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Kultur René Pollesch (†61)

Ein Kind von Marx und Coca-Cola

Freier Mitarbeiter im Feuilleton
„Geht es Dir gut?“ René Pollesch, 1962–2024 „Geht es Dir gut?“ René Pollesch, 1962–2024
„Geht es Dir gut?“ René Pollesch, 1962–2024
Quelle: dpa/Britta Pedersen
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René Pollesch war der Brecht unserer Zeit: Er erfand die Dramatik in Deutschland neu – und machte die Berliner Volksbühne zum Boulevardtheater für Intellektuelle. Sein plötzlicher Tod ist ein Schock. Ein Nachruf.

Nur knapp zwei Wochen ist es her, dass René Pollesch im tosenden Applaus auf der Bühne stand, wie üblich in Jeans, Lederjacke und mit Schirmmütze. Es war die Premiere von „ja nichts ist ok“, das neueste Gemeinschaftswerk von Pollesch und Fabian Hinrichs. Wieder einmal machten die beiden Ausnahmekünstler aus alltäglichen Beobachtungen – vom WG-Leben mit KI-Kühlschrank bis zum Gespräch unter Freunden über Arztbesuche und Blutvergiftungen – eine tiefgreifende Gegenwartsdiagnose: ein witziger, ein melancholischer, ein kluger, einfach ein überragender Abend.

Doch es ist leider sein letztes Stück: René Pollesch ist am 26. Februar überraschend im Alter von 61 Jahren gestorben, es ist auch ein großer Schock für sein Theater – die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. 2021 übernahm der Autor und Regisseur die Leitung des Hauses, das große Intendanten wie Benno Besson und Frank Castorf erlebt hat. Nach dem Desaster mit Chris Dercon sollte Pollesch wieder für neuen Glanz sorgen, er brachte alte Veteranen der Volksbühne wie Martin Wuttke, Sophie Rois und Kathrin Angerer mit zurück. Pollesch kannte das Haus seit vielen Jahren, es ist untrennbar mit seiner Arbeit verbunden.

20 Jahre, bevor er die Intendanz der Volksbühne angetreten hat, wurde Pollesch unter Castorf der künstlerische Leiter der legendären Nebenspielstätte Prater im Prenzlauer Berg, wo auch Christoph Schlingensief und später Vegard Vinge mit ihren Extremperformances wirkten. An Polleschs Seite war der Bühnenbildner Bert Neumann, der neue Ideen für den Theaterraum hatte, als Wohnbühne zum Beispiel. Die „Prater-Trilogie“ wurde 2002 zum Theatertreffen eingeladen, Pollesch erhält den Mülheimer Dramatikpreis. Das war sein Durchbruch, fortan kam niemand mehr an ihm vorbei.

Man kann den Einfluss von Pollesch auf das deutschsprachige Theater im 21. Jahrhundert kaum zu gering einschätzen: In virtuosen Textschlaufen hat er das geistige Leben moderner Menschen auf die Bühne gebracht, als Mix aus Alltag, Theorie, Film und vielem mehr. Denken, reden und rauchen, mehr brauchte es oft nicht – und doch schloss er damit neue Welten auf. Von Godard über Richard Sennett und Robert Pfaller bis Twitter, all das zeigte Pollesch als selbstverständliches Interieur der Gegenwart, während anderswo noch verstaubte Klassiker mit Schwertkämpfen aufgeführt wurden.

Ein Kind von Marx und Coca Cola

Mit seinem Studium der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen atmete der 1962 im hessischen Friedberg geborene Pollesch den Geist des postdramatischen Theaters ein, er lernte bei den durch Erfahrung und Theorie gesättigten Groß- und Vordenkern Andrzej Wirth und Hans-Thies Lehmann. Was Pollesch unter postdramatisch verstand, bezeichnete er einmal als „eine Brecht-Dramatik ohne Brecht“: ein gesellschaftlich waches und kritisches Theater für die Epoche der Postmoderne. Ein Sichtbarmachen von sozialen Vorgängen und ein Auslösen von Denkprozessen, mit viel Ironie.

Pollesch war ein Kind von Marx und Coca-Cola. Allein die Titel seiner Abende zeugen von dem gewitzten Aufeinanderprallen von Populärkultur und kritischer Theorie: „Liebe ist kälter als das Kapital“, „Solidarität ist Selbstmord“ „Die Welt zu Gast bei reichen Eltern“, „Schändet eure neoliberalen Biografien!“, „Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang!“, „Schmeiß dein Ego weg!“ oder „Du hast mir die Pfanne versaut, du Spiegelei des Terrors“. Solche Titelwitze verstand Pollesch als Auftrag, die Pointe war sein treuer Begleiter. Und aus jedem Abend konnte man welche mitnehmen.

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In seinem Frühwerk erkundete Pollesch mit „Heidi Hoh“ die prekären Arbeitswelten, die er aus eigener Erfahrung von seiner Zeit zwischen Studium und den ersten Arbeiten an der Volksbühne nur zu gut kannte. Das Stahlbad der Selbstverwirklichung war immer wieder Thema in seinen Theaterstücken. Unvergesslich ist „Kill Your Darlings! Streets of Berladelphia“, in dem Hinrichs als verkörperte Sehnsucht mit einem Wagen wie bei Mutter Courage durch den Bühnenraum tanzt und taumelt, zuletzt im Tintenfischkostüm zwischen einem Chor von Sportlern. Es ist ein Abend, der gerade in seiner Verweigerung jeder schwelgerischen Schönheit zu ungeahnter Schönheit gelangt.

Pollesch lebte immer von seiner „Arbeitspraxis“, wie er es nannte: von seinen Bühnenbildern wie Bert Neumann oder Anna Viebrock – und von seinen Schauspielern wie Fabian Hinrichs, Sophie Rois, Martin Wuttke, Lilith Stangenberg, Kathrin Angerer, Franz Beil, Milan Peschel und vielen anderen. Mit „Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt“ eroberten der nach Selbstauskunft „absolute Antiromantiker“ Pollesch und Hinrichs gar den Berliner Friedrichstadtpalast, ohne Angst vor aufgeklärtem Kitsch. Mehr Boulevardtheater für Intellektuelle ging kaum.

Als Intendant nicht immer glücklich, als Künstler herausragend

Unvergesslich sind auch die fantastischen Abende mit Sophie Rois, wie „Cry Baby“ und „Liebe, einfach außerirdisch“, die allerdings am Deutschen Theater Berlin auf die Bühne kamen, weil Pollesch vor Dercon flüchtete. Der fehlbesetzte Kurzzeitintendant hatte ihm zwar eine Zusammenarbeit angeboten, doch Pollesch suchte lieber Kontakt zu den politischen Kreisen außerhalb des Theaters, die später spektakulär die Volksbühne besetzten. Eine oppositionell verschworene Szene lag ihm, trotz späterer Entfremdungserscheinungen, näher als die große Kunstwelt; das war der Volksbühnengeist.

Als Intendant hat Pollesch an dem Haus, an dem er groß wurde, nicht immer glücklich agiert, es war wohl nicht seine perfekte Rolle. Doch als Künstler gelang ihm immer wieder Herausragendes wie „Geht es dir gut?“ und zuletzt „ja nichts ist ok“, die beide weiter auf dem Spielplan der Volksbühne stehen. Das Theater nach Pollesch ist ein anderes als das vor ihm, er hat einen neuen Stil der Gegenwartsverhandlung auf der Bühne geprägt, der durch zahlreiche Arbeiten von Hamburg über Stuttgart bis Zürich überall bekannt geworden ist. Der Verlust ist riesig. Dass René Pollesch nicht mehr lebt, ist wirklich gar nicht ok.

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