Um 1900 wurde die Schule zum Problem in der Literatur. Hermann Hesse, Thomas Mann und Robert Musil thematisierten plötzlich die Verwüstungen, die die Schule in den Seelen junger Menschen anrichtet. Schulhorror-Prosa wie „Die Verwirrungen des Zöglings Törless“, „Unterm Rad“, die Episoden mit dem gottgleich strengen Direktor Wulicke in Thomas Manns „Buddenbrooks“ oder Friedrich Torbergs „Der Schüler Gerber“ waren paradoxerweise eine Folge der großen wohlgemeinten Reformen und Modernisierungen des Bildungswesens.
Wenn in Hesses Roman „Unterm Rad“ aus dem Jahre 1906 der hochbegabte Schüler Hans Giebenrath am Ende ertrinkt, dann ja nicht, weil er in der Schule auf Sadisten gestoßen ist, sondern gerade weil es seine vielen Förderer – vom Rektor der Lateinschule über den Stadtpfarrer bis hin zu den Lehrkräften im legendären schwäbischen Seminar Maulbronn – vielleicht ein bisschen zu gut meinten und ihn allzu sehr förderten und forderten. Seine „Hypertrophie der Intelligenz bei einsetzender Degeneration“ ist dem nicht gewachsen.
Als Schulbesuch selbstverständlich war und die Alphabetisierungsraten höher lagen als heute, entdeckte man plötzlich die Schattenseiten des Systems. Der düster getönte Schulroman wurde das literarische Genre der Zeit. Ideologischer Hintergrund solcher Systemkritik waren die Lebensreformbewegung, die danach strebte, Menschen aus allen Korsetten zu befreien. Geschildert wird ein autoritäres System, dessen Sinn die Herrichtung der Schüler zu Untertanen war.
Wenn jetzt in vielen Bundesländern die Kinder wieder nach den Ferien zurückkehren oder neu eingeschult werden, maulen sie vielleicht ein wenig. Aber verglichen mit dem, was „Unterm Rad“ schildert, hat sich doch zumindest vordergründig ein fundamentaler Wandel vollzogen. Hesse fasst die damaligen Ansichten durchaus zutreffend zusammen: „Wie ein Urwald gelichtet und gereinigt und gewaltsam eingeschränkt werden muss, so muss die Schule den natürlichen Menschen zerbrechen, besiegen und gewaltsam einschränken; ihre Aufgabe ist es, ihn nach obrigkeitlicherseits gebilligten Grundsätzen zu einem nützlichen Gliede der Gesellschaft zu machen und Eigenschaften in ihm zu wecken, deren völlige Ausbildung alsdann die sorgfältige Zucht der Kaserne krönend beendigt.“ Das würde auch heute kein Lehrer mehr so sagen.
Trotzdem spricht das Buch auch 118 Jahre später junge Menschen an. Im Unbehagen des Hans Giebenrath erkennen sie ihr eigenes wieder. Warum? Zum einen, weil Hans’ seelische Turbulenzen ewige Pubertätsphänomene sind: Eltern, die einen nicht verstehen, aber die man trotzdem stolz sehen möchte, haben viele. Und hin und her gerissen zwischen Kindheitsfreiheit und dem Wunsch, erwachsen zu werden (für den im Buch das „Sie“ im Seminar steht) ist jetzt noch mancher. Zum anderen richtet der Staat noch immer seine Bürger in der Schule so zu, wie er sie braucht. Empfindsame Jugendliche fühlen, dass der „mündige Bürger“ nur eine modernisierte Variante des Untertanen ist.