WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Kultur
  3. Valentin Moritz: Erst fasste er sie an. Dann schrieb er darüber. Beides gegen ihren Willen

Meinung Debatte um „Oh Boy“

Erst fasste er sie an. Dann schrieb er darüber. Beides gegen ihren Willen

Redakteurin im Feuilleton
Valentin Moritz, Autor des fraglichen Textes Valentin Moritz, Autor des fraglichen Textes
Valentin Moritz, Autor des fraglichen Textes
Quelle: Vincent Schaack
Hier können Sie unsere WELT-Podcasts hören
Um eingebettete Inhalte anzuzeigen, ist deine widerrufliche Einwilligung in die Übermittlung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten notwendig, da die Anbieter der eingebetteten Inhalte als Drittanbieter diese Einwilligung verlangen [In diesem Zusammenhang können auch Nutzungsprofile (u.a. auf Basis von Cookie-IDs) gebildet und angereichert werden, auch außerhalb des EWR]. Indem du den Schalter auf „an“ stellst, stimmst du diesen (jederzeit widerruflich) zu. Dies umfasst auch deine Einwilligung in die Übermittlung bestimmter personenbezogener Daten in Drittländer, u.a. die USA, nach Art. 49 (1) (a) DSGVO. Mehr Informationen dazu findest du hier. Du kannst deine Einwilligung jederzeit über den Schalter und über Privatsphäre am Seitenende widerrufen.
Sollte man als Täter seinen eigenen sexualisierten Übergriff öffentlich machen? Der Autor Valentin Moritz hat es getan – gegen den Willen der Betroffenen. Doch das ist noch nicht einmal das Schlimmste an dem Fall.

Zweimal hat er ihr Nein ignoriert: einmal, als er sie gegen ihren Willen anfasst. Und ein zweites Mal, als er diesen Vorfall gegen ihren expliziten Wunsch veröffentlicht. Das, was den Opfern eines „sexualisierten Übergriffs“ und der „Überschreitung körperlicher, nicht bloß verbaler Grenzen“, wie der Autor Valentin Moritz sein eigenes Handeln nennt, meist verwehrt bleibt, erhält er, der sich selbst als „Täter“ bezeichnet, wochenlang im Überschuss: positive Aufmerksamkeit und Lob für seinen Mut.

In einem Beitrag für den von ihm und Donat Blum herausgegebenen Sammelband „Oh Boy: Männlichkeit*en heute“ hatte Moritz das vermeintlich Unaussprechliche zur Sprache gebracht: Er hatte davon berichtet, wie er selbst einer Frau gegenüber zum Täter geworden ist.

„Es tut sehr weh“, seufzte Moritz Anfang Juli in die Kamera der Sendung „SWR Kultur“. Es gebe so vieles, was ihn zerfresse, informiert er auch in seinem Text, aber all das wolle er nun nicht länger verschweigen. Sein Prosastück „Ein glücklicher Mensch“, das gemeinsam mit 17 anderen Beiträgen über Männer in der Krise im Kanon Verlag erschienen ist, wirft viele Fragen auf, allen voran die nach der Rolle des Mannes im Feminismus. Und konkreter die nach den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, die eigene Täterschaft zu reflektieren.

Auslieferung vorerst gestoppt: Das Debattenbuch „Oh Boy“ (Kanon Verlag Berlin)
Auslieferung vorerst gestoppt: Das Debattenbuch „Oh Boy“ (Kanon Verlag Berlin)
Quelle: Kanon Verlag Berlin

Über den Instagram-Account der Initiative „Keine Show für Täter“ meldete sich vor wenigen Tagen die Frau zu Wort, die nach eigenen Angaben durch Valentin Moritz im Mai 2022 sexualisierte Gewalt erlebt hat. Sie habe Moritz schriftlich mitgeteilt, dass sie nicht wolle, dass er den Übergriff, „egal wie anonymisiert auch immer“, benutze.

Ihr Statement führte zu einer Welle der Solidarisierungen, die man als Sturm im Wasserglas des Berliner Literaturbetriebs abtun kann. Sie steht aber für etwas Größeres. Autofiktionale Selbstbetrachtungen, die unter dem Genre „Kritische Männlichkeit“ firmieren, haben gerade Konjunktur. Mit dem Skandal um Valentin Moritz scheint es, als habe das Trendgenre jetzt einen Wendepunkt erreicht. Woraus speist sich das neue Unbehagen an der männlichen Selbstbefragung?

Bereits zum Erscheinen des Sammelbandes bewertete die „Literarische Welt“ den Text von Moritz als dezidiert „verunglückt“. Und auch wenn Autor und Verlag mit dem Nimbus der Authentizität einerseits und gleichzeitig mit der „literarischen“, heißt fiktionalen Ebene des Textes kokettieren, muss man sich gar nicht investigativ in die Niederungen der Persönlichkeitsrechts- und Kunstfreiheitsdebatte hinabbegeben, um Moritz’ Text als das zu lesen, was er ist: ein Zeugnis für die unvorhersehbaren Wendungen der gesellschaftlichen Gunst, vor denen selbst die vorsichtigsten Frontkämpfer des Fortschritts nicht gewappnet sind.

Lesen Sie auch

Was genau ruft dieses Störgefühl hervor, wenn jemand seine Verfehlungen offenlegt? Was provoziert an der Pose der permanenten Empfindsamkeit? Ist es die Tatsache, dass Männer nun auch noch feministische Themen besetzen? Der Feminismus hatte doch genau das ständig gefordert, dass die Männer mithelfen beim Emanzipationskampf. Oder liegt es am Umstand, dass in Moritz’ Text die weibliche Perspektive keine Rolle spielt? Die Aufgabe, mit einem einzigen Text allen gerecht zu werden, wirkt vermessen.

Gegen das „tief verinnerlichte Schweigen unter Männern“ anzuschreiben, das erklärten die Herausgeber zum Ziel von Moritz’ Text. Die Schriftstellerin Mithu Sanyal, die als einzige Frau der Anthologie das Nachwort verfasste und die meisten Texte daher schon vor der Veröffentlichung kannte, erklärt auf Nachfrage, dass sie „sehr glücklich“ darüber war, „dass es einen Text gab, der sich auch damit auseinandersetzt, wo Menschen selbst übergriffig geworden sind“.

Ein Sammelband zum Thema Männlichkeiten oder überhaupt Geschlecht, der diesen Aspekt nicht berücksichtigt hätte, wäre für sie unvollständig gewesen. Allein statistisch sei es nicht möglich, dass sie so viele Menschen kenne, „die sexualisierte Grenzüberschreitungen erfahren haben, aber keine, die sie ausgeübt haben“. Obwohl es „in der Form, wie das in dem Buch versucht wurde, sehr schiefgelaufen“ sei, halte Sanyal es für „politisch wichtig“, über unsere Grenzüberschreitungen zu sprechen, statt wegzuschauen. „Wenn wir eine Rape Culture verändern wollen, müssen wir eben auch das Tabu des Darüberredens aufbrechen.“

Gefahren des Geständnisses

Anzeige

Erkenntnistheoretisch hinterlässt ein absoluter Ausschluss der Täterperspektive aus dem Diskurs natürlich Informationslücken. Moralisch verstellt er womöglich den Weg zu wichtigen, auch juristisch relevanten Geständnissen. Doch im Fall Moritz scheint nicht das Was, sondern das Wie entscheidend.

An literarischen Exemplaren ausgemachter Bösewichte mangelt es besonders im 20. Jahrhundert keineswegs, in „Lolita“, „Der talentierte Mr. Ripley“ und „American Psycho“ wird ihnen gar ein Denkmal gesetzt. Heikler wird es jedoch, wenn der Autor durchblicken lässt, dass er eigentlich glaubt, einer von den Guten zu sein – oder mit seiner Offenbarung und dem Verweis auf die ihm zugewiesene Rolle zumindest einer zu werden.

Wo Moritz’ Text so viel reflektiert, jede Hintertür und Falle schon durchdacht zu haben scheint, lässt er eine Sache unerwähnt: die viel kritisierte Tradition, in die er sich mit seinem Vorpreschen stellt. 2018 verlor der Chefredakteur der „New York Review of Books“ seinen Job, weil er den Essay des ehemaligen Fernsehmoderators Jian Ghomeshi veröffentlichte, in dem dieser seine sexuellen Übergriffe an mehreren Frauen verharmloste.

Auch das 2017 von Tom Stranger und der von ihm Vergewaltigten Thordis Elva herausgebrachte isländische Memoir „Ich will dir in die Augen sehen: Eine Frau trifft den Mann, der sie vergewaltigt hat“ erfuhr trotz der Co-Autorschaft der Betroffenen neben Lob auch Gegenwind in den Medien.

Lesen Sie auch
+honorarpflichtig+++ 19.04.2023 - Berlin - Benjamin von Stuckrad Barre zur Buchvorstellung und Lesung seines neuen Buches - Noch Wach im Berliner Ensemble.
„Noch wach?“

Denn wer seine eigene Täterschaft öffentlich reflektiert, erhält nicht trotz, sondern wegen seiner Tat eine Bühne. Dass der damit einhergehende Nachahmungseffekt nicht nur Gefahr läuft, eine Welle an produktiven Geständnissen, sondern auch neue Taten und unerwünschte Kontaktaufnahmen mit Opfern zu mobilisieren, ist genauso abzuwägen wie das Risiko, Betroffene durch die medial vergrößerte Nacherzählung des Vorfalls einem erneuten Schrecken auszusetzen.

Die Frau, die sich in Moritz’ Text wiedererkennt, beschreibt in ihrem Instagram-Post, wie sie angesichts des in jeder gut sortierten Buchhandlung stehenden und überall gefeierten Buches „immer wieder diesen Abend“ durchlebe, „an dem für Valentin ein Nein kein Nein war“.

Die Macht über die Geschichte hat der Täter. Laut der Frau, deren Grenzen Moritz überschritt, hat er den Vorfall beschönigt: „In Wirklichkeit habe ich nicht nur kein Ja gegeben, sondern auch versucht, mich zu befreien – erfolglos.“

Anzeige

Doch selbst wenn man sich die Aussagen der Frau wegdenkt und den Text als von der Wirklichkeit losgelöstes Kunstwerk betrachtet, drängt sich der Verdacht auf, dass der ichzentrierte Selbstgeißelungsduktus das von ihm Problematisierte unfreiwillig weiter verstärkt, etwa wenn es heißt: „Ich bin Teil des Problems. Teil des Patriarchats. Und damit Teil der Rape Culture. Natürlich kann ich nichts dafür, dass ich in den Körper eines gesunden, weißen, heterosexuellen Cis-Mannes mit bildungsbürgerlichem Hintergrund hineingeboren worden bin.“ Oder: „Es ist schmerzhaft, diese Worte zu schreiben.“ Oder: „Wie genau ich zum glücklichen Menschen werde, weiß ich nicht.“

Ein Ding der Unmöglichkeit?

Sich alle erdenklichen Vorwürfe zwanghaft vom Leib haltend, reflektiert Moritz weniger seine Tat als vielmehr seine Befindlichkeiten. Der Text endet verharmlosend, selbstbeschwichtigend, mit einer Geste der Reinwaschung: „Aber immerhin, ich lerne gerade, meine Gefühle zu benennen – und wenn es nur das Gefühl ist, ein Frisbee zu sein. Huiiiiiiii.“ Der Übergriff erlaubt es ihm in bester Heldentradition, gestärkt aus der überwundenen Krise hervorzugehen. So einfach ist das also.

Während die Erzählung vorgibt, Konventionen zu sprengen, indem sie sich progressiv-feministisch gibt, zementiert sie heimlich die Norm des sich an seiner komplexen Gefühlswelt berauschenden Mannes. Hinter der Maskerade der Widersprüchlichkeit, Offenheit und Hybridität steckt nicht nur ein wiederholtes Übergehen der weiblichen Position, sondern ein Fortschreiben männlicher Macht mit zeitgeistigen Mitteln.

Wie ein gelungenes Outing als Täter, wenn auch mit anders gelagerter Tat, aussehen könnte, zeigte dagegen Kim de l’Horizon, selbst in „Oh Boy“ mit einem Text vertreten, im vergangenen Jahr in der „NZZ“, in dem l’Horizon bekannte, als Kind eine unschuldige Klassenkameradin verprügelt zu haben: „Das ist keine arrogante Fremddiagnose, denn ich teile eure Frustration, John und Ueli: Ich war, wie gesagt, in der realen Situation nicht das Mädchen. Ich selbst war an diesem Schulnachmittag Anfang der Nuller Jahre in der Gruppe der Jungs, die das Mädchen bestraft haben. Ich habe das Mädchen geprügelt. Ich habe es gehasst.“

Statt das schriftstellerische Ego zu boostern, darf die Tat hier für sich stehen. Statt wie bei Moritz die Täter- in eine Opferperspektive zu verkehren, wird hier die Opfer- um eine Täterperspektive ergänzt, anhand derer l’Horizon allgemeine psychologische Mechanismen der Gewalt veranschaulicht: wie es zur Tat kam, und nicht, welche Tränen er hinterher weint, steht im Zentrum.

Radikale Maßnahmen

Nach den Vorwürfen gegen Moritz schickte der Kanon Verlag zwei Stellungnahmen raus, die erste stellte noch defensiv fest, dass Moritz sämtliche Erlöse aus dem Buch spende, die zweite erklärte die Veröffentlichung des Textes im Wissen um das Veto der Betroffenen als klaren Fehler. Die Auslieferung des Buches wird nun gestoppt und Moritz’ Text aus allen digitalen Formaten und möglichen Neuauflagen entfernt.

Mehrere Veranstalter, darunter das Literaturhaus Rostock und das 23. Internationale Literaturfestival Berlin, sagten Diskussionsrunden und Lesungen zu „Oh Boy“ ab. Zwölf von 16 Autoren unterzeichneten eine Erklärung, in der sie verkündeten, „an der Verbreitung der vorliegenden Version des Buches“ nicht weiter mitwirken zu wollen. Die Betroffene selbst will sich nicht mehr äußern.

Ob solch radikale Maßnahmen wirklich notwendig sind, sei dahingestellt. Der einmal ins Rollen gebrachte Stein kann den Ruf eines erst vor zwei Jahren gegründeten Kleinverlages sowie zahlreicher Autoren, von denen viele mit dem fraglichen Text wenig bis gar nichts zu tun hatten, gefährden. Das verspätete Erwachen zieht ein umso vehementeres Canceln nach sich.

Folgt daraus nun das Ende der kritischen Männlichkeit, wie es unter anderem in dem Buch „Männlichkeit verraten!“ von Kim Posster diskutiert wird? Unter dem Label der „kritischen Männlichkeit“ werde laut Posster eine „Resouveränisierung verunsicherter (cis) Männer“ betrieben und so der Status quo unter dem Deckmantel des „‚korrekten‘ Vokabulars“ aufrechterhalten.

Dass Moritz womöglich wirklich glaubte, mit seinem vorauseilenden Schuldgeständnis seine Karriere als Autor in Schwung zu bringen oder der Geschlechtergerechtigkeit neuen Fahrtwind zu geben, darf angesichts des Booms an kritisch-männlicher Selbstläuterungsprosa von Benjamin von Stuckrad-Barre („Noch wach?“) bis Christian Dittloff („Prägung“) kaum überraschen. Wie Valentin Moritz in seinem Beitrag bekennt, sei der Text ein Versuch, „aus etwas Beschissenem etwas halbwegs Sinnvolles“ zu machen. Fragt sich nur, sinnvoll für wen.

An dieser Stelle finden Sie Inhalte von Drittanbietern
Um eingebettete Inhalte anzuzeigen, ist deine widerrufliche Einwilligung in die Übermittlung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten notwendig, da die Anbieter der eingebetteten Inhalte als Drittanbieter diese Einwilligung verlangen [In diesem Zusammenhang können auch Nutzungsprofile (u.a. auf Basis von Cookie-IDs) gebildet und angereichert werden, auch außerhalb des EWR]. Indem du den Schalter auf „an“ stellst, stimmst du diesen (jederzeit widerruflich) zu. Dies umfasst auch deine Einwilligung in die Übermittlung bestimmter personenbezogener Daten in Drittländer, u.a. die USA, nach Art. 49 (1) (a) DSGVO. Mehr Informationen dazu findest du hier. Du kannst deine Einwilligung jederzeit über den Schalter und über Privatsphäre am Seitenende widerrufen.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema