Direkt neben der Glashalle der Leipziger Messe liegen die Hallen der parallel stattfindenden Manga-Comic-Con. Die Massen der Cosplayer, die nicht nur den ÖPNV, sondern auch die übrigen Messehallen bevölkern, sind ein fester Topos von Buchmessen-Reportagen. So passte schon ziemlich gut zusammen, dass der Preis der Leipziger Buchmesse für Belletristik an Barbi Markovićs Comicroman „Minihorror“ ging – ein Buch, das nur wenige Experten vorher auf dem Zettel hatten.
Comic-Roman heißt in diesem Fall nicht Bildergeschichte, sondern meint das virtuose Spiel mit den Erzählkonventionen des klassischen Comics und Zeichentrickgeschichten: Tom kann von Jerry noch so oft in die Luft gesprengt, von Abhängen gestürzt oder durch die Küchenmaschine geschnipselt werden, in der nächsten Story ist er wieder ganz der Alte.
Mini und Miki heißt das gar nicht so mäusehafte Pärchen, das die 1980 in Belgrad geborene und Wien lebende Erzählerin durch ein immer wieder tödliches Abenteuer namens Alltag jagt. Schwarzhumorige Popliteratur der anderen Art, näher dran am grellen Zeichenspiel der Pop Art als vieles, was literarisch seit 25 Jahren unter diesem Label läuft. Der Literaturwissenschaftler und Pop-Literatur-Experte Moritz Baßler begründete das so: Barbi Marković „erzählt hinreißend komisch und bitterernst von unserer Gegenwart: hinten die Kriegsverbrechen, vorne der Klimawandel, dazwischen die Banalität unseres tagtäglichen Lebens“.
Ironische Meta-Kritik der Oberflächlichkeit lieferte Marković auch in ihrer als Anti-Rede getarnten Rede, die im Stil ihres Romans gegen alle Konventionen verstieß: „Mini bekommt den Preis der Leipziger Buchmesse und sie muss eine Rede halten. … Eine Rede, die alle Probleme der Gegenwart lösen wird. Mini liest vor und die Welt bleibt gleich; das Publikum wendet sich von ihr ab. … Minis Rede ist ein schreckliches Debakel und sie wird sofort aus der Literatur rausgeworfen. Mini muss den Preis zurückzahlen. … Sie muss nach der Messe aufräumen.“
Schon die Nominierungen der diesjährigen Jury unter dem Vorsitz der Kritikerin Insa Wilke hatten überrascht: So war in der Belletristik erstmals eine Graphic Novel nominiert, Anke Feuchtenbergers geniales Werk „Genossin Kuckuck“, die eindringliche Geschichte eines Aufwachsens in der DDR. Und beim Sachbuch hatte man eine umfangreiche Sammlung von „Jahrhunderstimmen 1945–2000“, also ein gewaltiges Hörbuchprojekt auf die Shortlist gesetzt.
Damit war das in Leipzig durch seine weiten Kategorien ohnehin schon immer besonders virulente Problem, Äpfel mit Birnen vergleichen zu müssen, noch potenziert (in Frankfurt gehen schließlich immer nur Romane ins Buchpreis-Rennen). Eine Graphic-Novel-Künstlerin von diesem internationalen Rang wie Feuchtenberger dann nicht auch auszuzeichnen, ist immer irgendwie schräg, so frech-innovativ Marković auch ist.
Im Sachbuch wiederum hat man sich ebenfalls für eine absolut ungewöhnliche Mischform aus Essay, Kunstprojekt, mentalitäthistorischer Archivarbeit und Theorie entschieden: Tom Holerts „ca. 1972 Gewalt - Umwelt - Identität - Methode“ (Spector Books“) wurde konventionelleren Sachbüchern über Demokratiegeschichte oder den Dilemmata globaler Klimapolitik vorgezogen.
Selbst bei den Übersetzungen gewann mit der aus dem Koreanischen übersetzenden Ki-Hyang Lee eine Außenseiterin, die – ebenso wie Holert – so überrascht war, dass sie gar keine Rede vorbereitet hatte und lange vor emotionaler Überwältigung gar kein Wort herausbrachte. Sie bekam den Preis für ihre Übertragung der Geschichten von Bora Chung: „Der Fluch des Hasen“.
Der Preis ist seiner Linie der letzten Jahre treu geblieben, im Zweifel auf das Übersehene, das (scheinbar) Entlegene, auch das Schwierige und Schwerverkäufliche zu setzen, auch wenn Marković sicher das Potenzial hat, ihre Fangemeinde deutlich zu vergrößern. Das hat seinen Charme, allerdings wird der Abstand zu Frankfurt immer größer, gerade was die Wirkung des Preises auf den Buchmarkt angeht.
Das letzte Mal, als ein Buch mit Bestsellerpotenzial hier gewann, war 2020 unter pandemischen Ausnahmebedingungen Lutz Seilers Nachwenderoman „Stern 111“. Der Preis zeige mit seiner Auswahl, wie vielfältig die Erzählformen sind, im Belletristischen wie im Sachbuch, das bekräftigte Insa Wilke zu Beginn noch einmal. Daran hatte man aber auch schon vorher keinen Zweifel.