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Literatur „Himmel voll Raketen“

Wie Kafka sein letztes Silvester verbrachte

Redakteur im Feuilleton
Kafka und seine Geliebte Dora Diamant Kafka und seine Geliebte Dora Diamant
Franz Kafka und Dora Diamant
Quelle: Pictures from History/Universal Images Group via Getty Images; unbekannt/Wikimedia/gemeinfrei
Vor 100 Jahren wohnte Franz Kafka in Berlin – und zum ersten Mal mit einer Frau zusammen. Den Jahreswechsel erlebte er sterbenskrank und doch verliebt. Auch mit Tuberkulose ließ sich Kafka eine Sache nicht nehmen.

Franz Kafka starb am 3. Juni 1924, mit nicht mal 41 Jahren. Im Juli 1923, kurz nach seinem 40. Geburtstag, hatte der Schriftsteller sich noch mal neu verliebt, in Dora Diamant, die er im Ostseebad Graal-Müritz nahe Rostock kennengelernt hatte. 1922 war er, mit gerade mal 39, aus seinem Brotjob als Prager Versicherungsangestellter in den vorläufigen Ruhestand versetzt worden. Seine trotz Kuren nicht geheilte Krankheit hieß: Tuberkulose.

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„Anders muss man leben“, schrieb Kafka nach dem Ostsee-Urlaub an einen Freund in Prag – und beschloss das vor allem für sich selbst. Zum ersten Mal im Leben zog er aus Prag weg und nahm sich ab September 1923 ein Zimmer in Berlin-Steglitz. Wenige Tage später zog Dora Diamant zu ihm; es war das einzige Mal, dass er mit einer Frau zusammenlebte – und dennoch blieb diese letzte Liebe lange „eine Unbekannte in Kafkas Leben“, „ihre Bedeutung wurde oft unterschätzt“, schreibt Dieter Lamping in seinem aktuellen Buch über Franz Kafka und Dora Diamant.

Der Mainzer Professor emeritus für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft erklärt, warum: Anders als bei Kafkas Beziehungen mit Felice Bauer und Milena Jesenská gebe es aus der Beziehung mit Dora Diamant fast keine Korrespondenzen. Mit einer Frau, mit der man zusammenlebt, schreibt man sich keine Briefe.

Erst durch den Kafka-Biografen Reiner Stach und durch die 2013 erschienene Romanbiografie von Kathi Diamant (die als Namensvetterin anfing, über Dora Diamant zu recherchieren) wisse man, was man heute weiß, so Lamping. Dora Diamant war 25, als sie Kafka kennenlernte; sie war religiös erzogen worden, stammte aus dem polnischen Ostjudentum, für das sich Kafka eine Zeitlang besonders interessierte. An der Ostsee betreute sie – in zufälliger Nachbarschaft zu Kafkas Pension – ein Ferienlager der zionistischen Bewegung; sie sprach Polnisch, Jiddisch, Hebräisch und Deutsch.

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In Berlin mietete Kafka zwischen September 1923 und März 1924 insgesamt drei Wohnungen, zwei in Steglitz, eine in Zehlendorf. Was heute nach gutbürgerlichem Südwesten klingt, war vor 100 Jahren vor allem eine Kostenfalle. Zunächst standen die Mietpreise im Zeichen der bis Mitte November galoppierenden Hyperinflation: „Das Zimmer wurde Ende August mit 4 Millionen monatlich für mich gemietet und heute kostet es etwas ½ Billion“, berichtete Kafka, der als Tscheche wegen seiner Devisen ein beliebter Mieter war, wobei die finanziellen Forderungen der ersten Vermieterin immer dreister wurden, nachdem sie von Kafkas Pension in Höhe von 1000 Kronen erfahren hatte.

Der Schriftsteller und seine Geliebte lebten bescheiden, weitab vom eigentlichen Berlin. Sie fuhren nur wenige Male überhaupt in die Stadt. Statt auszugehen, las er ihr vor, E.T.A. Hoffmanns „Kater Murr“, Hebels „Schatzkästlein“ und Kleists „Marquise von O.“, die Geschichte mit dem berühmten Gedankenstrich, der eine Vergewaltigung andeutet. Oft war Kafka auch einfach nur krank, „an vielen Tagen scheint er dann gar nicht aufgestanden zu sein“, resümiert der Biograf Lamping, der zahlreiche Quellen zitiert, so auch Kafkas Freund Max Brod, der seinen Freund „in guter Stimmung“ erlebte und doch notierte: „sein körperliches Befinden hatte sich allerdings verschlechtert“.

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Brod beobachtete Dora und Franz, die beiden Verliebten, genau: „Sie scherzten oft wie Kinder miteinander. So erinnere ich mich, dass sie ihre Hände gemeinsam in dasselbe Waschbecken tauchten und dies ‚unser Familienbad‘ nannten.“ Bei aller Ausbeutung privater Details, wie sie sich hier demonstriert, fällt Lampings Mosaik aus Brief-, Tagebuch- und biografischen Zeugnissen nicht unkritisch aus. So listet er bekannte Gäste auf, die Kafka in seiner Berliner Zeit besucht haben sollen: unter ihnen Willy Haas, Egon Erwin Kisch und Franz Werfel – wie Kafka selbst alle aus Prag –, setzt aber auch Fragezeichen, wenn Besucher wie Werfel nur durch eine einzige Quelle belegt sind.

Gegen Ende des Jahres 1923 verschlechterte sich Kafkas Gesundheitszustand zunehmend. Anfang 1924 schrieb er seinen Eltern: „Euere große Sylvesterfeier (den Onkel vermisse ich unter den Anwesenden) und der Tanz haben mich sehr gefreut, ich habe Sylvester auch mitgemacht, wenn auch nur vom Bett aus. Trotzdem ich nur zwischen Gärten wohne, das städtische Steglitz ziemlich entfernt und Berlin erst recht, war doch der Lärm bei offenem Fenster stundenlang ungeheuerlich, ohne Rücksicht auf den Frost, der Himmel voll Raketen, im ganzen Umkreis Musik und Geschrei.“

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Gegen stundenlangen Lärm und Feinstaub vor Mitternacht – heute das Feindbild all derjenigen, die Feuerwerk am liebsten komplett aus den Städten verbannt wissen wollen – hegte der Tuberkulosekranke Kafka keine Aversionen. Dass seine Wohnung eher dauerkalt als jemals gut beheizbar war, verschwieg er in den Briefen an seine Eltern geflissentlich. Ohnehin war die Heizung bald so teuer wie die Kaltmiete.

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Anfang Februar 1924 zogen Kafka und Dora Diamant nach Zehlendorf um, „die neue Wohnung scheint sich zu bewähren“, schrieb Kafka in beruhigender Diktion an die Eltern, während er in Wahrheit immer öfter fieberte. Sein Onkel Dr. Löwy besuchte Kafka am 19. Februar 1924 und riet ihm dringend, sich in ein Sanatorium zu begeben. Am 17. März nahm Kafka am Anhalter Bahnhof den Zug nach Prag. „Die Familie“, resümiert Lamping, „hatte die Macht über sein Leben zurückgewonnen“, das Berliner Abenteuer an der Seite von Dora Diamant war nach noch nicht einmal sechs Monaten vorbei.

Literarisch ist Kafkas Berliner Zeit vor allem in Form einer unfertigen Erzählung produktiv geworden: Sie hat von Brod posthum den Titel „Der Bau“ erhalten und handelt von einem Tier, das sich zu seinem Schutz ein System von unterirdischen Gängen anlegt, „immer in Angst vor seinem Feind, den es in seiner Nähe ausgemacht hat, ohne ihm schon begegnet zu sein“, so Literaturwissenschaftler Lamping. Kafkas noch zu Lebzeiten veröffentlichte Erzählung „Eine kleine Frau“ (enthalten in dem Erzählband „Ein Hungerkünstler“) wird als Porträt seiner ersten Steglitzer Vermieterin gelesen.

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Dora Diamant folgte Franz Kafka am 5. April nach Österreich, wo der Schriftsteller – inzwischen mit Symptomen einer Kehlkopftuberkulose – im Sanatorium Kierling bei Klosterneuburg einzieht. Es wird seine letzte Lebensstation. Hier machte Kafka Diamant sogar einen Heiratsantrag.

Warum es zu keiner Hochzeit mehr kam – und warum Dora Diamant sich später, 1925, gegenüber einem Kafka-Fan mit den Worten outete: „Genau genommen bin ich Franz Kafkas Frau“, das alles kann man bei Dieter Lamping nachlesen. Er hat ein feinsinniges, menschlich anrührendes Buch geschrieben. Wer den Goldstandard der Kafka-Biografik, nämlich den vierbändigen Reiner Stach (inklusive des nachgereichten Bandes „Kafka von Tag zu Tag“) nicht zur Hand hat, der kann getrost mit Lamping einsteigen und ist perfekt aufs Kafka-Jahr 2024 eingestimmt.

Dieter Lamping: Anders leben. Franz Kafka und Dora Diamant. Ebersbach & Simon, 142 Seiten, 20 Euro

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