Die 74. Ausgabe der Berlinale war eine der politischsten ihrer Geschichte. Aber nicht nur, weil der Zustand der Welt außerhalb des Festivals – der Ukraine-Krieg, die Lage im Nahen Osten, die Wirtschaftskrise – in allen Sektionen gespiegelt, in beinahe allen Veranstaltungen diskutiert wurden. Sondern weil sie darüber das ganz Private nicht vergaß.
Debatte im Tiny House
Dass diese Berlinale unter einem noch politischeren Stern stehen würde, als man es bei dem Hauptstadtfestival ohnehin gewohnt ist, zeigte sich bereits bei der Eröffnungsgala, bei der Schauspieler ein modisches („FCK AFD“-Halsketten) und verbales („Defend Democracy“) Zeichen gegen die AfD setzten. Auch die „Cinema for Peace“-Veranstaltung mit Hillary Clinton wurde siebenmal von lauten Vorwürfen aus dem Publikum unterbrochen, woraufhin die Störer, die „Schämen Sie sich!“ und „Free Palestine!“ riefen, von Sicherheitskräften hinausbefördert werden mussten. Einem von einem Palästinenser und einem Israeli auf dem Potsdamer Platz positionierten Tiny House gelang es hingegen, über die schlichten Parolen hinweg drei Tage lang Raum für Diskussionen „über Israel und Palästina“ zu schaffen. gold
Flammkuchen-Alarm
Nicht nur, wer eine Reise macht, kann etwas erzählen, sondern auch, wer zu einer Berlinale-Party geht. Am meisten zu erzählen hatten wohl die Gäste des größten Empfangs von allen, dem der Film- und Medienstiftung Nordrhein-Westfalen am Berliner Tiergarten. „Achtung – wegen eines unvorhergesehenen Ereignisses muss das Gebäude umgehend verlassen werden“, schallten die Lautsprecher und Hunderte Abendgarderoben flüchteten schutzlos in den Nieselregen. Gerüchte, der neue Stiftungschef Walid Nakschbandi habe bei seiner ersten Berlinale eine flammende Rede gehalten und so die Feuermelder ausgelöst, erwiesen sich als unzutreffend. Offenbar, zweites Gerücht, brannte auch kein Waffelstand. Nein, die Übeltäter dürften – kein Scherz! – die Dämpfe der Flammkuchen gewesen sein. Wir warten nun bei den nächsten Festspielen auf den NRW-geförderten Film „Great Cakes of Fire“. hgr
Bayern-Chaos
Apropos Partys im Freien: Vor dem Empfang des FilmFernseh-Fonds (FFF) Bayern (der begehrteste von allen) vor der bajuwarischen Botschaft bildeten sich lange Schlangen: „Ich warte schon eine Stunde auf Einlass“, klagte eine Frau, die schätzungsweise noch eine Viertelstunde vor sich hatte; es durfte nur jemand rein, wenn jemand herauskam. Der FFF hatte viel zu viele Einladungen bestätigt, was den Ruf des Freistaates weiter beschädigt. Voriges Jahr bereits war der Leberkäse beim Buffet abgeschafft worden, jetzt kam der organisatorische GAU hinzu. Wann immer Markus Söder in Zukunft die Chaos-Stadt Berlin geißelt, wird man ihm nun den FFF-Empfang 2024 entgegenhalten. hgr
Die Liebe der Helden
Bisher musste man ja, wenn man sein Zeitgeschichtswissen rein aus Filmen bezogen hatte, davon ausgehen, dass die mutigen Menschen, die sich gegen Hitler stellten, vor allem Drucker bedienten und Bomben bauten. Nackt hat man sie eher nie gesehen, dass sie Sex hatten, konnte man sich kaum vorstellen. Sie mussten ja Heldentaten planen. Andreas Dresens „In Liebe, Eure Hilde“ räumt damit auf. Hans und Hilde Coppi, Mitglieder der von den Nazis „Rote Kapelle“ getauften Widerstandsgruppe, haben da einen richtigen Sommer der Liebe. Richtig romantisch. Wenig romantisch allerdings war die Begründung für diese Freizügigkeit, die Dresen – kein Freund von Intimszenen – hinterherschickte. Die Geschichte handele halt auch davon, dass Hilde im Gestapo-Knast ein Kind zur Welt bringt. Und das müsse ja irgendwie entstanden sein. elk
Italiens Anti-Werbung
Wenn man italienische Kulturpolitiker nach der Stimmung in ihrer Heimat fragt, was man am Rande der Berlinale tun konnte, ist alles ganz großartig und schön im Land, das gerade die Deutschen immer noch mehr mit ihrer Seele suchen als Griechenland. Wenn man fünf Stunden lang in „Dostoevskij“ gesessen hat, sieht man das anders. „Dostoevskij“ ist der erste Mehrteiler der größten neuen Sterne am Himmel des italienischen Kinos, des Brüderpaars Damiano und Fabio D’Innocenzo. Und lässt alle Hoffnung fahren. Man möchte nicht essen, was die in dieser Serienkiller-Serie essen, nicht wohnen, wie die wohnen, nicht arbeiten, wo die arbeiten. Man will direkt nach dem Kino in die nächstgelegene Entgiftungsstation. Die italienischen Kulturpolitiker wird das eher weniger erfreut haben. elk
Kleid aus Popcorn
Jessica Henwick aus Tilman Singers Horrortrip „Cuckoo“ erschien auf dem roten Teppich in einem Stoff, der aus auf der Zunge geschmolzenem Popcorn gewebt zu sein schien. Und je nachdem, aus welcher Perspektive man das Kleid der Jury-Präsidentin und 2014 vom „People“-Magazin zur schönsten Frau der Welt gekürten Oscar-Preisträgerin Lupita Nyong’o auf der Eröffnungsgala betrachtet, schimmerte es mal weiß, dann wieder violett und manchmal driftete es ins Rosa-Grau ab. Was uns daran erinnert, dass auch Filme immer anders wirken, je nachdem, aus welchem Blickwinkel wir sie uns ansehen. gold
Hallo, Taxi!
Nicht zu vergessen: das Gegenfestival der Berliner Taxifahrerinnung. Auf dem Streifen zwischen den beiden Hälften des Potsdamer Platzes stand ein beheiztes Großraumtaxi – wo Filme zu sehen waren, die alle etwas mit dem Thema „Taxi“ zu tun hatten. Von denen gibt es ja genug, gezeigt wurden unter anderen „Taxi Driver“, „Das fünfte Element“ und „Collateral“. Die Taxler protestierten damit gegen die erneute Wahl des Fahrdienstes Uber als Autosponsor der Berlinale; mit solch einem Partner – der dem Vernehmen nach 600.000 Euro investierte – beschere man sich „alles andere als ein gutes Image“. hgr
Neuerfindung im Alter
Während der Preisverleihung des Goldenen Ehrenbären an den 81-jährigen Martin Scorsese für sein Lebenswerk geschah eigentlich nicht viel mehr, als dass zwei alte Männer sich gegenseitig auf die Schulter klopften. Zu Recht: Denn beiden Großmeistern gelang es auch jenseits der 70 noch, sich neu zu erfinden: Der 78-jährige Wim Wenders lobte in seiner Laudatio Scorseses letzten Film „Killers of The Flower Moon“, während Scorsese wiederum seine Dankesrede dafür nutzte, Wenders neuesten Film „Perfect Days“ zu feiern. Von einem Neuanfang im Alter handeln im Berlinale-Wettbewerb auch gleich zwei fantastische Filme, „My Favourite Cake“ der Iraner Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha sowie „A Traveler’s Needs“ des Südkoreaners Hong Sang-soo mit Isabelle Huppert. gold
Unter die Haut
Es droht die Invasion der Körperfresser. Es gab im Programm der Berlinale eine geradezu gespenstische Häufung von Filmen, in denen menschliche Körper von außerirdischen Wesenheiten besetzt wurden oder beispielsweise das Bewusstsein Verstorbener implantiert bekamen. Adam Sandler krabbelte in „Spaceman“ eins dieser Wesen sogar unter der Haut durchs Gesicht. Unschön. Es gibt Berlinale-Insider, die deuten diesen seltsamen Berlinale-Schwerpunkt psychologisch und glauben in Festival-Leiter Carlo Chatrian auch einen Betroffenen zu erkennen, einen Mann nämlich, der fünf Jahre lang vom Geist eines Berlinale-Chefs bewohnt war. elk
Ein Stück vom Kuchen
Würde man ein verbindendes Leitmotiv in den Filmen dieses Jahrgangs suchen, so wäre es der Kuchen. Doch nur ein Film – zufällig gehört er auch zu den Höhepunkten des Festivals – trägt ihn auch im Titel. „My Favourite Cake“ der Iraner Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha, die wegen eines Reiseverbots nicht zur Berlinale kommen konnten, handelt von einer einsamen Witwe, die mit 70 Jahren eines Tages beschließt, sich einen Mann zu suchen.
Und den findet sie auch. Sie gabelt ihn auf der Straße auf, nimmt ihm mit zu sich nach Hause – und erlebt das, was sie beide die schönste Nacht ihres Lebens nennen werden. Sie gestehen sich ihre Liebe, tanzen, kochen, trinken– und feiern ihren ganz privaten Widerstand gegen das iranische Regime. Ein warmherziger, witziger, besonderer Film, der mit dem Verzehr des Kuchens endet – aber ganz anders, als man erwartet. gold
Einladendes NRW
Nicht nur bei der Berlinale-Eröffnung standen Parlamentarier der AfD auf der Gästeliste, auch beim NRW-Empfang. Die Begründung der Filmstiftung, man lade im Sinne der Gleichbehandlung Mitglieder aller in den Parlamenten vertretenen Parteien ein, dies entspreche dem Respekt vor den gewählten Abgeordneten, war fast deckungsgleich mit der Begründung der Berlinale für ihre Einladung. Der Unterschied: Als die Empörung wuchs, lud die Berlinale die AfD-Politiker aus. Nicht so NRW. Es habe keine entscheidenden neuen Argumente gegeben, um die Einladung zu widerrufen. Trotzdem war kein Rechtsaußen beim Feueralarm dabei; die Einladungen waren „aus Termingründen“ ausgeschlagen worden. hgr
Dünen statt „Dune“
Denk groß, sonst endest du klein. Es gibt Gerüchte, der wahrscheinlich meist erwartete Blockbuster des Jahres hätte seine Welt-Premiere auf der Berlinale haben können – der zweite Teil von Denis Villeneuves „Dune“, in dem Timothee Chalamet nichts weniger als das Schicksal des Universums in Händen hält. Man sieht Carlo Chatrian, den Berlinale-Chef, geradezu vor sich, wie er seinen bebrillten Kopf sorgenvoll erst in Falten legt und dann schüttelt und irgendwas von „Fortsetzung“ und „Fantasy“ brummelt. Statt dem Sternenkrieg von „Dune“ gab’s – in Bruno Dumonts völlig irrem Fantasyfilm „L’Empire“ – eine um drei Nummern kleinere Version in den französische Dünen. Und Carlo Chatrian endet bei der Berlinale wie Thomas Tuchel beim FC Bayern – an den hohen Ansprüchen gescheitert, unvollendet und geschrumpft. elk
Dunkle Mutterrollen
Das Böse geht, will man den Filmen dieses Jahrgangs glauben, von den Müttern aus. Im Eröffnungsfilm „Small Things Like These“ waren es die Nonnen, die im Irland des Jahres 1985 junge Mädchen quälen und deren Neugeborene nach Amerika verkaufen. In „Des Teufels Bad“ ist es die Schwiegermutter, die in einem oberösterreichischen Dorf im Jahr 1750 ihre Schwiegertochter quält, indem sie ihr vorschreibt, wie sie zu kochen und die Töpfe aufzuhängen habe, welche Blumen nicht ins Haus gehörten und wie sie ihre Freizeit zu verbringen habe.
In „Sterben“ ist es die eigene Mutter, die ihrem Sohn Tom gesteht, ihn nie geliebt zu haben. In ihren kühlen Telefonaten bedauert sie, dass sein Kind biologisch nicht von ihm ist, oder dass er nur ein Jugend-, aber kein richtiges Orchester dirigiere. In „Vogter“ besucht eine Gefängniswärterin ihren Sohn, als der als Verbrecher ins Gefängnis kommt, kein einziges Mal. Später findet sie in einem der anderen Gefangenen eine Art Sohnersatz. Hoffen wir, dass die neue Berlinale-Mutter Tricia Tuttle, die ab kommenden Jahr die Intendanz übernimmt und somit das ideelle Elternpaar Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek ablöst, eine gute, keine quälende Matriarchin wird. gold
Die Zukunft wird toll
Was überraschenderweise mehr als die Vergangenheit und fast eigentlich auch die Gegenwart interessierte, war das, was uns morgen erwartet. Gefühlt jeden Tag konnte man sich auf der Berlinale in irgendeiner Nahzukunftsvision aufhalten, durchs All fliegen, sein Bewusstsein nach dem Tod in andere Körper überspielen lassen, außerirdischen Sternenkriegern auf weißen Kaltblütern begegnen. Und die Zukunft war so schön. Ein psychotherapeutisches Bällebad. Entfernte Geliebte fanden einander wieder, Trauernde wurden getröstet, einsam auf der Erde Zurückgebliebene gingen in ein neues Leben. Und das beste: Man kann – wie Gael Garcia Bernal in „Another End“ – demnächst den ganzen Tag auf dem Sofa liegen, Unmengen Bier trinken und wird trotzdem nicht dick. Zukunft – wir freuen uns auf dich. elk