Claus Peymann und Thomas Bernhard, das ist eine Künstlerbeziehung wie Martin Scorsese und Robert De Niro, von langer Dauer und großer Produktivität. Nun ist Bernhard zwar schon länger tot, aber seine Texte leben weiter. Und wie Scorsese mit „Killers of the Flower Moon“ ein Alterswerk über den amerikanischen Traum in die Kinos gebracht hat, feiert Peymann jetzt mit Bernhards „Minetti“ Premiere am Münchner Residenztheater. Es ist ein großer Abend über das Theater und das Alter.
86 Jahre alt ist Peymann inzwischen, seinen ersten Bernhard hat er vor über einem halben Jahrhundert inszeniert – die Farce „Ein Fest für Boris“ –, es folgten allein über ein Dutzend Uraufführungen. Und während Peymann unter anderem in Stuttgart, Bochum, Wien und Berlin sein Publikum fand, haben ihn seine Wege – bis auf eine Ausnahme, die auch schon über ein halbes Jahrhundert zurückliegt – nie nach München geführt. Das holt er nun nach.
Das klingt alles schon wie Museumstheater und nach den Nachrichten von vorgestern, die in Günther Rühles großer Theatergeschichte besser aufgehoben wären, aber bitte nicht auf einer Gegenwartsbühne. Oder? Zudem Peymann, Jahrgang 1937, mit Achim Freyer einen alten Bekannten für Bühne, Kostüme und Licht mitgebracht hat, der Jahrgang 1934 ist. Immerhin Hauptdarsteller Manfred Zapatka ist erst in den 1940er-Jahren geboren worden.
Achtung, Altersheim! So mag es da die Generation Z gruseln. Einfach nur noch cringe? Doch Moment! Die Alten haben es noch drauf. „Minetti“ ist, wie es im Titel heißt, „Ein Porträt des Künstlers als alter Mann“, doch nicht als Selbstfeier alter weißer Künstlermänner, sondern als überraschend frische Selbst- und Weltbefragung. Reflexion ist kein Vorrecht der Jugend (und war es eigentlich nie). Und so ist – man mag es zum Staunen finden – „Minetti“ keineswegs nur Museumstheater, sondern sehr gegenwärtig.
Die Rolle seines Lebens
Zapatka – ein Ereignis an diesem Abend! – spielt den alten, einsamen Schauspielstar, gestrandet in einer Hotelhalle in Oostende, abgestellt in diesem dunklen Zwischenraum. Auf einem roten Plüschsofa lümmelt eine obszöne Alte als wandelndes Schaumweinfass (Barbara Melzl), der Portier (Mauro Nieswandt) schaut von seinem Buch auf, nein, keine Nachricht vom Schauspieldirektor aus Flensburg, auf den Minetti vergeblich wartet, um nach 30 Jahren Pause und Selbstverbannung („Dinkelsbühl!“) noch einmal seine Lebensrolle zu spielen: Shakespeares Lear.
Minetti ist ein Verzweifelter, der sein Leben der Kunst geopfert hat – ein Tausch, der nicht rückgängig zu machen ist. In seinem großen Koffer liegt nicht nur die Lear-Maske von James Ensor, sondern auch seine gesammelten Kränkungen. Einen solchen Koffer schleppt jeder mit sich herum. Die in die Tage gekommene Hotelhalle ist seine letzte Bühne. Das Leben und die Jugend zieht als vergnügtes Partyvölkchen an ihm vorbei, ein junges Mädchen (als fantastischer Kontrapunkt: Naffie Janha) wartet Miles Davis hörend auf ihren Freund, eher unfreiwillig belustigt erträgt sie den Alten.
Die Alten müssen weg, so heißt es in der allseits beliebten Erzählung vom Kampf der Generationen. Doch wohin eigentlich, wenn sie niemand mehr braucht? „Minetti“, 1976 mit Bernhard Minetti selbst in der Hauptrolle aufgeführt – Regie: Peymann! – zeigt trotzdem, dass die Jugend ihr Recht auf ein eigenes Leben hat, das nicht dem Gesetz der Großväter unterstellt sein kann. Dieses Nebeneinander und Aneinandervorbei der verschiedenen Lebenszeitalter, die für jeden Menschen vorgesehen sind, inszeniert Peymann mit großem Geschick.
Nach knapp zwei Stunden, in denen die Theaterkunst aus einer vordigitalen Epoche zelebriert wird, gelingt Peymann ein unvergessliches Schlussbild, für das allein es sich lohnt, „Minetti“ zu sehen. Mit seiner beeindruckenden Maske sitzt Zapatka in dem Schneesturm, der draußen tobt und nicht nur die Bühne, sondern auch die ersten Reihen mit Kunstschnee eindeckt, sobald sich die Hoteltür öffnet. Nun spielt er nicht den alten König, dem die Welt abhandenkommt, er ist es. „Ein alter Mann ist stets ein König Lear“, formulierte es Ruth Klüger einmal.
Ist „Minetti“ auch ein Selbstporträt von Peymann, dem Künstler als altem Mann, befremdet vom Treiben der jüngeren Generationen? Es ist ein Abend ohne Furor, der stattdessen fast melancholisch fragt, ob in der vielbeschworenen Vielfalt von heute auch die Älteren ihren würdigen Platz finden können, gerade in Hinblick auf Altersarmut – für Minetti reicht das Geld im Stück nicht für eine Rückfahrkarte – und Renten. In einem Interview sagte Peymann kürzlich, es wäre ein guter Witz, würde man „Minetti“ am Tag seiner Beerdigung auf den Spielplan setzen. Das nennt man wohl ein Vermächtnis.