WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Kultur
  3. Theater: Die Familie als Verblödungsapparat

Kultur „Baracke“

Die Familie als Verblödungsapparat

Freier Mitarbeiter im Feuilleton
Margaret-Thatcher-Zombie: Evamaria Salcher Margaret-Thatcher-Zombie: Evamaria Salcher
Margaret-Thatcher-Zombie: Evamaria Salcher
Quelle: Thomas Aurin
Das neue Theaterstück von Rainald Goetz wurde mit großer Spannung erwartet. Tatsächlich erzählt der Premierenabend eine beunruhigende Geschichte der deutschen Gegenwart. Was uns Rainald Goetz mit seinem thüringischen Familienstück sagen will.

Frech grinst er einen an, dieser Smiley, der auf den knallgelben PVC-Streifenvorhang gesprüht ist. Alles gut? Nicht bei Rainald Goetz. In seinem neuesten Stück „Baracke“ geht es um die Abgründe des „Keep Smiling“ – in der Familie, im Staat und in Deutschland. Bei der Uraufführung am Deutschen Theater Berlin tut sich hinter dem Vorhang ein Pandämonium auf, in dem die Gespenster der Vergangenheit auf die Geister der Gegenwart treffen.

Mit „Baracke“ hat Goetz ein deutsches Familienstück geschrieben. Da gibt es das Liebespaar Bea und Ramin, sonst kaum Namen, nur Vater, Mutter, Kind. Es spielt in Krölpa in Thüringen – das kennt man noch aus „Johann Holtrop“ –, in München und in Dresden, grob von der „Wende“ bis zur Gegenwart. Es ist eine kleine und unheimliche Gesellschaftsgeschichte der so wenig vereinten und einigen Bundesrepublik, die Goetz mit der Räuber-, Terror- und Mörderbande „Nationalsozialistischer Untergrund“ verknüpft.

Lesen Sie auch

Die von Mareike Beykirch gespielte Bea ist eine wenig damenhafte Erscheinung, in Sporthose und Hoodie, bauchfrei, aber mit Bauchtasche, wird sie von zwei Männern umworben, was der Realität in manchen Regionen Ostdeutschlands inzwischen erschreckend nahekommt. Da gibt es Janek Maudrich als Uwe, einen Motoradproll, und Ramin, von Jeremy Mockridge als verhuschter und unbeholfener Glitzerpulliträger gespielt, der sich für Wäschetrockner und Pfirsichquarkkäsekuchen begeistert. Wer die sicherere Wahl ist, ergibt sich von selbst.

Es folgt allerlei paartypisches Gezänk, man bedeckt sich mit Vorwürfen, hält sich Enttäuschungen vor und so weiter. Die Liebe ist die Bühne der Zwei, sagt Alain Badiou, auf der nur die selbstgegebenen Gesetze gelten. Goetz macht die Gegenprobe, auf dieser Bühne gibt es nichts als Scheitern, das Selbstgegebene ist nur das Übernommene. Warum tut man sich das an? In der Sprache von Goetz ist das wie eine von Niklas Luhmanns „Liebe als Passion“ inspirierte Boulevardkomödie für Soziologen: präzise, lächerlich und hochreflexiv.

Die Geschichte von Bea, Ramin und Uwe ist aber auch eine über die verlorene Jugend von Krölpa, also des Ostens. Eine „Jugend ohne Staat“, heißt es bei Goetz. Man denkt an Thomas Heise, der 1992 in seinem Dokumentarfilm „Stau“ die rechten Halbstarken aus Halle an der Saale zeigte. Die in der DDR bereits halb in den Staat aufgelöste Familie hinterließ Ruinen, in denen die in ihrer Autorität degradierten Eltern von ihren als Nazis kostümierten Kindern gedemütigt wurden, als Ersatz für den über Nacht zusammengebrochenen Fürsorgestaat. Der „Kinderterror“, so Goetz, mit dem alles beginnt? Auch der NSU?

Je weiter der Abend fortschreitet, desto deutlicher merkt man, dass Goetz einen philosophischen und soziologischen Diskurs in Szenen führt, der seinen Ausgang in der Philosophie des deutschen Idealismus hat. Kant und Fichte denke die bürgerliche Familie neu, Hegel nennt sie in seiner „Rechtsphilosophie“ die „unmittelbare Substanzialität“ der Sittlichkeit, also der „Idee der Freiheit“. Bei Goetz schlägt das ins Gegenteil um, in die Unfreiheit, die „Verblödung durch Familie“. Er zeigt den Zerfall der Familie, ihre soziale Unmöglichkeit, das Scheitern der gesellschaftlichen Elementarform.

Lesen Sie auch

Den großen historischen Rahmen von Goetz inszeniert Claudia Bossard, die Regisseurin der Uraufführung, als Begegnung der Motorradgang mit ihrem geschichtlichen Double mit Reifrock und Perücke. Techno trifft auf Kammermusik. Natali Seelig und Andri Schenardi als frühe Bürger sind den neubarbarischen Nachbürgern zwar äußerlich nicht ähnlich, jeder steckt in seinen jeweiligen Kostümen (entworfen von Andy Besuch). Doch sie teilen, wie die in ihrer Bühnensprache gelegentlich zur Überdeutlichkeit neigende Bossard zeigt, eine gemeinsame Welt der sozialen und psychischen Strukturen.

Der Abend kreist – mit der Drehbühne von Elisabeth Weiß im wörtlichen Sinne – um den zentralen Satz: „Alle Gewalt geht von der Familie aus.“ Vieles bleibt im Assoziativen, wie das Bild im Hintergrund, das eine herbstliche Waldszene zeigt. Buchenwald? Deutscher Herbst? Einmal wird die Deutschlandfahne aus dem Klo gezogen. War das nicht längst hinuntergespült? Kommt es immer wieder hoch, die ganze alte Scheiße? Geschichte stirbt nicht. Als Beweis tritt Evamaria Salcher als Untote auf, ein Margaret-Thatcher-Zombie mit Hakenkreuz. Bekanntlich sagte Thatcher, es gebe keine Gesellschaft, nur Individuen und deren Familien.

Lesen Sie auch

Die Inszenierung setzt, wie bereits erwähnt, auf Überdeutliches, nicht immer zum Besten. Das Finale ist die Restauration der bürgerlichen Familie, der Ort – „Villa Weißer Hirsch“ – verweist auf Uwe Tellkamps „Der Turm“. Es ist der Jahrestag der Selbstenttarnung des NSU, die „Freunde von früher“. Zusätzlich zur Retrokulisse läuft noch ein Videoscreen: Trump, Meloni, Andrew Tate, Schröder, Kurz, Höcke, Weidel, Netanjahu, der Papst, Zuckerberg, Musk, Bush jun., … Eine buntgemischte „Achse des Bösen“, die auf politischen Erklär- und sonstigen Mehrwert setzt, doch nicht auf eine subtilere Wirkung des Unheimlichen. Ähnlich überzeichnet ist es, wenn das Ensemble in Kostümen von Twix, KitKat und Bifi als Verdinglichungskritik umhertanzt.

Anzeige

Interessanter ist, wie die Inszenierung mit dem Autor Goetz umgeht. Der wird nämlich ab der ersten Szene, wo die Titel seiner Bücher in den Saal gerufen werden, in die Nähe eines musealen Gegenstands gerückt. Wie die alte bürgerliche Familie zunächst in einer Vitrine haust, bevor sie in Dresden wieder freigelassen wird, gibt es auch eine Ausgabe von „Abfall für alle“ hinter Glas im „Museum des 21. Jahrhunderts“, später außerdem noch einen Klagenfurt-Gedächtnisschnitt über die Stirn. Nun sitzt der Autor selbst im Publikum, fünfte Reihe Mitte, warum wird erklärt, wer Goetz für die Popkultur war? Oder zeigt es die eigene Annäherung? Immerhin ist Bossard 1985 geboren, zwei Jahre nach dem berühmten Auftritt beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb.

Lesen Sie auch

Oder ist es der Goetz-Sound, diese Mischung aus Niklas Luhmann, Popkultur und Gegenwartskritik, die einem heute fremd erscheint? Wie aus dem BRD-Museum, als man noch an Erlösung durch Pop glaubte? Wer heute noch Erlösungsversprechen sucht, muss wohl wieder in die katholische Kirche gehen. Obwohl der Sound noch immer für Begeisterung in den Feuilletons sorgt, weil er selbst von den großen Zeiten des Feuilletons zeugt – wie ein eingestreuter, aber irre guter MeToo-Kommentar beweist –, grenzt das doch an Nostalgie. Wie auch der Titel „Baracke“, der im Deutschen Theater an die Zeiten erinnert, als die „Lost Generation“ noch spektakulär mit Mark Ravenhills „Shoppen & Ficken“ porträtiert wurde.

Was tun? „Die Familie abschaffen“, wie Sophie Lewis als Vertreterin eines neuen Abolitionismus fordert? Bei Goetz schimmert etwas anderes durch, so ähnlich wie bei Michel Houellebecq in „Vernichten“: die Liebe als Modell, für den Anderen Verantwortung zu übernehmen, für seine Interessen und sein Begehren. Es ist ein zarter Vorschein von Wahlverwandtschaft, den Goetz sofort wieder mit dem drohenden Umschlag ins Gegenteil versieht: Bei Misslingen droht „Stumpfsinn und die übliche Brutalität des Zusammenlebens“. Es ist am Ende die große Frage, wie Zusammenleben überhaupt gelingen kann. Das sind Fragen, die große Theaterabende machen.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema