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  3. Dichter und Pfarrer Christian Lehnert: „Jeder Quadratmeter Boden hier ist ein Hauen und Stechen“

Kultur Dichter Christian Lehnert

„Schreiben gehört zu den vorletzten Dingen“

Literarischer Korrespondent
Von den Energien des Religiösen: Christian Lehnert, geboren 1969 in Dresden, lehnt sich an einen Baumstamm Von den Energien des Religiösen: Christian Lehnert, geboren 1969 in Dresden, lehnt sich an einen Baumstamm
Von den Energien des Religiösen: Christian Lehnert
Quelle: Marlene Gawrisch/WELT
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Christian Lehnert ist Pfarrer, Theologe und Dichter. Sein neues Buch handelt vom Rückzug in die Natur und von der Apokalypse des Johannes. Nun fragt er sich, ob Schweigen nicht konsequenter wäre. Ein vorösterlicher Besuch im Erzgebirge.

Durch das Haus fließt ein Bach, besser: ein Bächlein, ein Rinnsal. Im Keller, einst direkt auf erzgebirgischen Fels gebaut, ist so fließendes Wasser inklusive. Der Keller war lebenswichtig, funktional wie alles in diesem alten Bauernhaus kurz vor der tschechischen Grenze: Durch die Wärme aus der Erde wurde es hier unten nie kälter als fünf oder sechs Grad. So konnten die Bauern durch den hier oben eisigen Winter kommen, wenn der „böhmische Wind“, wie sie hier sagen, über den Kamm schneidet.

Will man den Schriftsteller Christian Lehnert in seinem Refugium besuchen, geht es von Dresden mit dem Regionalzug durch das Müglitztal ins Gebirge, entlang des Flusses, durch Orte, die Oberschlottwitz oder Bärenhecke heißen und selbst für den Bummelzug nur „Bedarfshaltestellen“ sind. Doch das Pittoreske täuscht, während der sächsischen „Jahrhundertflut“ im Sommer 2002 versank das ganze Tal im Schlamm. Lehnert war damals junger Pfarrer in Weesenstein und erlebte als Notfallseelsorger die Katastrophe unmittelbar. „Wie kam es, dass sich auch hier Zerstörung in das Schöne mischte? … Warum waren überall Böses und Gutes, Wachstum und Elend vermengt?“, fragt Lehnert in seinem neuen Buch.

In „Das Haus und das Lamm“, einem bei Suhrkamp erschienenen theologischen Großessay, ist das Bauernhaus ein wichtiger Protagonist. Wie die berühmte cabin in Thoreaus „Walden“ ist es Symbol eines anderen Lebens – jenseits der Zivilisation und der sozialen Zwänge. Von der Bahnstation holt Lehnert den Gast mit dem Auto ab. Er erzählt mit melodischem sächsischen Zungenschlag von seinem Reich, er kennt hier jeden Stein und erst recht jeden Nachbarn. Die verstreuten Bauernhäuser heißen ganz amtlich „Walddörfchen“. Die Grenze ist ganz nah, aber auch die Autobahn Dresden–Prag, die, falls nötig, in einer halben Stunde wieder in die Urbanität trägt.

Rückzug an den Rand

Im Haus wartet die Colliehündin Cora. Vor zwölf Jahren haben sich die Lehnerts ihren Traum von den Bergen erfüllt; etwas Land drumherum gehört dazu, sogar ein Stück Wald, aus dem sich das eigene Holz für den Bollerofen schlagen lässt. Den hat Lehnert nun angefeuert, es gibt Kaffee aus dem Kocher. Die Küche ist wie das ganze Haus schlicht-pragmatisch eingerichtet, zwei Bilder befreundeter Künstler an der Wand, ein Stern-Radio aus den 70ern, ein kleiner Samowar, Trockengräser, Weidenkätzchen, ein Notenständer.

Lehnerts Frau ist Barockgeigerin und gerade auf Konzertreise; die zwei älteren Kinder studieren längst, die jüngste Tochter macht in diesem Jahr Abitur. Noch hat die Familie eine Stadtwohnung in Rötha bei Leipzig, die aber demnächst aufgegeben werden soll, ebenso wie Lehnerts Job an der Leipziger Universität. Längst hätten sich „die Lebensschwerpunkte umgepolt“. Bald soll das Haus zum einzigen Wohnsitz werden. Lehnert ist Mitte 50 – ein Neustart.

Der Erzähler des neuen Buchs ist zwar, wie schnell klar wird, keineswegs mit seinem Autor identisch. Die radikale Waldeinsamkeit ist ein literarischer Topos – ein durchaus aktueller in unseren Weltfluchtzeiten mit ihren Prepperfantasien. Doch auch wenn die tiefe Lebenskrise, die seinen Erzähler zur Lektüre der Johannes-Apokalypse des Neuen Testaments treibt, eine fiktionale Zuspitzung ist, so sind doch die existenziellen Fragen Lehnerts eigene: „Dieses Buch ist Ausdruck einer starken inneren Gärung.“ Der Rückzug an den Rand bewirke auch eine andere Wahrnehmung der Welt, von Zeit und Raum. Wenn sich ein Schriftsteller aus „der Gesellschaft“ zurückzieht, dann heißt das auch vom Literaturbetrieb, in Lehnerts Fall möglicherweise gar: von der Sprache selbst.

1997 erschien Lehnerts erster Gedichtband bei Suhrkamp; 2022 sein „opus 8“. Dazu Prosabücher, in denen Lehnert eine Mischform aus Memoir, theologischem Essay und Nature Writing entwickelt hat. In „Das Haus und das Lamm“ wechseln sich das Alltagsleben eines modernen Eremiten und Naturbeobachtungen mit Bibelauslegungen ab. Lehnerts Gewährsleute heißen Jacob Böhme oder Angelus Silesius, auch ein jüdischer Kabbalist wie Isaak Luria (1534–1572) spielt mit seiner Lehre vom „Zimzum“ eine zentrale Rolle.

Aus seiner Lektüre der Johannes-Apokalypse leitet Lehnert Überlegungen zur Geschichtsphilosophie ab, zum fatalen Missbrauch von banal zeitlich gedachten Modellen vom Weltende und dem „tausendjährigen Reich“. Gegen säkularisierte Endzeit-Vorstellungen von Thomas Müntzer über rechte wie linke Utopien bis zur heutigen Klima-Apokalypse stellt Lehnert die alte Tradition mystischen Denkens. Das Ende der Zeit ist eben selbst kein zeitliches Ereignis; es liegt nicht in einer konkreten, gar einer datierbaren Zukunft.

Theologisch leichte Kost ist das nicht. Wer es in religiösen Fragen gern fromm und eindeutig hat, ist bei Lehnert falsch, der an den Mystikern gerade die Paradoxien schätzt, wo Erfahrungen von Gottesnähe und tiefster Verzweiflung Hand in Hand gehen. Im Literaturbetrieb und auch in seiner eigenen, der evangelischen Kirche fühlt sich Lehnert inzwischen als Außenseiter. Die Pandemie, als er zu den Unterzeichnern eines Aufrufs von Wissenschaftlern gegen eine Impfpflicht gehörte, habe diese Distanz noch verstärkt.

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„Es ist mehr als ein Unbehagen. Ich habe den Eindruck, dass einen der Betrieb eher behindert, einen im Schreiben beeinflusst und normiert.“ Verbreiteten Erwartungen an „religiöse Dichtung“ will Lehnert nicht entsprechen. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass meine Bücher unheimlich polarisieren.“ Dass zum Glauben immer auch tiefer Zweifel gehört, werde heute kaum mehr verstanden. Doch die Vorstellung von Glauben und Religion als einem „festen Besitz“ ist für Lehnert selbst Ausdruck schwindender religiöser Energien in der Gesellschaft.

Lehnert erwähnt mit Hochachtung den Schriftstellerkollegen Reinhard Jirgl, der sich 2017 vollständig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat und nur noch am Nachlass arbeitet: „Bei mir kommt hinzu, dass ich unsicher bin, was eigentlich die letzten treibenden Energien sind, die mich bewegen. Spiritualität und Religion besetzen mich manchmal mehr als das Schreiben. Dann meditiere ich lieber. Dann merke ich, dass das Schreiben selbst zu den vorletzten Dingen gehört.“

Dann führt Lehnert durch das Haus, das mit seinen Balken und Wänden, Treppen und Winkeln wie ein lebendiger Organismus erscheint. Die Vorbesitzer, ein sehr alt gewordenes Ehepaar, hätten es liebevoll gepflegt, aber seit den 40er-Jahren sei nichts modernisiert worden. „Das ganze Haus ist ein reines Museum“. In der Scheune fanden sich die seltsamsten Geräte, deren Zweck oft unbekannt sei. Wie viel Arbeit die Lehnerts in den letzten Jahren hier investiert haben, kann man nur erahnen.

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Zum Mittagessen macht Lehnert eine Suppe warm, den „letzten Kürbis“ vom Vorjahr, als Einlage gibt es Tofuwürste. Lehnert, Jahrgang 1969, erzählt von seiner Prägung in der DDR. Aus Gewissensgründen entschied er sich als junger Mann gegen den Dienst an der Waffe und damit zugleich gegen die familiär vorgezeichnete Medizinerlaufbahn – beide Eltern sind Augenärzte –, die damit unmöglich geworden war.

Als Bausoldat musste er unter gesundheitsgefährdenden Bedingungen in den maroden Chemieanlagen Leuna schuften. Kurz vor Ende seines Dienstes, es war Februar 1989, schrieb der damalige Punkfan Lehnert „Keine Macht für niemand“ auf Stahlrohre, wurde bei dem „Dummejungen-Streich“ erwischt, geriet in die Mühlen der Stasi und landete sogar kurzzeitig in einer Dunkelzelle. Eine Foltererfahrung, die Lehnert heute beim knackenden Ofenholz beinahe beiläufig als Anekdote berichten kann.

Natur und Logos

In Leipzig begann er dann ein Theologiestudium, im September ’89, „da war nicht viel mit studieren“. Aus der „Notlösung“ wurde eine Berufung. Kirchlich aufgewachsen war er nicht, die Lyrik hatte den Jugendlichen auf religiöse Fragen gestoßen. Die Werke Johannes Bobrowskis waren seine poetische „Initiation“. In Lehnerts Gedichten fallen Natur und Sprache zusammen, beides Ausflüsse eines göttlichen Logos. Auch Schreiben, sagt er, sei „natürlich Weltschöpfung“, ein Sprachhandeln. In der Natur sehe man nur, was man benennen kann. „Im Gedicht geschieht das ganz elementar, aber auch in der Prosa: Wenn ich eine kleine Landschaft beschreibe, bringe ich die im Grunde genommen hervor.“

Nach dem Essen machen wir einen großen Spaziergang mit Hund, über die Wiesen, am Waldrand entlang. Er erzählt, dass er vor ein paar Jahren gemeinsam mit Nachbarn eine kleine Windkraftanlage errichten wollte, um eine autarke Energieversorgung aufzubauen. Sie seien an bürokratischen Hürden gescheitert, was ihn spürbar immer noch verbittert, wenn er nun die riesigen Räder am Horizont sich drehen sieht. Gerade hat er erfahren, dass direkt vor seiner Nase eine große Anlage zur Lithium-Aufbereitung entstehen soll – ein Schock. Landschaftsschutz scheint keine Rolle mehr zu spielen.

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Solche Widersprüche seien es, so Lehnert, die die Unzufriedenheit vieler hier schüre. Bei der letzten Kommunalwahl 2019 erreichte die AfD im Landkreis fast 30 Prozent; Oberbürgermeister der Kreisstadt Pirna wurde im Dezember der Kandidat der AfD. Lehnert kann den Frust der Leute verstehen, das Gefühl, von reichen Westlern und fernen Eliten ignoriert und übervorteilt zu werden. Ostdeutsche Stimmen seien in den Medien unterrepräsentiert. Nicht nachvollziehen kann er, dass viele in der AfD eine Lösung sehen.

Seine Natur ist kein unschuldiges Idyll, und das nicht nur, weil sie von Menschenhand bedroht wird. Überall sieht er das Zusammengehen von Schöpfung und Vernichtung, von Leben und Tod, die unentrinnbare Nahrungskette: „Jeder Quadratmeter Boden hier ist ein Hauen und Stechen. Da oben“, er zeigt in die Luft, „kreist der Milan.“

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Der Weg geht querfeldein zurück zum Haus. Hündin Cora muss man nicht sagen, wo es lang geht. Ostern ist nicht mehr fern, wir sprechen über Fasten und Verzicht. Lehnert denkt an die Askese der spätantiken Mönche: „Die Wüstenväter hatten das Gefühl, dass sie diese Ruhe, dieses Gleichmaß nur finden, wenn sie nicht im Getriebe der Dinge stehen.“ Auch ihm geht es um das Wiederfinden der eigenen Mitte, „von der sich das ganze Dasein organisiert“.

Findet man diese innere Ruhe im Schreiben, oder führt es einen nicht davon weg – diese Frage treibt Christian Lehnert um. „Wo hat man das Gefühl, dass man an seiner eigenen Sehnsucht am nächsten dran ist?“ Ein Paradox: Die von ihm so bewunderten Mystiker sind nur in ihren Schriften überliefert, und doch weiß er: „Die letzte Energie des Religiösen führt eigentlich ins Schweigen, ins Unaussprechliche.“

Christian Lehnert: „Das Haus und das Lamm. Fliegende Blätter zur Apokalypse des Johannes“. Suhrkamp Verlag, 272 Seiten, 28 Euro.

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