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Kunst Phänomen Sammelwut

Das beste Mittel, die Verbindung zur Welt nicht zu verlieren

Hier haben es jemandem die Schwämme des Alltags angetan Hier haben es jemandem die Schwämme des Alltags angetan
Die Schwämme des Alltags im Museum
Quelle: Museum Angewandte Kunst/Foto: Günzel/Rademacher
Haben uns die kleinen Dinge des Alltags noch etwas zu erzählen? Der Philosoph Byung-Chul Han sagt: nein. Der spätkapitalistische Mensch sei ohne Zauber. Ein Blick auf die so menschliche Obsession des Sammelns aber stimmt nun mehr als optimistisch.

In einer Welt, die immer digitaler wird, müssen wir eigentlich damit rechnen, dass das analoge Sammeln von Dingen – und damit vielleicht auch der Kunst – bald ausstirbt. Geprägt von allgegenwärtiger Algorithmisierung und Automatisierung erleben wir ja tatsächlich tagtäglich einen Authentizitätsverlust, der wohl nach und nach zur Entfremdung nicht nur vom realen Gegenüber, sondern auch von Gegenständen und ihren Geschichten führen wird.

„Dinge sind Ruhepole des Lebens“, schreibt der Philosoph Byung-Chul Han in seinem Buch „Undinge“. „Die Dinge stabilisieren insofern menschliches Leben, als sie ihm eine Kontinuität verleihen.“ Anders als die glatte Oberfläche des Smartphones gibt gelebtes Material Gegenständen eine Präsenz, die den gesamten Umraum aktiviert. Dinge – zumal formschöne, historisch aufgeladene Objekte, und das gilt keinesfalls nur für Kunstwerke – können eine geradezu magische Kraft entfalten.

Han ist pessimistisch: Heute gehe dieser Zauber verloren, ebenso wie Geschichten immer mehr zu „Erzählungen in Konsumform“ würden. Statt durch wahrhaftige Narrative Gemeinschaft zu erzeugen, würden Produkte für communityaffine Kunden künstlich emotional aufgeladen: „Storytelling ist Storyselling“, schreibt Han nun auch in seinem neuen Buch „Die Krise der Narration“.

Doch so gekonnt der Philosoph das Feld des spätkapitalistischen Menschen beackert und den eigenen Kulturpessimismus mit Dünger aus poetisch-luziden Hauptsätzen bestreut: Stimmen seine Thesen wirklich? Wie kommt es, dass der digital deformierte Mensch Gegenständen und ihrer narrativen Patina durchaus nicht abgeschworen hat – sondern dass er weiterhin gern Dinge berührt, sich mit ihnen identifiziert und sie sogar sammelt?

Dass er dem uralten Drang immer noch nachgibt, sich aus all den Dingen auf der Welt ein bestimmtes Thema herauszupicken und dessen physische Ausformungen zu jagen und zu horten, oftmals lebenslang? Ob Briefmarken oder Weine, Kunstwerke, Designobjekte oder Antiquitäten, weiße Vasen, alte Computer, Leuchtschilder oder Sand: Offenbar gibt es nichts, was nicht anhäufungs- und inszenierungswürdig ist, was keine erstaunliche Geschichte in sich trägt und in seiner akkumulierten Ästhetik an Faszination gewinnt.

Zeitkapseln, Lebensbegleiter, Erinnerungsträger

Das Museum Angewandte Kunst in Frankfurt hat sich diesem Phänomen gewidmet und für die Ausstellung „Was wir sammeln“ dreißig Gestalter aus der Frankfurter Region befragt, was sie privat sammeln – als „Zeitkapseln, Lebensbegleiter, Erinnerungsträger oder einfach nur spontane Entdeckung“. Herausgekommen ist eine muntere, konzentriert präsentierte Kombination aus Alltagsgegenständen, die in ihrer kollektiven Erscheinung von ihrer Unscheinbarkeit befreit werden.

Begleitet werden sie von persönlichen Erzählungen, die oft bis in die Kindheit zurückgehen: Die „Hello Kitty“-Sammlung von Franziska Holzmann nahm ihren Anfang bei ihrer Schulfreundin aus Tokio, die ihr die japanische Kultur nahebrachte. Katharina Pennoyers Faible für Thonet-Stühle begann bei den Exemplaren ihrer Ur-Ur-Urgroßmutter, die zu Hause unerreichbar weit oben im Regal standen.

Martin Schwember hatte seinen ersten Bananenaufkleber mit elf, als er noch in Chile lebte und dachte, es gebe nur diese einzige Marke namens Doyle – sein Jagdinstinkt wurde entfacht, als er ein Jahr später nach Deutschland kam und sah, wie viele andere Marken aus allen möglichen Ländern sich auf Stickern verewigt hatten. Und Isabel Naegele schwärmt von Schwämmen: „Es sind putzige, meist sehr farbenfrohe Dinge, für wenig Geld erhältlich, die uns die perfekte Sauberkeit versprechen und uns auf den transparenten Umhüllungen große Versprechungen zuflüstern wie ‚extra gründlich‘, ‚mega clean‘, ‚ultra absorbent‘, ‚très efficace‘, ‚ergonomic‘, ‚non-scratch‘, ‚antibac‘ oder ‚extreme scrub‘“.

Die Tatsache, dass allein 30 Designer nicht nur selbst die Umwelt gestalten, sondern ihr Augenmerk auf Dinge richten, die sonst im Alltagsrauschen untergehen, zeigt, dass durchaus nicht alles verschwindet, was mit realen, zudem noch oft ziemlich nebensächlichen Objekten und ihren Geschichten zu tun hat – dass Sammeln den Dingen eine Präsenz und Bedeutung verleiht, die sonst kaum sichtbar wäre. Ein Schwamm allein springt nicht ins Auge, eine bunte Auftürmung von Schwämmen hingegen sieht aus wie eine fröhliche Stadtlandschaft, in die man sich kleine Ufos und Schaumwolken hineinimaginiert.

Die wichtige Rolle von Museen

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Natürlich gewinnen nicht nur banale Dinge durch Sammeln an Bedeutung. Auch und vor allem Kunst wird durch Akkumulation aufgewertet: Eine vereinzelte genähte Figur von Louise Bourgeois wirkt verloren, wenn sie ohne Kontext dasteht. Es fehlt dann die narrative Einbettung, die die Fäden ihrer Geschichte im Dialog mit anderen Arbeiten sehr viel weiter spinnt und ihr so mehr Gewicht verleiht. Genau das ist die offizielle Aufgabe eines Museums: zu sammeln, zu forschen, zu bewahren und zu vermitteln – kurz: anhand von kontextualisierten Kunstobjekten Erzählungen zu erzeugen, die Türen zur Erkenntnis und zu weiteren Geschichten aufstoßen. Es ist ein Prinzip, das sich im Grunde auf alle übertragen lässt, die nicht einfach nur wirres Zeug horten, sondern sich einer Obsession verschrieben haben, der sie mit Akribie und Neugier nachgehen. Jedes einzelne Ding bekommt dann plötzlich eine Aura und eine ganz persönliche, einzigartige Geschichte.

Tatsächlich ist der Sprung vom gesammelten Alltagsding zur Kunst gar nicht so weit. Die Hello-Kitty-Katze auf rosa Täschchen und Haarspangen etwa wirkt auf den ersten Blick zwar nicht gerade wie ein Objekt, dem man tiefschürfende Bedeutungen zuschreiben muss. Dennoch ist die japanische „Cuteness“, also Niedlichkeit, ein Phänomen, das Kulturgeschichte geschrieben hat – die grimmig dreinblickenden Kinderfiguren von Yoshitomo Nara und die penetrant lachenden Sonnengesichter von Takashi Murakami wären sonst nicht denkbar. Das Heitere und das Böse liegen hier nahe beieinander – ein alter Mythos, der in der Populärkultur ebenso wie in der Kunst funktioniert. Übrigens sind Künstler oft die besessensten Sammler von allen. In ihren Wohnungen finden sich ganze Armadas von Superhelden aus Plastik, historischen Zirkusfotografien, Computer-Games, Outsider Art, volkstümlichen Monstermasken aus dem Alpenland, Schallplatten, Kristallen – solche patinierten Dinge bilden oftmals den Grundstein für ihre Parallelwelten, in denen virtuelle und reale Fantasien, alte und eigene Geschichten kein Widerspruch sind.

Alles, was wir sammeln, im Museum vereint
Alles, was wir sammeln, im Museum vereint
Quelle: Museum Angewandte Kunst/Foto: Günzel/Rademacher

Überhaupt ist die bildende Kunst vielleicht das beste Beispiel dafür, warum Sammeln keineswegs vom Aussterben bedroht ist – was man bei all den ferngesteuerten Investoren, die Kunstwerke wie Aktien anhäufen, um sie dann wieder abzustoßen, ja durchaus denken könnte. Doch der Impuls des Sammelns geht dadurch ja nicht verloren, und die Bedeutung von Kunst auch nicht. Kunstwerke sind Sinnbilder dafür, wie Künstler ihre Umgebung und ihr Innenleben wahrnehmen, deuten und transformieren.

Sie entfalten ihre Kraft vor allem dann, wenn sie nicht allein dastehen. Kunst zu sammeln heißt, Verbindungen herzustellen und Erzählungen aufzudecken. Das erfordert Neugier, Intuition, Wissen und Leidenschaft – und vor allem Ausdauer. „Seit ich sammle, denke ich mehr nach“, so hat es der Anfang November verstorbene Hamburger Kunstsammler Harald Falckenberg einmal auf den Punkt gebracht.

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Harald Falckenberg (1943–2023)
Harald Falckenberg †

Er tat es mit radikalen, ebenso gesellschaftskritischen wie fantasievollen Werken von Mike Kelley, Paul McCarthy, Cindy Sherman, Thomas Hirschhorn und vielen anderen, durch die er dem „zivilen Ungehorsam“ einen Raum voller dialogischer Querverweise gab, der bis heute weltweit seinesgleichen sucht. Falckenberg zeigte: Sammeln ist eine Haltung, gar eine Gegenhaltung zur Welt – und ja, besonders zu einer, die immer digitaler und kommerzieller wird.

Was wir sammeln. Bis zum 7. April 2024 im Museum Angewandte Kunst in Frankfurt

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