Das erste Lied, das die Schwestern Mars und Thom in dem Film „Lola“ hören, ist David Bowies „Space Oddity“. Merkwürdig, merkwürdig, spielt „Lola“ doch 1940, sieben Jahre, bevor Bowie geboren wurde und 29 Jahre, bevor er den Titel aufnahm.
Bedenkt man, was Mars und Thom (Emma Appleton aus der Serie „The Witcher“ und Stefanie Martini aus „The Last Kingdom“) in ihrem Herrenhaus in der englischen Provinz anstellen, ist es so merkwürdig dann wieder nicht: Sie haben eine Zeitmaschine erfunden mit einer Art Zahlenschloss, an dem man ein Datum einstellen und dann Radio- und Fernsehsignale von diesem bestimmten Tag empfangen kann, zum Beispiel Bowies „Space Oddity“ aus dem Jahre 1969. Eigentlich haben sie den Apparat gebaut, weil sie auf die Musik der Zukunft scharf sind, und sie entdecken auch „You Really Got Me“ von den Kinks und importieren den Titel in ihre von deutschen Luftangriffen gebeutelte Kriegsgegenwart, die sich an dem Sound der Zukunft nicht satthören kann.
Natürlich dauert es nicht lange, bevor das Militär seine Krallen nach der Erfindung ausstreckt. Wenn man vorhersehen kann, wo die deutschen Bomberflotten in der nächsten Nacht ihre tödliche Fracht abwerfen werden – dann lässt sich das doch verhindern, indem man die Luftabwehr dort konzentriert!
Das Filmgenre der Zeitmanipulation kennt zwei wesentliche Varianten. In der einen reist der Held in die Vergangenheit und verändert damit die Gegenwart. In der anderen handelt er in der Gegenwart mit dem Wissen aus der Zukunft und verändert diese damit. Letzteres geschieht Mars und Thom, die dem britischen Militär die kommenden deutschen Angriffskoordinaten liefern, sich aber auch neugierig in die Siebziger einschalten und mehr von David Bowie hören möchten.
Stattdessen bekommen sie einen Typen namens Reginald Watson zu sehen, der „Sound of Marching Feet“ zum Besten gibt, ein Hohelied auf das Geräusch marschierender Füße, und „To the Gallows“ über seine Vorliebe, Verräter am Galgen aufgehängt zu sehen. Es gibt in diesem alternativen Geschichtsverlauf offenbar ein Genre des faschistischen Popsongs, das nicht mehr unter der Hand auf ostdeutschen Schulhöfen vertickt wird, sondern in den Mainstreammedien dudelt.
Das zusätzlich Verstörende ist, dass es irgendwie bowieesk klingt. Fascho-Synthie-Pop ist also möglich, im Pop ist kein natürlicher Bullshit-Filter eingebaut. Was einen an das berüchtigte Interview Bowies im „Playboy“ Mitte der Siebziger erinnert, in dem er Sätze wie „Ja, ich glaube stark an den Faschismus“ und „Auch Rockstars sind Faschisten. Adolf Hitler war einer der ersten Rockstars“ zum Besten gab; sein Interviewer hieß Cameron Crowe und sollte später mit „Almost Famous“ die Bibel der adoleszenten Sex-Drugs-and Rock’n’Roll-Filme drehen.
Anknüpfungspunkte zwischen Pop und Faschismus existieren, und sei es nur die Vorliebe für kollektivistische Überwältigungsästhetik. Zu Bowies Ehrenrettung sei allerdings gesagt, dass er sich bald danach in Berlin nicht nur von seiner Kokainverblendung, sondern auch von seiner Nazi-Fixierung befreite, als er dort die Söhne früherer SS-Männer kennenlernte.
Doch in „Lola“ geschieht etwas, das den Popsong Autoritarismus-kompatibel werden lässt, die ewige „she/me“-Lyrik durch Reime auf „gallows“ ersetzt. Mars und Thom begehen eine kolossale Fehlkalkulation, die Nazis starten ein Landungsmanöver, und bald ist die Insel besetzt. Man sieht Adolf Hitler eine Siegesparade in London abnehmen, und Regisseur Andrew Legge zeigt das in seinem Kinodebüt im „Zelig“-Stil, mittels alter Wochenschauaufnahmen, in die neue Personen hineinkopiert werden, wie einst Woody Allens historisches Chamäleon.
Im Gegensatz zu Allens Zeitgeschichtskomödie verfällt „Lola“ jedoch einem sich verdüsternden Ernst. Immer mal wieder malt sich das britische Kino mit schauerndem Grusel aus, was nach einer geglückten Nazi-Invasion geschehen wäre, zum ersten Mal in den Sechzigern mit Kevin Brownlows „It Happened Here“, neulich in der Serie „The Man in the High Castle“ nach Philip K. Dick.
Kultfilm des Jahres
Bei „Lola“ handelt es sich allerdings um eine Zeitmanipulationsgeschichte, und in denen findet der Held immer eine Möglichkeit, das Schiefgelaufene wieder geradezurücken. Das gilt natürlich erst recht, wenn es sich um zwei Heldinnen handelt. „Lola“ hat das Zeug zum Kultfilm des Jahres 2023.
P.S.: „Sound of Marching Feet“ und „To the Gallows“ stammen von Neil Hannon, dem Frontmann der nordirischen Gruppe „The Divine Comedy“, der sich als „Guardian-lesender Champagner-Sozialist“ bezeichnet. Im Gegensatz zu „Night Rally“ von Elvis Costello oder „I Love a Man in Uniform“ von The Gang of Four, die sich vom faschistoiden Herdentrieb distanzieren, folgen Hannons Lieder der Funktion des Popsongs: Sie bestätigen die herrschenden Verhältnisse – in diesem Fall die nazistischen. Ein Soundtrack zu „Lola“ ist nicht erhältlich, und die Liedertexte zu „Marching Feet“ und „Gallows“ sind nirgendwo im Netz aufzufinden. Hannon wird gewusst haben, warum.