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Theater Barocke Gegenwart

Die Macht der Machtlosen

Freier Mitarbeiter im Feuilleton
Freiheit als Illusion: Jens Harzer in „Das Leben ein Traum“ Freiheit als Illusion: Jens Harzer in „Das Leben ein Traum“
Freiheit als Illusion: Jens Harzer in „Das Leben ein Traum“
Quelle: Armin Smailovic
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In Hamburg spielt Jens Harzer die Hauptrolle im Barockklassiker „Das Leben ein Traum“ – weit hoffnungsfroher als Sophie Rois nur wenige Tage zuvor in Berlin. Was Caldérons Welttheater über unsere Umbruchszeit zu sagen hat.

Was ist das Leben? Und was Wirklichkeit, was Traum? Es sind die großen Fragen, die Pedro Caldéron de la Barca, kurz Caldéron genannt, in seinem Dramenklassiker „Das Leben ein Traum“ verhandelt. Prinz Sigismund verbringt sein Leben in einer Einzelzelle, eingesperrt von dem eigenen Vater, aus Angst vor einem schlechten Horoskop. Als der Prinz für einen Tag freikommt, löst er durch sein ruppiges Verhalten eine Revolte aus.

Ist das Stück von Caldéron eine psychologisch eindringliche Studie des Kaspar-Hauser-Syndroms? Eine Anklage der Auswirkungen der Isolationshaft? Oder eine Kritik des Aberglaubens in der Neuzeit? Es ist viel mehr als das, eine Großmetapher: „Das Leben ein Traum“ zeigt den Menschen in seiner Existenz gefangen und geknechtet, die Freiheit ist kaum mehr als eine Illusion. Wie „The Matrix“ in der Version des spanischen Barocks.

Er glaube nicht an Schicksal, er wolle lieber die Kontrolle über sein Leben behalten, sagt Neo in „The Matrix“. Sein eigener Souverän zu sein, das ist eine moderne Idee, die dem christlichen Weltbild des Mittelalters so fremd wie der Antike gewesen wäre. Doch in „Das Leben ein Traum“ gibt es bereits den zarten Traum der Freiheit. Kann Sigismund die Prophezeiung der Sterne widerlegen und seinem eigenen Schicksal entkommen?

Wie unterschiedlich man das Sigismund-Dilemma auf die Bühne bringen kann, ist zurzeit an der Berliner Volksbühne und dem Hamburger Thalia-Theater zu sehen: In Berlin schreit Sophie Rois mit heiserer Stimme nach der Freiheit, doch am Ende sitzt sie gefangen in der atheistischen Depression vor dem Fernseher und darf sich schale Kalender- und Trinksprüche des von Silvia Rieger gespielten Vaters anhören.

Wenn Gott tot ist

Die Welt des Rois’schen Sigismund ist eine helle Scheibe, leer und illusionslos. Das schlimmste Verlies ist die Illusion der absoluten Freiheit, der Kerker des eigenen Ichs, dessen Wände man nicht mehr sieht, aber spürt. Rois verschlägt es die Sprache, ohne das Gesetz des Vaters bricht ihre symbolische Ordnung zusammen, sie verstummt. Dostojewski einmal auf den Kopf gestellt: Wenn Gott tot ist, ist nichts mehr erlaubt.

Ganz anders Jens Harzer als Sigismund in der Hamburger Inszenierung von Johan Simons: Er ist ein feinsinniger Mensch mit Brille und Buch, der sich bei seinem Ausflug in die wirkliche Welt an seiner höfischen Rolle so deutlich überhebt wie an dem übergroßen Schwert, das ihm das Rückgrat nach hinten biegt. Kein Kämpfer, aber ein verspielt Lebenshungriger, der bei seinen wilden Tanzschritten zum Jazz noch keine Balance zwischen eigenem Begehren und den Regeln der Außenwelt zu finden vermag. Eine Bewusstseinsreise von zweieinhalb Stunden mit einem großartigen Ensemble.

Als Sigismund seine Hand in den Ausschnitt von Rosaura steckt, reißt es ihm die Augen und den Mund weit auf: Er findet neben der erotischen Fleischeslust auch den Herzschlag eines anderen Menschen, ein Pendel, das seinem eigenen Leben einen Takt geben kann. Rosaura wird gespielt von Marina Galic, die sich mit einem widerspenstigen künstlichen Schnurrbart in das fremde Königreich einschleicht: die Rache suchend, jedoch die Liebe findend. Harzer und Galic sind auch abseits der Theaterbühne ein Paar.

Von erhabener Strenge, fast grausam furchteinflößend, ist der König Basilio, den Christiane von Poelnitz fantastisch spielt. Er ist der tragische Charakter des Abends: Er zieht das Unglück heran, das er meiden will. Selbst der Versuch, den eigenen Sohn nach einigen chaplinesken Eskapaden am Hof (mit literweise Farbe und Speiseeis) wieder wegzusperren, geht nach hinten los. Das Volk, ausgestattet mit der Lautsprecherstimme des Regisseurs Simons, befreit Sigismund und befördert ihn flugs wieder auf den Thron.

Es ist ein Abend auf der Suche nach dem freien Rhythmus zwischen den Menschen. Deswegen läuft im Hintergrund Jazz, obwohl Sigismund zunächst gesteht, er möge lieber Marschmusik, also den streng vorgegebenen Takt. Die Drehbühne von Johannes Schütz mit einer schwebenden Kugel in der Mitte, um die ein Spiegel kreist, lässt an astronomische Konstellationen denken, immerhin ist Caldérons Stück zu der Zeit entstanden, als Galileo Galilei die Erde aus dem Zentrum der Planetenbewegungen riss und René Descartes den Zweifel an der Außenwelt zur Philosophie erhob.

„Das Leben ein Traum“ von Pedro Calderón de la Barca unter der Regie Johan Simons am Thalia Theater
„Das Leben ein Traum“ von Pedro Calderón de la Barca unter der Regie Johan Simons am Thalia Theater
Quelle: Armin Smailovic
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Es sind die physische und die poetische Welt, die – gebrochen durch den Spiegel der Reflexion – bei Simons aufeinandertreffen. Kommt es angesichts des Unvermeidlichen, der unerbittlichen Abfolge von Ursache und Wirkung, der Vergänglichkeit alles Seienden und der Flüchtigkeit des Gefühls, nicht auf die Illusionen an, die wir uns machen? Es ist die hoffnungsfrohe Botschaft eines Abends, der sich von der tiefsten Dunkelheit am Beginn immer mehr aufhellt, bis zu dem arkadischen, ja traumhaften Schlussbild.

Während Rois in Berlin am Ende im Gefängnis ihrer Zwangsindividualität landet, gelingt Harzer in Hamburg der Ausbruch aus dem Kerker der Ich-Bezüglichkeit. Er entdeckt das Reale der Illusion, das ihm tatsächlich einen Moment der Freiheit im Unfreien gewährt. Das geht nur durch das suchende Geöffnetsein für den Takt oder Herzschlag des Anderen: eine Macht der Machtlosigkeit, wie es sie in der Liebe und der Kunst gibt.

Einen dritten Weg für Sigismund jenseits von atheistischer Depression und nihilistischer Hoffnung hatte Tilmann Köhler bereits im vergangenen Jahr am Staatsschauspiel Dresden als politische Parabel skizziert: Matthias Reichwald als grober und zorniger Ausgesperrter errichtet aus dem Geist der Revolte eine Tyrannei. Der Verlust der Illusion wird hier zur rückhaltlosen Bejahung des brutalen Gesetzes der Wirklichkeit.

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Entstanden in einer Zeit des großen Umbruchs, fragt „Das Leben ein Traum“ nach dem, was nach dem Ende der Illusionen kommt. Ist es die in sich gekehrte Trauer, die das Gesetz des Vaters zwar verwirft, aber nicht überwinden kann? Der hysterische Zorn, der es noch zu überbieten sucht? Oder das suchende Spiel nach dem Lebbaren ohne höheres Gesetz, im Wissen um die Vorläufigkeit der Illusionen? Das große Welttheater des Caldéron hält auch für unsere Umbruchszeit die richtigen Fragen bereit.

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