach dem Weg zu fragen. Danach konnte er den Motor lange nicht anlassen. Wie durch ein Wunder kamen wir irgendwann doch ans Ziel. Während dieser abenteuerlichen Fahrt wechselten wir ins Russische, weil der Mann nicht wirklich Ukrainisch konnte. Er kam aus dem Donbass, war vor dem Krieg geflüchtet und versuchte nun in Charkiw seinen Lebensunterhalt durch Taxifahren zu verdienen. In der Zeit von Google Maps musste er nicht mehr die Stadt kennen, um bei einem Taxiunternehmen anzuheuern. Für die Geheimnisse des Straßenwirrwarrs war kein Stadtplan zuständig, sondern ein Handy mit der Navi-App. Es hat den Autofahrern das Leben enorm erleichtert und ihren Orientierungssinn arbeitslos gemacht. Inzwischen fühlen sich heute viele Menschen in einer fremden Stadt ohne eine Navi-App absolut verloren. Und einige sogar in ihrer eigenen.

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In Lemberg war es nur eine kurze Regenfahrt ohne Überraschungen. Der junge Fahrer aus Charkiw war Mitte zwanzig, sein Navi funktionierte perfekt, und sein Toyota Prius hatte einen Hybridantrieb, was in der Zeit der Spritknappheit ein wichtiger Vorteil war. Wir hatten nicht viel Zeit, um ins Gespräch zu kommen. Er sei Ende März aus Charkiw geflüchtet und habe anschließend seine Mutter aus Cherson herausgeholt. Es sei nicht mehr ganz einfach gewesen, das russische Militär wollte die beiden aus der besetzten Stadt nicht mehr hinauslassen. Es dauerte zwei Wochen, bis sie irgendwie wegkamen. Ich erfuhr noch, dass sein Vater und sein Onkel an der Front seien und dass die Preise in Cherson während russischer Besatzung explodierten. Da musste ich schon aussteigen. Sein Handy meldete eine neue Bestellung. Er bestätigte sie und fuhr los. Erst dann fiel mir ein, dass ich ihn nicht einmal nach seinem Namen gefragt hatte. Meine Taxi-App wusste es: Er hieß Wladyslaw.

Lemberg, den 10. Juni, abends


Manche politischen Beobachter und Experten haben jahrelang das taktische Geschick des russischen Präsidenten gepriesen. In jedem seinen Unterfangen schien Wladimir Putin vom Erfolg verwöhnt zu sein – sowohl innen- als auch außenpolitisch. Die Ausschaltung politischer Opposition, Unterdrückung unabhängiger Medien oder immer stärkere Ausweitung der Kontrolle über die russische Gesellschaft gelangen ihm fast genauso spielerisch wie der Krieg gegen Georgien, die Annexion der Krim oder die erfolgreiche militärische Operation in Syrien. Es wurde nicht selten betont, dass diese Taktik zwar gegen grundlegende demokratische Prinzipien und internationale Verträge oder gar gegen das Völkerrecht verstößt, aber aus vielen Analysen konnte man eine gewisse Anerkennung herauslesen.

Im Grunde genommen ist es nichts Neues. Filme, in denen ein fieses kriminelles Superhirn die Welt vernichten will, erfreuen sich ebenso großer Beliebtheit. Der Unterschied zwischen dem Film und dem realen Leben ist nur, dass in der fiktiven kinematografischen Welt das Böse immer besiegt wird, auch wenn manchmal vorher ziemlich viele Leichen über den Bildschirm fliegen.

Nach demselben Prinzip hat man sich auch immer wieder für das „böse Genie“ der Autokraten und Diktatoren begeistert. In der Geschichte gibt es viele Beispiele dafür. Es genügt, die Presseberichte über die beiden größten Massenmörder des 20. Jahrhunderts - Hitler und Stalin - zu lesen, als sie sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht befanden. Beide hatten übrigens ein besonderes Faible für den Film, und sie waren sich selbstverständlich bewusst, wie die Bilder menschliche Wahrnehmung der Realität manipulieren können.

„Die Anziehungskraft des Bösen und des Verbrechens für die Mob-Mentalität ist nicht neu“, schreibt Hannah Arendt in ihrem erstmals 1951 – ursprünglich auf Englisch – erschienenen Standardwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“. Diese Verneigung vor der Bosheit eines „politischen Genies“ hat den Aufstieg des Totalitarismus begleitet und erleichtert.

Hannah Arendt fährt fort mit einem Zitat, das sie in einer verkürzter Form wiedergibt. Im Original lautet es in voller Länge so: „Der Pöbel hegt eine besondere Bewunderung und Achtung vor den Genies der politischen Macht. Er nimmt ihre Gewalt-Tätigkeiten mit dem bewundernden Ausdruck auf: ‚Es ist zwar gemein, aber sehr klug! ... eine List, wenn du willst, aber wie geschickt gespielt, wie glänzend durchgeführt! Welch schamlose Verwegenheit!‘“

Diese Passage stammt aus der antisemitischen Schrift “Die Zionistischen Protokolle. Das Programm der internationalen Geheimregierung“. Im Jahr 1933 ging in Deutschland bereits die fünfzehnte Auflage in den Druck. Man kann einigen zeitgenössischen Experten „gratulieren“: Sie sind in guter Gesellschaft.

Lemberg, den 8. Juni, nachmittags

Der Juni war immer ein Monat der Kirschen gewesen. In den letzten Jahren kamen die Kirschen aus Melitopol. Vielleicht nicht direkt aus der Stadt, aber auf jeden Fall aus der Region oder allgemein aus dem ukrainischen Süden. Sie waren groß, süß und fruchtig. Melitopol war die Hauptstadt der Kirschen. Eine glanzvolle Metropole des Kirschimperiums. Auf den Lemberger Märkten gab es in der Sowjetzeit keine Kirschen aus dem Süden, nur von einheimischen Bauern. Sie waren kleiner und weniger saftig, weil den Kirschbäumen in unseren geografischen Breiten die Sonnenstunden fehlten

Das wussten wir damals nicht. Wir wussten nicht mal, dass es andere Kirschen geben kann. Bis wir in den Ferien vor der letzten Schulklasse in eine Kolchose in den ukrainischen Süden abkommandiert wurden, um den dortigen Kolchosbauern bei der Ernte zu helfen. Wir freuten uns riesig auf das Abenteuer. Die Zugreise dauerte ewig. Die Nacht in der ratternden Eisenhülle des alten Waggons war schwül, und der Tag war heiß. Einen frustrierten europäischen Intellektuellen oder einen unverbesserlichen Romantiker hätte die Fahrt bestimmt begeistert. Wir hatten andere Probleme. Hätten wir gewusst, dass es Klimaanlagen gibt, hätten wir von einer Klimaanlage geträumt. Wir wussten es nicht. So träumten wir vom Meer. Die Kolchose lag nicht am Meer. Man versprach uns, dass wir unbedingt einen Ausflug machen würden (aber nur, wenn wir fleißig arbeiteten), und brachte unseren bunten Schülertrupp in irgendwelchen provisorischen Baracken unter. Gleich am ersten Abend durchsuchten die Lehrerinnen und Lehrer unsere Reisetaschen. Es ging um Alkohol und Zigaretten, wir waren ja noch minderjährig, auch wenn wir Erwachsene spielen wollten.

Damit sie ihr Gesicht wahren konnten, verwendeten wir die „Macron-Strategie“. Wir ließen sie die eine oder andere Schachtel Zigaretten oder Bierflasche finden, den Rest hatten wir frühzeitig bei den Mädchen deponiert. Sie wurden nicht durchsucht. Bei den Komsomolzinnen ging man fest davon aus, dass sie nicht rauchten, kein Bier tranken, die Prinzipien der kommunistischen Moral auswendig kannten und jungfräulich waren. Also ließ man sie in Ruhe. Es ist mir ein Rätsel, warum diese kommunistische Scharade im ganzen Land gespielt wurde. Jeder wusste, dass Schüler und Studenten die Arbeit nur mimen würden. Das machte sowieso fast jeder in der späten Sowjetzeit. Außerdem war es ein stillschweigendes Geständnis, dass das System gar nicht funktionierte. Die Kolchosen waren nicht imstande, ihre Ernte einzubringen, auch die Logistik funktionierte nicht, sodass Obst und Gemüse nie in die leeren sowjetischen Gemüseläden kamen.

Es wäre sowieso niemand auf die Idee gekommen, dort einzukaufen. Man kaufte auf dem Markt vom Bauern. Erziehung durch fleißige, kostenlose Arbeit für den Sozialismus gehörte aber zur kommunistischen Moral wie Kirschen zur Marmelade. Das war einfach Pflicht. Also machten alle mit, obwohl alle wussten, dass es keinen Sinn hatte. Für unsere Lehrer waren wir eine Belastung, für die Kolchosbauern eine Beleidigung, und für die örtlichen Teenager eine Belustigung. Zumindest hatte jeder Spaß daran. Bei den Namen der Kolchosen herrschte eine gewisse Eintönigkeit. Als hätten die Kommunisten ihre gesamte Fantasie für die Euphemismen aufgebraucht, die sie für die Beschreibung der Zustände im Land und ihre Tätigkeit erfinden mussten. Man hatte immer etwas normalisiert, verbessert, vertieft, weiterentwickelt oder erweitert. Die Kolchosen trugen beispielsweise den Namen des 50. Jahrestages der Oktoberrevolution oder des Lenin’schen Komsomol, auch wenn sich die sogenannte „Oktoberrevolution“, die die Bolschewiken durch Putsch an die Macht gebracht hatte, zu jener Zeit eher der Lebenserwartung eines angetrunkenen sowjetischen Arbeiters näherte. Viel seltener kam vor, dass Kolchosen romantische Namen wie „Gartenriese“ bekamen. Über einen landwirtschaftlichen Betrieb namens „Gartenzwerg“ ist mir nichts bekannt.

Nach einer kurzen Einführung in die Geschichte der sowjetischen Landwirtschaft und der ukrainischen Kolchosen wurden wir mit dem Pflücken der Kirschen beauftragt. Wir bekamen ein paar hohe Leitern und kletterten munter auf die Kirschbäume. Insgesamt verbrachten wir ungefähr eine Woche in diesem Kirschparadies. Am ersten Tag aßen wir Kirschen wie wilde Teufel und reagierten kaum auf die empörten Rufe der Kolchosbäuerinnen, die uns daran erinnerten, dass wir das Plansoll zu erfüllen hatten. Es war uns egal. Am zweiten Tag hatten wir nach der Kirschsucht am Vortag mit einigen Gesundheitsproblemen zu kämpfen. Ab dem dritten Tag ging es einigermaßen weiter. Die gepflückten Kirschen gehörten in die Holzkisten. Es waren sehr schlampig aus ein paar krummen Brettern zusammengezimmerte Behälter mit breiten Spalten im Boden und an den Seiten. Man musste den Boden mit Laub abdecken, damit die Kirschen nicht durchfielen.

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Die Kisten füllten sich nur langsam. Bis jemand auf die Idee kam, dass man auf die erste Laubschicht ein paar kleine Steine und Zweige legen könnte, und das Ganze danach durch eine weitere Laubschicht abdecken sollte. Nun füllten sich die Kisten wesentlich schneller. Wir waren sogar nahe dran, das Plansoll zu erfüllen. Das war ein fester Bestandteil jeglicher Arbeit in der späten Sowjetzeit. Jeder wusste, dass alle mogeln. Nach einigen Tagen flogen unsere Mogeleien auf, weil jemand versehentlich eine Kiste umstieß. Man sagte uns, dass wir dieses System nicht erfunden haben; es wiederhole sich von Jahr zu Jahr in verschiedenen Variationen. Man war nicht wirklich böse auf uns. Nur durften wir danach keine Kirschen mehr pflücken und wurden bis zum Ende unserer Zeit in diesem fröhlichen Arbeitslager an lange Tomatenreihen strafversetzt, die wir nunmehr jäteten. Es war nicht mehr so spannend. Vielleicht standen die Tomaten bereits im Vorhinein auf dem Programm, und man nutzte unseren missglückten Trick mit den Kirschen nur als Vorwand.

Einen Ausflug ans Meer machten wir trotzdem. Nach dem Zerfall der Sowjetunion brauchten die Bauern plötzlich keine unbezahlte Hilfe von Schülern und Studenten mehr. Sie lernten sehr schnell, wie man gute Kirschen, Wassermelonen oder Pfirsiche anbaut und im ganzen Land verkauft. Überall wusste man, dass im Juni die besten Kirschen aus Melitopol kommen werden. In diesem Jahr wird es keine Kirschen aus Melitopol auf den Lemberger Märkten geben. Woanders auch nicht. Man hört sogar, dass die russischen Besatzer im ukrainischen Süden wieder Kolchosen einführen wollen. Dann wird es nicht mehr lange dauern, bis wieder Schülerarbeit gefordert wird.

Lemberg, den 6. Juni, nachmittags

In der Nacht zum 21. August 1968 marschierten die von der Sowjetunion angeführten Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei ein. Die Invasion beendete den Prager Frühling mit militärischer Gewalt, einen Demokratisierungsversuch der dortigen Kommunisten unter Führung von Alexander Dubček. Der Widerstand des kleinen Landes war aussichtslos. Trotzdem versuchten die Tschechen und die Slowaken den Angreifern das Leben so schwer wie möglich zu machen. Zahlreiche Ortstafeln und Straßenschilder wurden verdreht, übermalt oder abmontiert. Viele kleine Dörfer benannten sich um und hießen nun „Dubček“ oder „Svoboda“ - nach dem Präsidenten des Landes, Ludvík Svoboda. Eine besondere Genugtuung für die Bauern musste gewesen sein, dass „Svoboda“ auf tschechisch „Freiheit“ bedeutet. Andere Wegweiser zeigten den Weg nach Moskau. Plötzlich gab es ganz viele davon.

Das Zeitalter der Navigationsgeräte lag noch in der fernen Zukunft, also mussten die sowjetischen Kommandeure an Wegkreuzungen ihren Kompass herausholen und sich über die Karten beugen. Laut schadenfreudiger Zeugenberichte waren diese Orientierungsübungen nicht immer von Erfolg gekrönt. Letztendlich verlangsamte dies das Vorrücken der Invasoren nur unwesentlich, auch wenn die eine oder andere Panzerkolonne in die falsche Richtung abbog.

Nach der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings setzte die Periode der „Normalisierung“ ein. Dieser Euphemismus bedeutete nichts anderes als massive Säuberungen, politische Verfolgungen, drakonische Zensur und Verbote unabhängiger gesellschaftlicher Organisationen. Bei Erfindung von verhüllenden Umschreibungen waren die Kommunisten schon immer auf eine besonders perfide Weise kreativ gewesen.

Der Widerstand war schnell gebrochen, die dazugehörigen fantasiereichen Ortstafeln und Wegweiser verschwanden aus dem Straßenbild. Allerdings nicht spurlos. Nach 1989 tauchten sie auf den Märkten als Artefakte auf. Als Symbole des Widerstandes gegen die untergegangene kommunistische Welt waren sie bei westlichen Touristen begehrt.

Zu Beginn des russischen Überfalls machten auch die Ukrainer von verdrehten, abmontierten oder übermalten Straßenschildern Gebrauch. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Invasion in der Tschechoslowakei verkörperten sie erneut den Widerstand einer Gesellschaft, die in Freiheit leben wollte. Anders als damals wurden sie diesmal mancherorts zur wirksamen Hilfe für beherzt kämpfende ukrainische Truppen im Zeitalter der nicht funktionierenden oder nicht existierenden russischen Navigationsgeräte.
Vergangene Woche wurde der wohl berühmteste ukrainische Wegweiser dieser Art versteigert. Der anonyme Käufer zahlte knapp 20.000 US-Dollar dafür, der Erlös wird an die Armee gespendet. Ob dieses Schild tatsächlich je an einer Kreuzung gestanden hat oder ob es nur eine humorvolle Idee war, bleibt ungewiss.

Normalerweise kann ein Autofahrer an einer Straßenkreuzung geradeaus fahren oder nach links beziehungsweise nach rechts abbiegen. Der legendäre Wegweiser bot für russische Truppen alle drei Möglichkeiten. Sie waren – ins Deutsche übertragen – so beschriftet: „Geradeaus: Verpisst euch. Nach links: Verpisst euch nochmal. Nach rechts: Verpisst euch nach Russland“.
Bedauerlicherweise ist die russische Armee dieser Empfehlung bis jetzt nicht gefolgt. Denn für die Richtung, in die sich das Militär und die Gesellschaft in Russland seit Jahren bewegen, gibt es ein anderes, passenderes Straßenschild – den Kreisverkehr. Es ist ein Kreis aus Gewalt und Tod, aus Hass und Menschenverachtung, aus Feindbildern und Propagandawahn. Ein Teufelskreis eben.

Lemberg, den 4. Juni, nachmittags

Andrij Krasnjaschtschich verließ Charkiw Ende März. Seine Eltern brauchten Medikamente, in Charkiw waren sie nicht mehr zu besorgen. Seine zehnjährige Tochter versank in Schwermut, bei permanenten Fliegeralarmen und Raketeneinschlägen saß sie niedergeschlagen im Schutzkeller, wollte kaum noch reden und drückte ihre Katze an die Brust. Gleich am ersten Tag des russischen Überfalls beschloss die Familie für ein paar Tage zu Andrijs Eltern zu ziehen, die im anderen Stadtteil lebten. Sie gingen zu Fuß, der öffentliche Verkehr wurde bereits stillgelegt, die U-Bahn-Stationen wurden zu Bombenschutzkellern umfunktioniert. Nach zweieinhalb Stunden waren sie am Ziel. In ihre Wohnung kehrten sie bis heute nicht mehr zurück.

Andrij ist Schriftsteller und Universitätsdozent. Er unterrichtet Literaturgeschichte, forscht über Modernismus und Postmodernismus. Bereits als Schüler hat sich Andrij für Literatur begeistert. In der Erzählung “Armer Yorick, reicher Yorick” beschreibt er seine Erfahrungen so: „Wissen Sie, was das ist, eine Literatur-AG im Pionierpalast? Wohl kaum. Dass man dort hinging, durfte man nicht nur vor Walik oder Masdon nicht zugeben, man musste es auch vor seinen Mitschülern geheimhalten. AGs wie „Auto und Motor“ waren eines jungen Mannes würdig, oder Boxen, überhaupt Sport jeder Art, sogar ein so seltsamer wie „Feuerwehrsport“, zur Not ging auch noch Schach oder Dame, obwohl das schon an der Grenze war („Wenn Schach ein Sport ist, dann ist Onanie Leichtathletik“), aber eine Literatur-AG ... das war jenseits.”

Heute schreibt Andrij eine Kolumne. Einmal mehr ein bewegender Augenzeugenbericht. Einmal mehr beklemmende Eindrücke eines Schriftstellers im Krieg.
Als wir uns vor paar Jahren kennenlernten, erzählte Andrij begeistert über Literatur und Architektur in Charkiw. Als wir Ende März telefonierten, war er gerade in Poltawa angekommen. Nur etwa 150 Kilometer westlich von Charkiw lag eine andere, fast friedliche Welt. “In Poltawa ist alles gut. Hier kann man spazieren gehen”, sagte er mir damals erleichtert am Telefon. Einige Tage später schlugen auch dort russische Raketen ein. Später einige Male in der Region. Trotzdem blieb es bisher nur bei den vereinzelten Angriffen. Also fühlt man sich sicher in Poltawa, zumindest relativ.

Die Tochter spiele hier wieder mit anderen Kindern, schreibt Andrij in seiner Kolumne. Es gebe einen ganzen Schwarm Kinder hier. Sie laufen, klettern, spielen Verstecken, schaukeln auf einer Schaukel im Hof... Leben ein ganz normales Kinderleben. Und kennen mittlerweile den Unterschied zwischen verschiedenen Artilleriegeschossen. Diese Kids wissen, dass eine Päonie nicht nur eine Pfingstrose ist, also eine Blume, sondern auch eine schwere russische Kanone. Ihre Reichweite ermöglicht es, Charkiw vom russischen Gebiet zu beschießen, Wohnhäuser zu zerstören und Menschen zu töten. Ende Mai starben wieder acht Menschen durch den Beschuss. Eine junge Familie kam erst vor Kurzem nach Charkiw zurück, in der Überzeugung, die Stadt sei bereits sicher genug. Der Vater und das fünf Monate alte Baby waren sofort tot, die Mutter wurde schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert.

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Andrij würde auch gerne zurückkehren, weiß aber, dass es noch zu früh ist. Das sagt er mir heute, als wir wieder telefonieren. Er erzählt mir zudem, dass eine Bekannte nachgeschaut hat, ob die Wohnung und das Haus nicht zerstört sind. Bei ihm war nur in einem Fester ein Loch von einem Splitter zu sehen. In den unteren Stockwerken gebe es jedoch weder Fenster noch Balkone mehr. In seiner Kolumne schreibt er, dass er mit Schuldgefühlen wegen der verlassenen Wohnung nicht fertig wird. Jedes Mal, wenn es in der Nähe einschlägt, wird ihm unheimlich, dass er sie aufgegeben hat.

“In Poltawa bin ich ein anderer Mensch geworden”, gesteht Andrij. Spazieren sei nun für ihn wichtiger geworden als Geschäfte erledigen. Auf der Straße ziehe er keine Kopfhörer mehr auf, er wolle die Klänge der Stadt hören. Andrij rauche andere Zigaretten, trage Hoodies, schaue sich keine Filme an und lese keine Bücher mehr. Nur noch Nachrichten im Smartphone. Der Computer sei zu Hause in Charkiw geblieben. Kurz nachdem er in Poltawa angekommen war, fing der Online-Unterricht an der Uni wieder an. Am nächsten Tag erschütterte Andrij eine Meldung: Wadym P., ein Student der Karasin-Universität in Charkiw, und sein Vater kamen während eines Evakuierungsversuchs ums Leben. Andrij wusste sofort, dass es ein Student aus seinem Kurs war. Seine Stimme kannte er sehr gut, weil Wadym einen sehr interessierten Eindruck machte und immer Fragen stellte. In der Meldung war auch sein Foto wiedergegeben. Nun wusste Andrij endlich, wie Wadym aussah. Bis dahin kannte er ihn nur an seinem Avatar im Online-Kurs.

Die zitierten Sätze aus der Erzählung “Armer Yorick, reicher Yorick” von Andrij Krasnjaschtschich wurden aus der deutschen Übertragung von Olga Radetzkaja übernommen.

Lemberg, den 2. Juni, nachmittags

Das Schöne an Europa ist seine Vielfalt. Diese Definition hat man immer wieder von romantisch veranlagten, überzeugten Europäern gehört. Sie haben recht. Das wissen auch das Putin-Regime und seine schwarze Propagandamaschinerie zu schätzen. Nach drei Monaten (oder hundert Tagen, wenn jemandem dieser Zahlenfetischismus besser gefällt) scheint es mit der großen europäischen Einigkeit vorbei zu sein. Als wäre eine zu lange andauernde Eintracht eine Gefahr für die genuine Vielfalt.

So gibt es nun Länder, die ihre langjährige Liebe zum russischen Rohr nicht sofort aufgeben können und welche, die plötzlich Liebesgefühle zum russischen Patriarchen entdeckt haben. Es gibt Gasversorger, die nichts von den Rubelkonten wissen wollen, weil dies einen Verstoß gegen die Sanktionen bedeutet hätte. Andere versuchen dagegen mit juristischen Wortverrenkungen zu argumentieren, dass Zahlungen in russischer Währung das einzig Richtige sind. Es gibt Staaten, die auf den Status des EU-Beitrittskandidaten für die Ukraine pochen, und welche, die ihn mit jedem denkbaren Argument gerne blockieren würden.

Regierungen, die sich eine Sommerpause wünschen, und welche, die Waffen liefern. Länder, die weiterhin Villen an russische Korruptionäre verkaufen wollen, und Länder, die hunderttausende ukrainische Flüchtlinge aufgenommen haben. Politiker, die Zugeständnisse von Kiew fordern, damit Putin unbestraft weitere Gebiete von der Ukraine abknabbern kann, was sein Gesicht vermeintlich retten würde, und welche, die sehr wohl verstehen, dass ein solcher Schritt den Krieg nicht stoppen, sondern nur eine Brücke von einer Katastrophe zur anderen bauen würde. Firmen, die aus Gründen der Selbsthygiene Russland verlassen haben, und andere, die weiterhin Geschäfte im Putin-Reich machen. Und sogar gerne begründen, warum es ungerecht wäre, wenn das russische Volk westliche Schokolade entbehren müsste. Immerhin gab es auch genug Unternehmen, die mit dem „Dritten Reich“ zusammengearbeitet haben.

Und es gibt Deutschland. In keinem anderen Land ist derzeit die Kluft zwischen Worten und Taten beinahe zum obersten politischen Prinzip geworden. Hoffnungen, dass die Bundesrepublik trotz anderslautenden Versprechungen in der nahen Zukunft überlebenswichtige Waffensysteme an die Ukraine liefert, schwinden. Seit Wochen liefere Deutschland nur noch ein Minimum an Waffen, wie neulich die WELT AM SONNTAG berichtete. Die Opposition wirft der Regierung sogar vor, versteckte Signale an Russland zu senden. Die angekündigte Übergabe von einem Raketenabwehrsystem soll erst im November stattfinden. Bei aller erforderlichen Vorlaufzeit und Ausbildung ukrainischer Soldaten daran klingt es so, als spiele man auf Zeit - in der Hoffnung, dass bis dahin entweder die russische Armee sich auflöst oder die Ukraine aufgibt. Beides wird nicht passieren. Was passieren wird, kann man sich leicht ausmalen - die russischen Raketen werden Häuser in den ukrainischen Städten zerstören und Menschen töten. Die Vorstellung, dass man Probleme durch Untätigkeit lösen kann, spielt nur Russland in die Hände.

Wolodymyr Horbulin, dem ehemaligen Sekretär des ukrainischen Sicherheits- und Verteidigungsrates, wird folgende sarkastische Bemerkung zugeschrieben, die er im Jahr 2009, als die Fertigung der Pipeline Nord Stream 1 in der Endphase war, so formuliert haben soll: “Es gibt zwei russische Botschaften in Kiew, in einer davon wird Deutsch gesprochen”. Vielleicht hat es aber auch jemand anderer gesagt. Heute wird dieser Satz in der Ukraine häufig zitiert. Damals war es klar, welches Land die Bundesrepublik in ihren Beziehungen priorisiert. Derzeit hat man wieder Zweifel und stellt sich Fragen.
Ja, es sind schwere Zeiten. Vor allem für Europa. Für die Ukrainer geht es dagegen um ihre Existenz. Das ist der Unterschied. Man kann heute keine Prognosen abgeben, weil weder das weitere Verhalten von Putinschem Russland noch das vom Westen kaum vorhersehbar sind. Wenn die Europäer Appeasement machen wollen (die Stimmen dafür mehren sich zur Zeit, man fühlt sich ja vom Krieg im anderen Land schnell zermürbt), dann haben sie wirklich nichts verstanden. Es ist offenbar schwer, aus der Geschichte zu lernen. Es ist viel einfacher, den Urlaub zu planen.

Lemberg, den 1. Juni, abends

Stadtgeschichten für Touristen sind eine bunte Mischung aus Legenden, Mythen und Fakten. Was tatsächlich passiert ist und welche Ereignisse wir der Fantasie des Erzählers verdanken, ist nicht immer genau festzustellen. In Stadtführern gibt es keine Fußnoten mit Verweisen auf Quellen. Manche trennen Wunschbilder nicht sauber von Fakten. Die Behauptungen dort kann man genauso wenig überprüfen wie die Angaben über getötete Soldaten oder abgeschossene Flugzeuge. Für einen Besucher bleiben also nur zwei Möglichkeiten – zu glauben oder zu zweifeln. Die meisten Menschen entscheiden sich für „glauben“. So funktioniert das menschliche Gehirn. Nach diesem Prinzip funktioniert auch die Unterhaltung. Und die Propaganda.

Mein Stadtführer für Drohobytsch ist ein schönes Büchlein mit zahlreichen Fotos. Dort wird behauptet, dass Drohobytsch einst eine reiche Stadt war. Dass hier zum ersten Mal in Europa Öllaternen zur Straßenbeleuchtung zum Einsatz kamen. Dass sich in Drohobytsch die größte Synagoge zwischen Kiew und Warschau befindet. Und dass hier die älteste noch in Funktion befindliche Saline von Osteuropa steht.

Fangen wir mit Reichtum und Öl an. Beides war im 19. Jahrhundert eng verbunden. Beides ist auch heute nicht voneinander zu trennen, vor allem in autokratisch regierten Ländern. In Drohobytsch ist der einstige Wohlstand am bröckelnden Putz der Häuserfassaden erkennbar. Das etwa 100 km südlich von Lemberg in der Vorkarpaten liegende Städtchen konnte an der expandierenden Öl- und Gasindustrie in Galizien direkt partizipieren – die Ölfelder waren nur wenige Kilometer von Drohobytsch entfernt. Die Ölmagnaten bauten hier ihre Villen, gefolgt von etwas bescheideneren Immobilien ihrer Anwälte und Ärzte. Ende des 19. Jahrhunderts sollte Drohobytsch nach Lemberg und Krakau sogar die drittreichste Stadt in Galizien gewesen sein.

Dieser Wohlstand war jedoch nicht von langer Dauer. Die Ölfelder waren bereits nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr sehr ergiebig, und der Zweite Weltkrieg mit dem Holocaust, der Integration in die Sowjetunion in der Nachkriegszeit und der Verstaatlichung von Betrieben setzte dem Reichtum endgültig ein Ende. Das jüdische Leben wurde wie überall in Galizien beinahe vollständig ausgelöscht. Von etwa 15.000 Drohobytscher Juden, die fast die Hälfte der Bevölkerung ausmachten, überlebten nur wenige Hunderte die Vernichtung durch die Nazis. Die große Choral-Synagoge stand nach dem Krieg als Ruine da, bis sie später in der Sowjetzeit umgebaut und zum Möbellager umfunktioniert wurde.

Nach dem Zerfall der UdSSR verwahrloste das Gebäude weiter, bis die kleine jüdische Gemeinde einen potenten und geheimnisvollen Sponsor fand, der die Restaurierung komplett übernahm. In den Medien sucht man bis heute nach irgendwelchen Namen vergeblich, die Einheimischen glauben es jedoch zu wissen – der Geldgeber sollte der in Drohobytsch geborene und dem Putin-Regime nahestehende russische Oligarch Wiktor Wechselberg gewesen sein. Seine Geburtsstadt hatte er aber nicht mal inkognito besucht. Sonst hätte das Volk davon etwas gerochen.

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Als wir vor paar Jahren vor der restaurierten und geschlossenen Synagoge standen, kam ein Arbeiter auf uns zu und fragte, ob wir das Gebäude besichtigen wollen. Nach einem kurzen Telefonat mit dem Rabbiner durften wir sie betreten. Im großen Saal empfingen uns einige Ausstellungstafeln zur jüdischen Geschichte in Drohobytsch und ein Hauch der Leere. Ich habe oft dieses Gefühl, wenn das restaurierte Haus nur eine Hülle für etwas geworden ist, was nicht wiederkommen wird, wenn die dazugehörige Gemeinde entweder nicht mehr existent oder verschwindend klein ist.

Ich weiß nicht, ob die Synagoge in Drohobytsch tatsächlich die größte zwischen Warschau und Kiew ist. Es ist aber sehr gut möglich, dass es sich dabei um die größte leerstehende Synagoge in diesem geografischen Raum handelt. In einer Stadt, deren jüdische Gemeinde kaum noch hundert Mitglieder zählt.

Der letzte Vertreter der Vorkriegsgeneration, der Geiger und Musiker Alfred Schreyer, ist 2015 verstorben. Er überlebte den Holocaust und mehrere KZ und kehrte nach dem Krieg in seine Heimatstadt zurück, wo er fast bis zu seinem Tod lebte. Alfreds Lehrer, der ihn am Drohobytscher Gymnasium Zeichnen und Werken unterrichtete, wurde im November 1942 von einem SS-Mann erschossen. Sein Name war Bruno Schulz. Der Schriftsteller und Zeichner stieg im posthumen literarischen Ruhm zu einer der bekanntesten Persönlichkeiten von Drohobytsch auf.

Der polnische Schriftsteller Bruno Schulz (1892-1942)
Der polnische Schriftsteller Bruno Schulz (1892-1942)
Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bruno_Schulz,_portrait.jpg

Einem neuen geschäftigen Handelsviertel, wo sich eine moderne, nüchterne Kommerzwelt voller kitschiger Anmaßung entwickelte, gab Schulz in seinem berühmten Erzählungsband „Die Zimtläden“ den fantasievollen Namen „Die Straße der Krokodile“. Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Welt bald auch die alte Saline erreicht. Denn da das größte ukrainische Salzbergwerk im Donbass kriegsbedingt nicht mehr produzieren kann, bleibt die mittelalterliche Drohobytscher Saline aus dem 13. Jahrhundert, in der ein Museum entstehen sollte, der einzige Hersteller im ganzen Land. Jetzt will man die Saline modernisieren und die Produktion ausbauen.

Anders als das im Bergbau abgebaute Natriumchlorid wird hier das Salz aus dem extrem salzigen Grundwasser durch Verdunstung gewonnen. Die Lösung wird aus der Tiefe hochgepumpt, in großen hölzernen Auffangwannen gefiltert und anschließend auf Spezialplatten verdunstet. Geheizt wurde in den kleinen Öfen mit Holz. Die Technologie hat sich über Jahrhunderte kaum verändert. Damit dürfte es nun vorbei sein, wenn die Mengen deutlich erhöht werden sollen.

In der alten Saline von Drohobytsch
In der alten Saline von Drohobytsch
Quelle: Durkot Juri

Als Oksana Bunda, eine Mitarbeiterin der Saline und wunderbare Enthusiastin, uns damals bei einer Privatführung begeistert das Verfahren erklärte und im noch nassen Salz mit der Schaufel herumwühlte, fühlte ich mich plötzlich in ein Märchen aus dem Mittelalter versetzt. Durch die Spalten zwischen den Holzstäben drang die Nachmittagssonne in die Ofenhütte hinein, als wollte sie die Besucher blenden. Die Salzkristalle glitzerten und sprangen wie junge Kobolde auf der Schaufel. Im Hof, eingespannt in einen Wagen, auf dem bereits einige Säcke mit Salz lagen, wartete gelangweilt ein Pferd. Die Saline belieferte nur einige Geschäfte und kleine Supermärkte der Region. Ansonsten konnte man das Salz in kleineren und größeren Kegeln kaufen. Es schmeckte ausgezeichnet und ganz anders als Steinsalz.

Wir kauften mehrere liebevoll verpackte Salzkegel und verabschiedeten uns von Oksana. Damals wussten wir noch nicht, dass der Krieg auch eine Tradition zerstören kann. Auf Märchen nimmt die Ökonomie keine Rücksicht. Krokodile kümmern sich nicht darum.

Lemberg, den 30. Mai, abends

Ein polnischer Journalist beschreibt in einem Artikel seine Beobachtungen im Donbass, wohin er sich nach dem Beginn der russischen Offensive begeben hat. Die Hauptstraßen waren dort bereits längst gesperrt, sodass er und sein Begleiter sich auf unbefestigten Feldwegen bewegten. Eines Tages begegnete er einem Mann, der an einem großen Teich angelte. In der Ferne konnte man das Dröhnen der Artilleriegeschosse hören, ab und zu tauchten im Himmel russische Kampfflugzeuge auf und feuerten ihre Raketen ab.

Doch den Mann schien nichts aus der Ruhe zu bringen. Er stand ganz gelassen mit seiner Angel am Ufer, als wäre die Welt absolut in Ordnung. Auf die Frage, ob er keine Angst habe, hier zu fischen, wenn rundherum permanent geschossen werde, schüttelte der Mann nur mit dem Kopf und winkte ab. „Hier ist es immer so, der Mensch gewöhnt sich daran.“

Dieses „immer so“ klang nicht, als würde hier erst seit paar Wochen oder Monaten geschossen. Es klingt eher danach, dass es hier seit acht Jahren so zugeht. Das heißt, mindestens seit 2014, als Russland versuchte, im Donbass separatistische Marionettenregime zu installieren. Acht Jahre sind wirklich genug, um sich an die Schießereien zu gewöhnen.

Anderswo gibt es tatsächlich erst seit einiger Zeit intensive Kämpfe. Die ukrainischen Soldaten wundern sich immer wieder, dass viele Menschen trotz eindringlicher Warnungen ihre Häuser nicht verlassen haben. Man schätzt, dass in den umkämpften Gebieten bis zur Hälfte der Bevölkerung geblieben ist. Viele verstecken sich nicht mal in den Kellern. „Wir haben schon lange genug gelebt. Wir werden nirgendwohin fahren. Wer wird uns schon aufnehmen?“ Solche Begründungen hört man immer wieder.

Sie bleiben: Einwohner von Staryi Saltiv, östlich von Charkiw, das inzwischen wieder unter ukrainischer Kontrolle ist
Sie bleiben: Einwohner von Staryi Saltiv, östlich von Charkiw, das inzwischen wieder unter ukrainischer Kontrolle ist
Quelle: AP

Also leben sie einfach weiter. Obwohl sie keinen Strom, kein Wasser und kein Mobilfunknetz mehr haben. Besonders in den kleinen Dörfern denken die Menschen gar nicht daran, ihre Häuser zu verlassen. Sie wollen ihr traditionelles Leben, an das sie sich so gewöhnt haben, nicht einfach so aufgeben. Egal, was passiert, sie haben keine Angst mehr. Nur den Wunsch, dass die Schießereien irgendwann aufhören mögen. Dann wird man ganz in Ruhe angeln gehen, ohne sein Leben zu riskieren.

Lemberg, den 28. Mai, mittags

Es ist ruhig geworden auf dem Bahnhofsvorplatz in Lemberg. Keine Spur von den Flüchtlingsströmen, die hier vor zwei Monaten das Bild prägten, keine unendlichen Schlangen von Frauen und Kindern, die damals im Schneeregen und Wind auf den nächsten Evakuierungszug Richtung Przemysl ausharrten. Nur noch ein paar Menschen sind vor dem Eingang zur Vorhalle zu sehen. Man könnte glauben, es herrscht ein ganz normaler Bahnhofsbetrieb an diesem trüben Vormittag mit immer wieder einsetzendem Nieselregen.

Ein unaufmerksamer Beobachter, der zu seinem Zug geeilt wäre, hätte womöglich einige Zelte in einer kleinen Grünanlage links vom Haupteingang nicht sofort bemerkt. Doch eigentlich sind sie unübersehbar. Das große graue Zelt des Katastrophenschutzes. Die Zelte der internationalen Hilfsorganisationen. Nur Flüchtlinge gibt es hier kaum noch. Man hätte die Helfer selbst für Flüchtlinge halten können, etwa einen etwas verwirrt wirkenden Australier oder einen Engländer mit seiner grauen Haarmähne. Wenn sie nicht ihre roten Helferwesten trügen. Ansonsten sehen beide aus, als hätten sie paar Tage nicht geschlafen und würden nun gern unter die Dusche springen.

Die Straßenbahn quietscht gemächlich in der Schleife, bevor sie an der Haltestelle ein paar Fahrgäste aufsammelt. Ich höre, wie eine Frau mit dem Rollkoffer jemanden fragt, wo sie hier eine Apotheke findet. Es könnte sein, dass sie gerade aus dem Osten angekommen ist. Oder aus Polen zurückkehrt und sich noch vor der Weiterfahrt schnell ein paar Medikamente besorgen will. Diese Szene hätte sich aber genauso gut in der Friedenszeit abspielen können.

Aus dem Osten kommen nur noch selten Evakuierungszüge in Lemberg an. Jetzt geht es eher in die andere Richtung. Etwa zwei Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sind nach Angaben des Grenzschutzes inzwischen zurückgekehrt. Allerdings fährt man nur dann wieder nach Hause, wenn man sich zumindest sicher genug fühlt. Und wenn das Haus nicht zerbombt wurde. So sind von ursprünglich rund 200.000 in Lemberg offiziell registrierten Flüchtlingen etwa 150.000 immer noch da. Sie haben kein Zuhause mehr, ob in Tschernihiw, Charkiw oder im Donbass.

Nicht weit von Charkiw: Die Brücke ist notdürftig repariert
Nicht weit von Charkiw: Die Brücke ist notdürftig repariert
Quelle: AP

Für alle, die aus Europa nach Lemberg mit dem Zug zurückkehren, gibt es nur einen Umsteigebahnhof in Polen: Przemysl. In dieser polnischen Stadt mit einem für einen Deutschen unaussprechlichen Namen endet die Breitspur. Dieses technische Detail hat sie zu einer natürlichen Endstation für ukrainische Intercity-Schnellzüge gemacht. Für eine Spurumstellung hat man im Krieg keine Zeit.

Man sagt, jeden Tag kommen viele Menschen mit dem Zug aus Przemysl zurück. Nach Lemberg und nach Kiew. Nach Odessa wohl eher nicht, obwohl es einen Intercity von Przemysl nach Odessa gibt. Vormittags gibt es allerdings keine Züge aus Polen, sodass ich es nicht wirklich überprüfen kann. Der letzte sollte laut Fahrplan vor zwei Stunden angekommen sein.

Derzeit verspäten sich die Züge öfter, also beschließe ich, mich doch zu erkundigen. In der Vorhalle ist es dunkel wie immer, an den Ticketschaltern stehen ein paar Reisende. Ansonsten ist hier nicht viel los. Am Informationsschalter ist nur eine Frau vor mir. Als ich dran bin, frage ich, ob der Zug aus Przemysl angekommen sei. In normalen Zeiten hätte eine solche Frage niemanden gewundert. Aber es sind keine normalen Zeiten, und mein Interesse muss der Dame hinter der Glasscheibe etwas suspekt vorkommen. Sie mustert mich mit einem misstrauischen Blick und will wissen, wozu ich denn die Auskunft bräuchte. Ich erfinde schnell die Geschichte, dass wir Kontakt zu einer Familie in diesem Zug verloren hätten. Dann dreht sie die Wahlscheibe an ihrem roten Telefonapparat. Sie hat nicht die Polizei alarmiert. Sie sagt nur, dass der Zug heute pünktlich gewesen sei.

Lemberg, den 27. Mai, nachmittags

Einwegboote sind auf europäischen Flüssen seit dem späten Mittelalter bekannt. Es waren sehr einfach konstruierte Holzkähne, die allerlei Waren in nur eine Richtung, nämlich flussabwärts, transportierten. Am Bestimmungsort hat man das Boot dann zerlegt und als Nutzholz verkauft. Diese Art von Schifffahrt war auch im Donauraum verbreitet. Dort haben die Kähne die ursprünglich zum Transport verwendeten Flöße allmählich verdrängt, da für den Bau dieser einfachen Einwegboote viel weniger Holz benötigt wurde.

Von Ulm donauabwärts verkehrten die Ulmer Schachteln. Ursprünglich war es nur ein Spottname für die in Ulm gebauten schwarz-weiß gestreiften Boote, die nicht gerade durch ihre Eleganz bestachen. Heute sind sie eine doppelte Touristenattraktion – als Bild im Giebel des Ulmer Rathauses und als romantische Freizeitboote. Nur die Verwendung hat sich geändert – sie werden nicht mehr nach jeder Fahrt verheizt.

Immerhin waren die Männer und Frauen – später wurden auf Ulmer Schachteln auch deutsche Siedler ins südöstliche Europa befördert – auf diesen Flussrouten relativ sicher. Auf den Einwegschiffen, die im 19. Jahrhundert für Holztransporte von Amerika nach England gebaut wurden, ging es dagegen viel gefährlicher zu. Wegen einer vom Vereinigten Königreich erhobenen hohen Einfuhrsteuer auf Bauholz aus der Neuen Welt kam man auf die Idee, das Holz sozusagen in Schiffsgestalt zu transportieren. Eher schlampig gebaut, galten diese Schiffe als unsicher und waren nur bei gutem Wetter und mit etwas Glück seetüchtig.

Außerdem konnte unter diesen Bedingungen niemand erwarten, dass die Besatzungen zu den besten zählten. Oft waren es bunt zusammengewürfelte Trupps aus Abenteurern und Gaunern, die überdies kaum für die Überfahrt ausgebildet wurden. So gingen die Schiffe nicht selten zu Bruch. Die Todesrate unter den Seemännern war recht hoch. Es waren gewissermaßen Einwegmänner auf Einwegschiffen. Das Geschäft lohnte sich trotzdem und florierte zumindest bis 1825, als zwei große Schiffe verloren gingen.

Die russische Armee scheint nach demselben Einwegprinzip zu funktionieren. Zumindest so lange man genug Nachschub von militärischem Gerät organisieren kann und es genug Soldaten gibt, die in die Schlacht geschickt werden können. Die Ausbildung und Ausrüstung der Männer scheint dabei zweitrangig zu sein. In den abgefangenen Gesprächen fordern russische Offiziere immer wieder einen Nachschub, dabei sprechen sie von „Einwegmännern“. Mal 40 „Einwegsoldaten“ hierhin, mal fünfzig auf die andere Flanke. Vor allem werden so Rekruten der Marionettenregime im Donbass bezeichnet.

Russische Soldaten in der Region Cherson
Russische Soldaten in der Region Cherson
Quelle: AP

Früher hat man vom „Kanonenfutter” gesprochen. Dieser Ausdruck, der möglicherweise auf Shakespeare zurückgeht, wird von russischen Offizieren jedoch nicht verwendet. Vielleicht ist er in Russland inzwischen verboten, weil er von einem Autor aus einem „feindlichem“ Land stammt. Manche Politiker rufen mittlerweile dazu auf, den Englischunterricht aus den Schulen zu verbannen. Die Kinder würden dort ja fremdsprachlich indoktriniert und könnten schlimmstenfalls sogar Lust auf eine Londonreise bekommen. Also lieber doch noch fleißiger die russischen Geschichtsfantasien einpauken.

Vielleicht erfindet das russische Militär aber auch nur neue Begriffe, die zur russischen Parallelwelt passen. Es herrscht ja schließlich gar kein Krieg. In einer „Sonderoperation“ kann es nur „Einwegsoldaten“ geben, die friedlich aus Einwegflaschen trinken und von Einwegtellern essen.

Lemberg, den 25. Mai, nachmittags

Jack Detsch, der für „Foreign Policy“ über das Pentagon und die nationale Sicherheit schreibt, twitterte vorgestern, dass Dänemark nach einer von den USA geleiteten virtuellen Konferenz versprochen hat, Harpoon-Schiffsabwehrraketen an die Ukraine zu liefern. „Versprechen und liefern sind zwei verschiedene Dinge“, lautete ein Kommentar. Ein Follower aus Dänemark konterte sofort: „Wir sind Dänen, keine Deutsche.“

Ich wusste, dass der Begriff „Innerlichkeit“ eine typisch deutsche Gemütslage beschreibt. Dass Zögerlichkeit ebenfalls zum Markenzeichen der deutschen Politik gehört, war mir nicht bekannt. Zumindest war davon vor einigen Jahren beim Bau von diversen Pipelines nichts zu merken. Aber die Zeiten ändern sich. Es gibt Länder, die Waffen liefern. Und es gibt welche, die Versprechungen liefern. Inzwischen reißt man darüber nicht nur in Osteuropa Witze, sondern auch in Dänemark.

Über Hodscha Nasreddin, eine folkloristische Figur des gesamten türkisch-islamisch dominierten Raums, gibt es viele Anekdoten. Einige davon erzählt Gregor von Rezzori in seinen „Maghrebinischen Geschichten“, wo der Protagonist der humoristischen Erzählungen unter dem Namen Nassr-Ed-Din-Effendi auftaucht. Die Geschichte über den Padischah und den Esel steht nicht in dieser wunderbaren Sammlung, deswegen mag sie vielleicht in Deutschland weniger bekannt sein. Oder auch nicht. Auf jeden Fall ist sie im gesamten postsowjetischen Raum so gut bekannt, dass es mehrere Versionen davon gibt.

Die eine lautet so: Einmal erließ der Padischah ein Dekret, das Folgendes besagte: Jeder, der seinem Esel das Sprechen beibrächte, würde die Hälfte seines Vermögens erhalten und mit einem monatlichen Gehalt im Palast das Leben genießen. Wenn der Esel jedoch nicht spricht, wird der Lehrer geköpft.

Hodscha Nasreddin, erklärte sich bereit, dem Esel das Sprechen in einem Zeitraum von zwanzig Jahren beizubringen. Seine Freunde haben versucht, ihn davon abzuraten. Alle sagten ihm, dass er einen Fehler mache – der Esel wird nicht sprechen und die Geschichte würde Hodscha den Kopf kosten. Keine Sorge, antwortete Hodscha. „Es gibt nichts Ewiges – im Laufe dieser Zeit sterbe entweder ich oder der Padischah oder der Esel“.

Ein amerikanischer Marine beim Verladen eines Howitzer-Geschützes für die Ukraine.
Ein amerikanischer Marine beim Verladen eines Howitzer-Geschützes für die Ukraine.
Quelle: AFP

Hodscha hatte sich zwanzig Jahre Zeit genommen. Wenn er tatsächlich eine historische Figur war – was nicht gesichert ist –, könnte er im 13. Jahrhundert gelebt haben. Damals ging die Zeit langsam. Heute nicht mehr. Wir haben keine zwanzig Jahre. Wir haben nicht mal zwanzig Tage.

Juri Durkot wurde für seine Übersetzungen der Werke von Serhij Zhadan – gemeinsam mit Sabine Stöhr – mit dem Brücke Berlin-Preis und dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.

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