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  4. Leipziger Buchmesse: Kanzler Scholz wird gestört, Philosoph Omri Boehm ausgezeichnet

Literatur Leipziger Buchmesse

Und dann kommt eine wohlfeile Mitmachaktion für alle

Redakteur im Feuilleton
„Uns alle hier in Leipzig führt die Macht des Wortes zusammen – nicht des Geschreis“

Die Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse ist mehrfach von Demonstranten unterbrochen worden – offenbar aus Protest gegen Waffenlieferungen an Israel.

Quelle: WELT TV

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Die Leipziger Buchmesse möchte politische Botschaften setzen, doch sie wurde schon am Eröffnungsabend von Aktivisten gestört. Der Gaza-Konflikt platzte in den Festakt hinein, in dem es um Identitätspolitik und ihre Überwindung ging.

„Lasst sie doch demonstrieren“, murmelt eine Frau in der Schlange vor dem Einlass zur feierlichen Eröffnung der Leipziger Buchmesse. „Wir können nicht drinnen wieder die Freiheit des Wortes predigen und draußen nervös werden.“ Polizeiaufgebot vor dem Leipziger Gewandhaus nähert sich vier, fünf versprengt demonstrierenden Personen, mutmaßlich Studenten. Sie haben gegen die gleich beginnende Veranstaltung unter Beteiligung des deutschen Bundeskanzlers Stellung bezogen. Ein kurz sichtbares Plakat behauptet, bezogen auf den Krieg im Gaza-Streifen: „Israel und Deutschland begehen Völkermord“. Ein paar Aktivisten dieser Szene müssen es dann auch unter die geladenen Festgäste geschafft haben. Denn Aktivisten stören die Rede des Bundeskanzlers Olaf Kanzlers Scholz beim Festakt zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse.

Der deutsche Regierungschef, der mit den Repräsentanten der diesjährigen Gastlandregion, dem scheidenden Ministerpräsidenten der Niederlande, Mark Rutte, und dem Ministerpräsidenten der belgischen Region Flandern, Jan Jambon, im Leipziger Gewandhaus zugegen ist, wurde phasenweise niedergebrüllt. Was die Zwischenrufer von sich gaben, war für die meisten im Saal kaum zu verstehen, laut näher platzierten Augen- und Ohrenzeugen war von „Blood on your hands“ die Rede. Der Kanzler versuchte zunächst im Redemanuskript fortzufahren, als das nicht möglich war, sagte er mit Blick auf die Situation: „Uns führt hier in Leipzig die Macht des Wortes zusammen – nicht die des Geschreis“. Nachdem Sicherheitskräfte mehrere einzelne, im Saal verteilten Aktivisten abgeführt hatten, konnte der deutsche Regierungschef seine Rede nach wenigen Minuten ungestört fortsetzen.

„Uns alle hier in Leipzig führt die Macht des Wortes zusammen – nicht des Geschreis“

Die Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse ist mehrfach von Demonstranten unterbrochen worden – offenbar aus Protest gegen Waffenlieferungen an Israel.

Quelle: WELT TV

Schon im Vorfeld war erwartet worden, dass es nach der Berlinale auch beim nächsten deutschen Kulturgroßereignis Demonstrationen oder Eklats rund um den Konflikt in Nahost geben könnte, und prompt kam es so. Es gab in Leipzig aber keinen Skandal mit einer irrlichternden Rede auf offener Bühne wie mit Slavoj Zizek bei der vergangenen Frankfurter Buchmesse, es gab auch keine Personen im offiziellen Programm, die bei Dankesworten Genozid-Vorwürfe gegenüber Israel formuliert und dafür vom Saalpublikum Applaus bekommen hätten wie bei der Berlinale. Das alles gab es nicht. Aber es zeigte sich einmal mehr, dass zwischen den hehren Ansprüchen einer Kulturveranstaltung samt ihren gewollten Botschaften (dazu unten mehr) und den ungewollten Ereignissen eine riesige Kluft besteht.

Auszeichnung für Philosoph Omri Boehm

Der israelische Philosoph Omri Boehm, der an diesem Abend den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung für sein Buch „Radikaler Universalismus“ entgegennahm, ging vor seiner eigentlichen Dankesrede kurz auf den Zwischenfall während der Scholz-Rede ein. Er sagte, die Störer hätten einen schweren Fehler begangen, indem sie freie Rede verunmöglichen wollten. Der Vorfall zeige jedoch auch, dass man Störer zwar aus dem Saal entfernen könne, ihr Anliegen jedoch nicht aus der Welt schaffen könne. Damit zielte Boehm auf den Kern seiner vorbereiteten, auf Deutsch vorgelesenen Dankesrede, die von zwei Facetten der Aufklärung handelte. „Für Kant ist Aufklärung die Freiheit, selbst zu denken. Für Lessing ist sie die Menschlichkeit, die sich in der Freiheit zur Freundschaft ausdrückt.“

Es gebe in dunklen Zeiten die Tendenz, so Boehm, die Wahrheit der Freundschaft zu opfern. Mit Blick auf die Ereignisse vom 7. Oktober 2023 sagte Böhm, dass sich die palästinensische und die israelische Seite in ihren Doktrinen vom „bewaffneten Widerstand“ und dem Recht auf „Selbstverteidigung“ eingerichtet hätten. In beiden Positionen werde Öffentlichkeit im Sinne von Aufklärung verdunkelt. Mit Blick auf das deutsche Publikum und indirekt auch mit Blick auf die Staatsräson der bedingungslosen Solidarität mit Israel sagte Boehm: „Es kann keine deutsch-jüdische Freundschaft geben, wenn sie in diesen dunklen Zeiten keinen Platz für die schwierigen Wahrheiten hat, die im Namen der jüdisch-palästinensischen Freundschaft ausgesprochen werden müssen. Nicht wegen der Freundschaft muss die Wahrheit beiseitegeschoben werden, sondern im Gegenteil, harte Wahrheiten müssen in den Vordergrund gestellt werden, denn wir sollen Freunde bleiben.“

Boehms Rede stand ganz im Zeichen seiner Utopie des radikalen Universalismus, die sich vom Philosophen Kant ableitet. Boehm möchte jede Form von Identitätspolitik, letztlich auch die jüdische, die einen jüdischen Staat begründet hat – zumal nach dem Holocaust, als sicheren Ort für Juden auf der Welt – überwinden.

Laudatio und Mitmachaktionen

Zuvor hatte die israelisch-französische Soziologin Eva Illouz in einer klugen, aber auch etwas akademisch-abstrakten Laudatio Boehm mit Spinoza und Derrida gewürdigt. Sie lobte Boehm für seine Idee einer Überwindung der zu Spaltungen führenden Identitätspolitik und für seine in diversen Büchern gedachte „Vision“ eines überethnischen gemeinsamen Staates von Israelis und Palästinensern. Dass diese schöne Vision nichts anderes als eine Utopie bleibt, solange die aktuelle Form von palästinensischer Politik Hamas-Terror ist, der auf die Vernichtung des Staates Israel abzielt, blieb an diesem Abend unerwähnt.

Stattdessen wurde das Saalpublikum im Leipziger Gewandhaus schon vor Beginn des offiziellen Festakts vonseiten der neuen Buchmesse-Chefin und des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels aufgefordert, sich mit Blick auf die Europawahl und die ostdeutschen Landtagswahlen in diesem Jahr an einer kindisch-kirchentagsmäßigen Mitmach-Aktion zu beteiligen. Kleine Plakate mit dem Slogan „Demokratie wählen: jetzt“ sollten von jedem Sitz hoch und die Kameras gehalten werden, damit sich die Wucht eines ganzen Saals in Fernsehbilder übersetzt. Wieder mal ein Zeichen, mit dem man sich selbst auf die Schulter klopft.

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Mit Mündigkeit im Sinne von Kant hatte dieses Kollektivkommando nichts zu tun, eher dürfte sich mancher Leipziger, der noch als DDR-Bürger sozialisiert wurde, an Jubelperser-Choreografien der SED- oder FDGB-Propagandaapparate erinnert gefühlt haben. Die Aktion erinnerte auch an das Jahr 2016, als es schon einmal eine wohlfeile Plakathochhalteaktion gab, mit der die Branche politische Relevanz simuliert hat – damals mit dem Slogan „Für das Wort und die Freiheit“. Da haben die Brüller und Störer, so sehr man sie für ihre politische Verblendung verurteilt, in der aktivistischen Geste authentischer demonstriert.

So fiel der Abend insgesamt ziemlich auseinander zwischen stumpfen Aktivisten-Zwischenrufen hier und salbungsvollen Eröffnungsreden dort, zwischen hohlen Branchenbotschaften einerseits und utopisch-vergeistigter Gedankenartistik andererseits. Nun wäre eine Buchmesse der letzte Ort, wo man nicht auch Utopien haben dürfte. Dass Lessings Ringparabel in „Nathan der Weise“ den Menschen als Toleranzwesen besser denkt, als er realiter ist, haben wir allerdings schon im Deutschunterricht gelernt.

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