Haben Sie heute schon darüber nachgedacht, was Sie am Heiligabend mit Ihren Haaren machen? Hochsteckfrisur, französischer Zopf, raspelkurz, ein bisschen Gel rein? Fühlen Sie sich, wenn ich das frage, geschlechtsübergreifend angesprochen? Oder fragen Sie sich, wie zur Hölle ich darauf komme, Ihnen als Mann zu unterstellen, Sie könnten sich über die Festtage mit dem Gedanken an eine komplexe Flechtfrisur tragen? Ist für sie als Frau die Vorstellung, sich die Haare „raspelkurz“ zu schneiden, innerlich noch immer mit eher unvorteilhaften Bildern der Androgynie verknüpft?
Haare sind Kulturkampf, das wurde gerade aufs grellste deutlich als die neu gekrönte „Miss France“, die 20-jährige Eve Gilles aus Nord-Pas-de-Calais, zum Gegenstand einer Diskussion wurde, die man als skurril abtun möchte, würde sie nicht so beispielhaft verdeutlichen, wie die Logik des immer gleichen Kulturkampfes auf nahezu jeden Bereich unserer Gegenwart übergreift. Ihr „Pixie Cut“, so der ernst gemeinte Vorwurf an die junge Mathematikerin, sei „woke“, sie arbeite daran, „der Gesellschaft woke Werte einzuflößen.“
Tatsächlich ist Gilles die erste kurzhaarige Miss jemals in der Geschichte der „Miss France“-Wahlen. Tatsächlich nimmt sie für sich in Anspruch, ein Frauenbild der „Vielfalt“ fördern zu wollen und bedient sich dabei der gängigen Floskeln aus dem Bereich der „Body Positivity“, die einen hermeneutisch immer dann besonders fordern, wenn diejenige, die sie äußert, derart normschön ist wie Gilles.
Tatsächlich reiht sich die Wahl von Gilles ein in eine Reihe von Öffnungsmaßnahmen, die die französischen Miss-Wahlen in den letzten Jahren vorgenommen haben – so dürfen theoretisch mittlerweile auch Transfrauen und Mütter im Rampenlicht des „Male Gaze“ bikinitragend die Treppe hinunterlaufen.
Wahrscheinlich ist der Vorwurf der „Wokeness“ also sogar irgendwie gerechtfertigt, wenn man ihn in seiner ganzen unterkomplexen Dauerpräsenz als gleichbedeutend mit „irgendwie progressiv und zeitgeistig“ liest. Eine junge Frau, die im Setting der Miss-Wahl, bei der es um eine radikale Logik des Gefallens geht, diese Logik unterwandert, in dem sie etwas tut, das nicht gefällt, wird zum Symbol einer Unstimmigkeit. Wie die jeweilige Zeit mit dieser Unstimmigkeit umgeht, sagt viel über sie aus.
Die aufgeheizte Diskussion um Gilles zeigt, wie eintönig und lustbefreit solche Debatten dieser Tage sind: Man kann Gilles nicht wirklich als progressive Ikone feiern, weil sie ja, abgesehen von ihrer völlig mainstreamigen Kurzhaarfrisur, gar nichts tut, was sie zum Symbol einer Befreiung machen würde. Und umgekehrt ist der Vorwurf, ihre Frisur sei irgendwie „unweiblich“, so absurd, dass man glauben will, diejenigen, die ihn machen, haben die letzten Jahrzehnte unter irgendwelchen sprichwörtlichen Steinen verbracht.
Von Jean Seberg über Halle Berry bis hin zu Emma Watson: Der Deutungsraum für eine weibliche Kurzhaarfrisur ist mittlerweile so groß, dass er schon fast beliebig ist. Kurzhaarig ist eben lange nicht gleichbedeutend mit „androgyn“, „lesbisch“ oder eben „woke“. Die Autorin Eva Tepest schrieb vor einiger Zeit in ihrem Versuch eines „subjektiven queeren Manifests“, queer zu sein bedeute, keine kurzen Haare zu tragen – weil kurze Haare das Signum heterosexueller Hipstermädchen geworden seien. Man kann von dieser absoluten Beliebigkeit halten, was man will: Sie war da. Wenn es jetzt ein derart breites gesellschaftliches Erregungspotenzial gibt, das die Diskussion in die Antike zurückschleudert, sagt das nichts Gutes über unsere Zeit.