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Meinung Kulturkampf und Sprache

Was es bedeutet, dass Boris Johnson jetzt woke Sprache benutzt

Eigentlich ein Womanizer: Boris Johnson auf Schloss Elmau Eigentlich ein Womanizer: Boris Johnson auf Schloss Elmau
Eigentlich ein Womanizer: Boris Johnson auf Schloss Elmau
Quelle: Getty Images
Wäre Putin eine Frau, hätte er diesen Krieg nicht angefangen, spekuliert Boris Johnson in einem Interview. Ist der Bad-Boy aus der Downing Street jetzt im politisch korrekte Lager? Nein, aber Johnsons Spekulation sagt viel über die Sprache unserer Kulturkämpfe aus. Und darüber, was sie verdeckt.

Man stelle sich einmal vor, der FDP-Parteivorsitzenden Christian Lindner würde das liberale Urgestein Gerhart Baum vor versammelter Mannschaft mit „Okay Boomer!“ abkanzeln, weil ihm dessen Meinung zum finanzpolitischen Kurs der Bundesregierung gegen den Strich ginge. Oder die Grüne Marieluise Beck würden den Philosophen Jürgen Habermas als „alten weißen Mann“ bezeichnen, um damit dessen Haltung zum Ukraine-Krieg zu diskreditieren; worauf der 93-Jährige dann kontern würde, das sei Cancel Culture par excellence, außerdem Ageism, also Altersdiskriminierung. Undenkbar?

Im „heute-Journal“ wurde jetzt Boris Johnson befragt. Der britische Premier, eher als Womanizer denn als Feminist bekannt, schlug ungewohnte Töne an: „Wenn Putin eine Frau wäre, dann glaube ich nicht, dass er einen solchen verrückten Macho-Krieg vom Zaun gebrochen hätte.“ Putin sei ein tolles Beispiel „toxischer Männlichkeit“. Man fragt sich, wie Nadine Dorries auf diesen woken Sprech ihres Dienstherren reagiert. Johnsons Kultusministerin platzt bei allem, was „politisch korrekt“ ist, die Hutschnur. Aber dessen Kritik an Putin, der sich ja gern strotzend vor Testosteron oben ohne beim Angeln oder auf dem Pferderücken zeigt, bietet auch eine wichtige Einsicht: Die Vokabeln und Symbole unserer Kulturkämpfe scheinen jetzt ubiquitär einsetzbar, ungeachtet des politischen Lagers.

Diejenigen, die etwa skandalisieren, dass Minderheiten sich immer unterdrückt und diskriminiert fühlten, und das auch durch Kleinigkeiten, und diese reale oder vermeintliche Diskriminierung gar als identitätsstiftend ansähen, sind oft die Ersten, die sich unter der Schmähung „Kartoffel“ zur Opfergemeinschaft versammeln – und von Diskriminierung sprechen. Und Putin höchstselbst verglich die russische Kultur, die selbstredend auch unter den Sanktionen leidet, mit Harry-Potter-Erfinderin J. K. Rowling. Die wird für ihre Ansichten zur Transsexualität mit Bannflüchen belegt. Dass einer, der selbst homophobe Politik betreibt, seinem Nachbarland zudem Kultur und Souveränität abspricht, sich als Cancel-Opfer sieht, wäre lustig – wäre das nicht alles so traurig.

Denn Kulturkampfphrasen und -symbolik verschleiern die Realität. So wie sich an der Lage sexueller Minderheiten in Ungarn nichts ändert, wenn Münchner Stadien bunt leuchten, so verdeckt die Betonung von Putins Männlichkeitskult, dass für dessen Kriegslust ja erst eine Situation geschaffen werden musste, in der noch während des völkerrechtswidrigen Feldzugs stetig Geld aus dem Westen in die russische Kriegskasse fließt.

Kontext für Johnsons Äußerung war die vernünftige Forderung nach Nahrungssicherheit und zwölf Jahren Schule weltweit – auch für Mädchen. Bitter: Immer mehr Briten lassen jetzt Mahlzeiten aus, um über die Runden zu kommen. Anzunehmen, dass gute Bildung auch für Mädchen daran etwas änderte, ist so blauäugig, wie zu glauben, dass der Investment-Riese Blackrock zur Prosperität von Putins „gelenkter Demokratie“ mit weniger Milliardeninvestitionen beigetragen hätte, wenn mehr Frauen dort im Vorstand säßen. Schließlich hatten wir 2014 eine Kanzlerin – und lange hieß eine treibende politische Kraft hinter Nord Stream 2 nicht Manuel, sondern Manuela mit Vornamen.

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