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Theater Lina Beckmann

Deutschlands geheimer Superstar

Freier Mitarbeiter im Feuilleton
„Ich weine schnell“: Lina Beckmann „Ich weine schnell“: Lina Beckmann
„Ich weine schnell“: Lina Beckmann
Quelle: Marlene Gawrisch/WELT
Lina Beckmann wurde fünfmal zum Theatertreffen eingeladen. Sie spielt am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg einem sensationellen Antikenmarathon und als Kommissarin im Rostocker „Polizeiruf“. Und dann wäre da noch ihre Familie auf dem Weg zur Dynastie.

Die Kantine ist das Herz eines Theaters. Hier wird geredet, gegessen und gefeiert. Alles kommt zusammen und alles fließt, nicht selten vor allem Alkohol. Hinter dem funkelnden Kronleuchter, der sein Licht auf die moosgrünen Wände wirft, stehen die Plattenspieler für die nächste Premierenfeier.

Ein paar Leute sitzen verteilt an den Tischen. „Die Kantine ist ein absoluter Lieblingsort von mir“, sagt Lina Beckmann. Die Schauspielerin trinkt Wasser, sie hat später noch eine Vorstellung. „Das ist wie die Küche zu Hause, ich bin ja fast jeden Tag hier. Und ich treffe immer Leute, einsam fühle ich mich nie.“

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Tatsächlich kann man sich die aufgeschlossene Beckmann nicht als einen einsamen Menschen vorstellen. Am Tresen trifft sie auf einen Kollegen. Kristof Van Boven wird heute mit ihr in „Prolog / Dionysos“ auf der Bühne stehen, dem ersten Teil des großen „Anthropolis“-Projekts.

Das Bühnenpferd ist unpässlich

Van Boven spielt ihren Sohn, den unglücklichen Pentheus, den Beckmann als rasende Agaue mit den eigenen Händen umbringt. Doch es gibt schlechte Neuigkeiten, einen ungewöhnlichen Krankheitsfall. Das Bühnenpferd, auf dem der König von Theben hereinreitet, ist unpässlich. Heute muss Pentheus zu Fuß auftreten.

„Prolog / Dionysos“ ist ein perfekter Einstieg, um das Können der Schauspielerin mit den blonden Haaren, dem stechenden Blick und den tausend Gesichtern zu bewundern. Beckmann zeigt uns die weinende und lachende Maske, die seit der Antike das Theater symbolisieren.

Mit einer dionysischen Weinprobe, die wie eine wilde Kantinenfeier völlig aus dem Ruder läuft, bringt sie knapp 1200 Zuschauer so sehr zum Lachen, dass jede hanseatische Zurückhaltung verfliegt. Und als Agaue langsam ahnt, dass sie ihren Sohn in auf Plastikeimer verteilte Fleischklumpen verwandelt hat, schießen einem Tränen in die Augen.

„Theater ist interessant, weil es brutale Themen mit poetischen Mitteln auf die Bühne bringen kann“, sagt Beckmann. „Das ist anders als im Film.“ Von der Kantine laufen wir zur Bühne, auf der Rindenmulch verteilt wird, der einen schweren und holzigen Geruch verströmt.

Das ist der Grund, in dem nachher die Zähne des von Kadmos getöteten Drachen ausgesät werden, woraus Krieger sprießen. Es ist der dunkle Gründungsmythos der Stadt Theben, den die Intendantin und Regisseurin Karin Beier mit „Anthropolis“ aufgreift.

Die Kuh ist nicht echt

Für ein Foto setzt sich Beckmann auf die im Rindenmulch liegende Kuh. Anders als das heute kranke Pferd ist die Kuh jedoch nicht echt, sondern eine fast lebensgroße Puppe, die im ersten Teil „Prolog / Dionysos“ noch Fleisch auf den Rippen hat, aber bei „Antigone“ im fünften und letzten Teil zum Gerippe zusammengefallen ist.

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Ein einfaches und wirkungsvolles Mittel, um das unerbittliche Vergehen der Zeit und den Aufstieg und Fall der Stadt Theben zu zeigen. „Es ist ein Kosmos, den wir mit ‚Anthropolis‘ aufbauen, da kriege ich wirklich Gänsehaut“, sagt Beckmann über den Antikenmarathon.

Gleich fünfmal zum Theatertreffen eingeladen: Lina Beckmann im Schauspielhaus Hamburg
Lina Beckmann im Schauspielhaus Hamburg
Quelle: arlene Gawrisch/WELT

Wer Beckmann auf dem Höhepunkt ihrer Kunst erleben will, muss allerdings „Laios“ sehen, den zweiten Teil von „Anthropolis“. Während alle anderen Teile auf überlieferten antiken Dramen wie „Die Bakchen“, „Ödipus“, „Sieben gegen Theben“ und „Antigone“ beruhen, hat der Dramatiker Roland Schimmelpfennig über den Vater von Ödipus ein völlig neues Stück geschrieben.

Der Text ist eine Sensation: Leichtfüßig verbindet Schimmelpfennig die antike Tragödie mit der Jetztzeit, Orakelsprüche treffen auf WhatsApp. Und durch verschiedene Variationen legt er die Vielstimmigkeit des Mythos frei. War es so oder doch anders?

Kebab in Theben

Sensationell ist auch, was Beckmann mit „Laios“ macht. Denn sie steht über 90 Minuten ganz allein auf der Bühne, mit ihrer rauen Stimme und ihrem Körper lässt sie eine ganze Welt entstehen. Sie ist der Chor der Bürger Thebens, die nach dem Dionysos-Desaster nun endlich Vernunft und Ruhe walten lassen wollen.

Sie ist Laios, der als Kind in den Wäldern ausgesetzt wurde, nachdem man den Ziehvater vor seinen Augen zerhackt hatte. Der im Exil aufwuchs und auf einer Kutsche mit seinem Geliebten in die Heimatstadt Theben zurückkehrt. Später rast Laios mit Iokaste, seiner Königin, auf einem Motorroller durch das nächtliche Theben, sie essen Kebab bei einem Schnellimbiss, wo neben dem Geldspielautomaten eine Alte hockt, die irgendetwas Irres erzählt von einem Sohn, der den Vater töten und die Mutter schwängern wird.

Die beiden lachen, vögeln auf dem Klo, zünden die Alte an. Sie zeigen dem Schicksal den Vogel. All das – und noch mehr – spielt Beckmann überragend. Sie wirbelt umher, verwandelt den Text in Bedeutung, haucht der Geschichte Atem ein. Ein Ereignis.

„Es ist der Text von Ronald Schimmelpfennig, auf dem ich an dem Abend tanzen darf“, sagt Beckmann. „Da ist mir schon beim ersten Lesen sehr viel dazu eingefallen.“ Und doch ist es jeden Abend aufs Neue ein Kraftakt, bei dem sie alles aus sich selbst herausholt. „Es fühlt sich ziemlich einsam an, allein auf der Bühne zu stehen“, gesteht Beckmann.

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„Ich liebe es, mit Kollegen zu spielen und als Gruppe eine Geschichte zu erzählen.“ Für ihr überragendes Solo wurde Beckmann nun zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Und weil es „Anthropolis“ nicht in die endgültige Auswahl schaffte, muss Beckmann ohne die Kollegen fahren.

Große Fragen in der Kantine

Beckmann zeigt uns ihre Garderobe, in der sie sich auf ihre Auftritte vorbereitet: ein Spiegel, ein Stuhl, eine Couch, rote Tapete. Was ist das Geheimnis ihrer Schauspielkunst? Vor allem Arbeit, so klingt es. „Als Schauspielerin mache ich nichts mit halber Kraft“, sagt Beckmann. „Ich will dem Stoff gerecht werden, mir die Zeit nehmen, um mich da reinzuarbeiten und die Tiefe zu finden.“

Schaut man in den Spielplan des Hamburger Schauspielhauses, versteht man, warum Beckmann fast jeden Tag in der Kantine ist. Sie ist zurzeit nicht nur in „Prolog / Dionysos“ und mit „Laios“ zu sehen, sie spielt auch in der hochgelobten Inszenierung „Richard the Kid & the King“ von Karin Henkel die Hauptrolle, mit viereinhalb Stunden Länge kein Leichtgewicht.

Und außerdem noch „Die Präsidentinnen“, „Der lange Schlaf“, „Die Nibelungen – allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie“ und „Das Schloss“. Neben den zahlreichen Vorstellungen steckt Beckmann mitten in den Proben für eine weitere Inszenierung. In „Die gläserne Stadt“ geht es um Politik und Korruption.

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Nun ist Zeit für die großen Fragen in der Kantine: Nicht, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, aber ob es ein Leben außerhalb des Theaters gibt. Doch, gibt es. „Zum Ausgleich gehe ich gerne mit dem Hund raus. Aber manchmal hilft einfach auch schlafen, haben Sie davon schon einmal gehört?“ Beckmann lacht. Sie lebt gerne in Hamburg, mit ihrem Mann Charly Hübner, der auch Schauspieler ist und den sie kürzlich im Rostocker „Polizeiruf 110“ beerbt hat.

Fast eine Dynastie

Beckmann hat vier Geschwister, drei davon sind auch Schauspieler geworden (ein Bruder hat den Beruf jedoch inzwischen an den Nagel gehängt). Gibt es für diese familiäre Neigung zur Theaterschauspielerei eine Erklärung? Beckmann zuckt mit den Achseln. „Wir waren als Kinder nie im Theater. Dafür war auch kein Geld da. Erst in der Waldorf-Schule kam ich mit Theater in Berührung, beim Klassenstück.“

In Bochum, wo Beckmann Schauspiel studiert hat, wohnten die Geschwister sogar in einem Haus. Die ältere Schwester Maja arbeitet inzwischen am Schauspielhaus Zürich. Sie wurde 2021 in der Kritikerumfrage von „Theater heute“ zur Schauspielerin des Jahres gewählt, im Jahre darauf folgte Lina. Fast eine Dynastie.

Beckmann hat unzählige Preise und Auszeichnungen erhalten, auch einige Einladungen zum Theatertreffen. Sie zählt durch, es ist ihre fünfte dieses Jahr. Die erste erhielt Beckmann, als sie noch in Köln engagiert war. Beier führte damals das Schauspielhaus der Domstadt zu ungeahnter Größe und sorgte mit spektakulären Uraufführungen und aufregenden Inszenierungen für Furore.

„Karin Beier ist wahnsinnig klug, mutig, und fordert viel, zugleich ist sie empathisch und weich“, sagt Beckmann, die 2013 mit Beier nach Hamburg kam. Ruhrpott, Rheinland oder Hansestadt, es ist jeweils auch ein anderes Publikum, vor dem sie auftritt. „Die Zuschauer in Bochum und Köln haben ein Riesenherz“, erzählt Beckmann. „In Hamburg muss man Geduld haben. Und dann merkt man, wie offen und interessiert – auch intellektuell – das Publikum hier ist. Und unfassbar treu.“ Wer gesehen hat, wie euphorisch das Publikum nach einer Vorstellung von „Laios“ oder „Richard the Kid & the King“ aufspringt und stehend Applaus spendet, bekommt die Ahnung, dass sich die Geduld gelohnt hat.

Was man bisher noch nicht wusste: Auch als Zuschauerin ist Beckmann eine Klasse für sich. „Wenn ich ins Theater gehe, bin ich die beste Zuschauerin der Welt: Ich bin offen, freue mich über alles, und ich weine schnell“, erzählt Beckmann mit einem breiten Lachen. „Ich liebe das Theater! Jede Vorstellung ist unterschiedlich, das ist so toll, so zauberhaft.“ Nun aber muss sie selbst wieder zaubern, auf der großen Bühne und nicht nur für uns in der Kantine. Lina Beckmann verschwindet in Richtung Garderobe, um sich „einzugrooven“, wie sie sagt. Sobald sich der Vorhang hebt, wird sie wieder volle Kraft voraus die Bühne und den Saal erobern.

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