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Oh, wie schön ist die Serenissima

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Bernardino Licinis Bildnis einer Frau entsand um 1520 Bernardino Licinis Bildnis einer Frau entsand um 1520
Bernardino Licinis Bildnis einer Frau entsand um 1520
Quelle: Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München
Um 1500 ereignete sich eine sanfte Revolution in der venezianischen Malerei. Die Alte Pinakothek in München widmet dem Übergang von Renaissance zum Barock eine schwelgende Ausstellung. Sie kommt genau zur richtigen Zeit.

Er schaut geradeaus. Direkt, trotzdem ein wenig überrascht von seinem Mut. Die Nase ist leicht gerötet, der Mund ein wenig – die Anspannung? – verzogen. Die leichte Asymmetrie der grünen Augen machen seinen Blick aufregend lebendig.

Dunkelbraune Locken quellen halblang unter seiner eng anliegend schwarzen Mütze hervor. Bis zum Hals schließt eine schwarze Jacke, nur die Spitze eines kragenlosen Hemds ist zu sehen. Hinter ihm ist es monochrom dunkelgrün, links beschränkt eine schwarze Wand wie ein Streifen den Bildausschnitt.

Das könnte die Fotografie eines namenlos jungen, vielleicht 20-jährigen Mannes von heute sein, der sich der Welt stellt, aber noch nicht weiß, wohin er gehört. Es ist aber eine mehr als 500 Jahre alte Holztafel. Lorenzo Lotto hat sie um 1509/10 bemalt. Die Uffizien haben sie aus Florenz nach München entliehen, dort eröffnet das kleine, kostbare Viereck in der Alten Pinakothek die Ausstellung „Venezia 500 – Die sanfte Revolution der venezianischen Malerei“. Dieser Bildauftakt ist gut gewählt, der Titel ebenso. Diese Altmeisterschau kommt genau zur richtigen Zeit.

Bildnis eines jungen Mannes von Lorenzo Lotto (um 1480 bis 1556
Bildnis eines jungen Mannes von Lorenzo Lotto (um 1480 bis 1556)
Quelle: Gabinetto Fotografico delle Gallerie degli Uffizi / Roberto Palermo

Weil sie in ihrer stillen Innerlichkeit einen Ruhepunkt schafft für den vom düsteren Zeitgeschehen aufgewühlten Betrachter von heute. Weil sie sehr sanft und in gekonnt thematischer Übersicht ihre Thesen vom artifiziellen Wendepunkt in der Lagunenmetropole Venedig von der späten Renaissance zum frühen Barock ausbreitet. Weil sie analytisch wie bildermächtig den Zeitgeist einer lang vergangenen Epoche einfängt und ihn durch ihre visuelle Hinterlassenschaft uns Nachgeborenen deutlich macht.

Und weil wir uns mit Weltflucht, der Sehnsucht nach Arkadien angesichts historischer kriegerischer Ereignisse und Pestwellen durchaus identifizieren können. Schließlich kann die Ausstellung – Teil einer groß angelegten, wissenschaftlichen Bestandsaufnahme des italienischen Bilderschatzes der Staatsgemäldesammlung in München – selbst als populäres Zwischenergebnis erstaunlich schlüssige Zuschreibungen und glanzvolle Restaurierungen stolz vorzeigen. Also – musealer Auftrag blendend erfüllt.

Aber dieses lang entschwundene, heute von Myriaden von Touristen mehr oder weniger in den immer noch eindrücklich atmosphärischen „beaux restes“ mit der Seele gesuchte Venezia, es klingt hier nicht nur wunderbar und lange nach. Es entfaltet einmal mehr seinen Zauber durch den kunstgeschichtlich einenden Blick durchaus widerstreitender Malertemperamente, die hier geboren und ausgebildet wurden, zurückkehrten oder nur für einige Zeit verweilten. Und die eben doch eine eigenständige, für Venezianer offenbar unabdingbar willensstarke Schule erstehen ließ.

An diesem stilistischen Schnittpunkt 1500 überlagert sich zudem in der bereits tausendjährigen, oftmals eigenwillige Wege gehenden Kunststadt wie Stadt der Künste das scheinbar klassische Schaffen eines Giovanni Bellini und Giorgione mit dem der viel länger lebenden, uns heute revolutionärer erscheinenden Größen Tintoretto und Tizian.

Was diese Schau zudem besonders macht: Sie konzentriert sich auf Porträts und Landschaft, beides Bildmotive, die die Venezianer dank ihrer regen Handelskontakte und der deshalb auch hier rezipierten Vertreter der nordischen, sprich: flämischen Schule entscheidend weiterentwickelt haben. Wir sehen also keine Palazzi und Piazze, wenig Menschen, null Schiffsverkehr auf dem Canale Grande; höchstens bauliche Anklänge im Hinterland der Terraferma, etwas die charakteristischen Hauskamine.

Giovanni Bellinis Aria mit Kind zwischen Johannes dem Täufer und einer Heiligen (um 1505)
Giovanni Bellinis Aria mit Kind zwischen Johannes dem Täufer und einer Heiligen (um 1505)
Quelle: Gallerie dell'Accademia di Venezia/su concessione del Ministerio della Cultura

So wie überhaupt der Beginn des Cinquecento eine eskaptistische Landflucht, jedenfalls eine Beschäftigung mit bukolischen Dichtungen der Antike wie der Neuzeit einleitete. Die reichen Familien entwickelten mit ihren Landgütern, Gärten und Ackerbaufluren die natürlich vom Humanismus beeinflusste Kultur der Villeggiatura.

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Hirten in Arkadien, das wenigstens wollten die durchaus machtbewusst sich ihren repräsentativen Adelsaufgaben stellenden jungen Bürger Venedigs zumindest für ein paar Lektüre- oder Diskussionsstunden in Salotti, Ridotti oder eben Akademien sein. Nach der angesagten Beinkleidermode nannten sie sich frivol „compagnie delle calze“, Strumpfhosengesellschaften.

Und die Maler – der Marktgedanke war und ist in Venedig schon immer sehr ausgeprägt – kamen diesen Bedürfnissen auf verschiedenerlei Arten nach. Ob in den rätselhaft deutungs-, noch mehr zuschreibungsresistenten Bildern der belle donne, meist anonymer, oft idealtypisch komponierter Frauenbildnisse als gefälliges Genussobjekt – selten auch Hochzeitsbild oder echtes Porträt.

Faszinierende Momentaufnahme

Auch in dem ähnlichen Typus lyrischer, vor allem vom Giorgione-Umkreis entwickelter Jünglinge. Hier schwingt stets eine auch in vielfältiger Symbolik von Requisiten wie Haltungen dingfest machbare Erotik mit, die beiderlei Geschlechter eher an- denn erregen sollte. Die Kunst der subtilen Verführung, norgendwo beherrschte man die so souverän und unaufdringlich wie im mit seinen Mysterien im Gewirr der Gassen und Kanäle spielenden Venedig.

Tragen die Männer zunächst noch schlichte Gewände wie Lottos Jüngling, die strengen Kleidervorschriften der beengten, auf dem Wasser gebauten Metropole erforderten dies, so offenbar der Reigen der Bildnisse, wie doch immer mehr bunte Individualität durchbricht, das Mienenspiel unmittelbarer, fast wie eine bis heute faszinierende Momentaufnahme wirkt, Accessoires reichhaltiger und eigenwilliger werden.

Gerade im Fall Giorgiones kann zudem ein bisher in der Münchner Residenz hängendes Doppelbildnis des (vermutlich) Universalgelehrten Trifone Gabriele und seines adeligen Schülers Giovanni Borgherini durch Recherchen wie technische Untersuchungen schlüssig zugeschrieben werden. In jedem Fall zeigt die qualitätsvolle Malerei einen älteren, kahlköpfigen Mann mit Pelzkragen und braungelockten Jüngling mit effektvoll drapiertem Schal in raffinierter Haltung. Der über die Schulter dem Betrachter zugedrehte Blick gereichte in diesen Jahren (bis zu seinem frühen Pesttod 1510) zudem zu einer besonderen, gern dann von anderen aufgenommenen Giorgione-Manier.

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Auch ein andere Entschlüsselungskrimi aus dem Depot konnte gelöst werden. Ein nun der Tintoretto-Werkstatt zugedachtes männliches Dreigenerationenbild der Familie Maggi offenbart, dass das Kind, unehelich empfangen von der Mutter in Abwesenheit des Vaters als Handelsherr von diesem – auch durch diese Tafel – erfolgreich erblich legitimiert wurde; der Großvater schaut dem wohlwollend zu und bekräftigt die dynastische Tat schriftlich.

Alte Bilder haben, das ist nichts Neues, gern versteckte Botschaften, das war bisweilen nur ein geistvolles Spiel. Um diese auch wirtschaftlich und politisch so entscheidenden Zeitenwende werden aber selbst die obligaten religiösen Aufträge, sei es von den Stiftern, Bestellern oder Ausführenden gerne benutzt, um dem Zeitgeist zu frönen.

Tizians junge Frau bei der Toilette (um 1515)
Tizians junge Frau bei der Toilette (um 1515)
Quelle: bpk / RMN – Grand Palais / Thierry Le Mage
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Kreuzigungen oder Madonnen von Giovanni Bellini, Lorenzo Lotto, Giovanni Previtali oder Bartolomeo Veneto werden erweisen sich als Vorwand, um vor allem neue Perspektiverkenntnisse für den Hintergrund umzusetzen, Flora und Fauna vorzuführen, die Hügelausläufer der Südalpen und ihre befestigten Städtchen neugierig zeichnerisch zu erschließen. In zwei den Heiligen Hieronymus in der Einöde zeigenden Tafeln von Giovanni Bellini wie Cima da Conegliano scheint gar die pastorale Kulisse weit bedeutender als die religiöse Staffage.

Oder sie wird gleich ganz weggelassen, vor allem in der Druckgraphik verbreitet sich die Hommage an die pure Landschaft, nunmehr eher heidnisch konnotiert mit Nymphen, nackten Göttern, Feiernden, Musikern. Da baden die Musen des Apoll und lassen einfach ihre Kleider liegen. Und um die Heiligen spielen Hoppelhäschen.

Vor allem das reiche Schaffen von Giulio und seinem vermutlich deutschen Adoptivsohn Domenico Campagnola auf diesem Gebiet wird hier gewürdigt. Und am unerreichbaren Horizont steht in seiner glorios hoheitsvollen Rätselhaftigkeit die natürlich unausleihbar in Venedig verweilende „Tempesta“ Giorgiones.

Der Himmel, die Wogen, das Wasser

Die nur scheinbare thematische Einschränkung wird für die Münchner Ausstellung zur Tugend. Weil sich ihre Thesen leicht herauskristallisieren und trotzdem in einem Parcours von 85 Artefakten, dabei mit bedeutenden, die eindrücklichen Lokalbestände um Leihgaben aus Berlin, Dresden, Wien, Venedig, Florenz, Rom, Madrid, Budapest, London, New York, Washington ergänzend, erschöpfungsfrei abgeschritten werden kann. Einige Statuen, ein Kartenriss der Lagunenstadt, um die Akteure aufspüren zu können sowie drei Klanginstallationen ergänzen diesen einmal mehr bewährt vom Sammlungsdirektor Andreas Schumacher kuratierten Bildergang atmosphärisch dezent.

Und im besonderen, gern in silbrigrosa Sfumato sich auflösenden Licht dieser Bilder ist dann Venedig, sein Himmel, die Wogen und das Wasser der Kanäle wie der Lagune eben doch auf das Höchste stimmungsvoll anwesend. Unsichtbar, aber präsent – so wie es der Serenissima gebührt.

Venezia 500. Die sanfte Revolution der venezianischen Malerei. Alte Pinakothek, München, bis 24. Februar 2024. Katalog 39,90 Euro

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