Nein, das große, lautstarke, aggressiv-einseitige Aktivistenspektakel ist es nicht geworden. Dafür eher eine leise Elegie über Hilflosigkeit und Vergeblichkeit, über die Grausamkeit bestehender Verhältnisse neokolonialer Ausbeutung in der Demokratischen Republik Kongo – immer noch.
Doch der Reihe nach. Genfs Intendant Aviel Cahn, der immer provokationsbereit ist und das Genre Musiktheater mit Wonnen an seine Grenzen und darüber hinaus fordern will, hat sich 2021 keinen Gefallen getan, als er den Schweizer Politregisseur Milo Rau am Grand Théâtre de Génève mit Mozarts „La clemenza di Tito“ seine erste Oper inszenieren ließ.
Die humanistische Parabel, die Mozart in seiner Prager Krönungsoper verbreitet, gegenübergestellt mit heutigen Ungerechtigkeiten und Polit-Schmutzigkeiten, wohlfeil ausgestellt vom im linken Kunstbetrieb gut genährten Systemsprengern, das kam nicht zusammen. Zumal es Rau selten um szenische Tiefenschärfe und ausgefeilte Personenregie geht.
Ihm sind vor allem die Message und eine dramatische Zuspitzung, auch Simplifizierung seiner jeweiligen Stoffkomplexe wichtig. Es geht ihm um das Aufrütteln, nicht so sehr um den Kunstgenuss.
Cahn hat aber noch einmal nachgedacht. Und er hat Milo Rau für ein zweites Opernprojekt innerhalb seiner professionellen Komfortzone werkeln lassen. Er hat ihn mit dem katalanischen Komponisten Hèctor Parra zusammengespannt. Der hatte Cahn in seinem letzten Intendantenjahr 2019 an der Opera Ballet Vlaanderen in Antwerpen/Gent mit der monströsen Nazi-Oper nach Jonathan Littell „Les Bienveillantes“ eine komplexe, aber packende Abschiedspremiere bereitet.
21 Menschen sterben
Nachdem zunächst als Opernstoff über das Rote Kreuz und seinen Gründer Henry Dunant nachgedacht wurde, nennt sich das französischsprachige Ergebnis nun „Justice“ („Gerechtigkeit“). Und wieder hat Milo Rau seine Kongo-Recherchen eingebracht, um eine typische Geschichte aus diesem reichen Land zu erzählen, das selbst nach dem Abzug der grausamen belgischen Kolonialisten und dem Sturz des schlimmen Mobutu-Regimes inzwischen von Chinesen und Amerikanern ausgebeutet wurde und wird.
Es geht um einen Lastwagen voller Schwefelsäure zum Auflösen von Erzen, der 2019 in einem Dorf in Katanga, dem größten Mienengebiet der Welt umgestürzt ist. Durch den Unfall wie die auslaufende Säure kamen 21 Menschen ums Leben, viele weitere wurden verletzt. Die verantwortliche Schweizer Firma Glencore zahlte den Überlebenden Lebensmittelrationen für fünf Monate. Die Prozesse sind immer noch nicht abgeschlossen.
So soll mittels dieses Musiktheaters auf eine einzelne, konkrete Ungerechtigkeit von vielen aufmerksam gemacht, der Fokus auf die Missstände in Zentralafrika gelenkt werden, das eigentlich blühen könnte. Bei der Pressekonferenz vor der Uraufführung waren zwei Beteiligte vor Ort im Kongo zugeschaltet; außerdem wurde die Gründung einer Crowdfunding Kampagne „Justice for Kabwe!“ bekannt gegeben.
Für eine meist erstaunlich zart gesponnene Elegie aus Prolog und fünf Akten, die gerade einmal 140 pausenlose Minuten dauert, haben sich jetzt neben Rau und Pàrra als Stimmen wie Seelen des Kongo der aus Katanga stammende, in Graz lehrende Schriftsteller und Literaturperformer Fiston Mwanza Mujila, der das Libretto geschrieben hat und auch auf der Bühne steht, der sanfte, kongolesische Rumba virtuos auf seiner E-Gitarre plingelnde Musiker Kojack Kossakamvwe sowie der Countertenor Serge Kakudij, der einen Junge ohne Beine verkörpert, zusammengefunden.
Rau kuratiert eher unprätentiös als dass er inszeniert. Und der sonst viel komplexere Klanglandschaften formende Pàrra lässt dem links sitzenden Solo-Gitarristen für seine Einwürfe Raum, hat sich an perkussiv dominierten kongolesischen Rhythmen wie Gesängen orientiert, verwebt sie auf einfache Art mit seiner Klangsprache. Die ist nur selten laut, bindet das Orchestre de la Suisse Romande wie den Opernchor gekonnt ein. Meist tändelt die Musik erstaunlich harmonisch zirpend flott dahin, um das Erzähltempo im Fluss zu halten.
Als Bühnensituation wird – heute, fünf Jahre nach dem Unfall – die Einweihung einer Schule gewählt: Rechts sitzen die stummen Honoratioren an einer Banketttafel, doch neben und hinter ihnen liegt immer noch der kaputte Laster auf dem Rücken, Unrat breitet sich aus, die Vergangenheit lässt genauso wenig vertreiben wie die hier allgegenwärtigen Geister der Ahnen.
All das wird – während Filmaufnahmen die Landschaft, die Toten, die Trümmer aus nächster Nähe zeigen – ausgebreitet und reflektiert, vom neuen Direktorenpaar (Peter Tantsits und Idunnu Münch), der Lastwagenchauffeurin (Katarina Bardic), dem alten und jungen Priester (Willard White und Simin Shibamu), der Mutter eines toten Kindes (Axelle Fanyo), einer Anwältin (Lauren Michele).
Sie alle, nachdem sie zu einer von Titus Engel so temperamentvoll dirigierten Ouvertüre per Inserts auch privat vorgestellt wurden, singen, deklamieren, flüstern, parlieren ihrer Rollen mit größter Präsenz, Stärke, Vielfalt und Aufmerksamkeit. Die Geschichte entfaltetet sich ruhig in Einzelschicksalen, Schmerz und Trauer schaffen sich Raum, Verlust und Ungerechtigkeit wollen gesühnt werden.
Und so wird aus dem Dokumentarnarrativ gerade in den individuellen Ariosi überzeugt Oper – als Kraftwerk der großen Gefühle. Auch mit ein wenig Gutmenschenkitsch. Selten jedenfalls war Milo Rau so gelassen, undogmatisch, achtsam.