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Literatur Trauer um Martin Walser

„Er war sein Land und sein Zeitalter“

Martin Walser im Alter von 96 Jahren verstorben

Martin Walser galt als einer der bedeutendsten Autoren der deutschen Nachkriegsliteratur. Jetzt ist der Schriftsteller und Hermann-Hesse-Preis-Träger im Alter von 96 Jahren verstorben. Walsers erster Erfolg war der Erzählungsband „Ein Flugzeug über dem Haus“, das 1955 erschien.

Quelle: WELT

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Von Juli Zeh bis Peter Sloterdijk, von Eva Menasse bis Navid Kermani: Weggefährten und Freunde des Schriftstellers Martin Walser verabschieden sich ganz persönlich von einer Figur, die deutsche Literatur- und Zeitgeschichte geschrieben hat.

Zum Tod des Schriftstellers Martin Walser haben sich bundesweit Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Literatur geäußert. Vom Großdenker Peter Sloterdijk bis zum Bundespräsidenten: Das Who is Who der Republik würdigt den im Alter von 96 Jahren verstorbenen Schriftsteller Martin Walser. Von seinen Weggefährten und Freunden aus dem Literaturbetrieb erreichen uns die folgenden Reaktionen:

Thea Dorn:

Martin Walser war und tat so ziemlich alles, was man heutzutage tunlichst vermeidet: alter weißer Mann; wild entschlossen, sein Fleckchen Heimat für die Welt zu halten; rücksichtslos gegen sich und andere; Kettenraucher, Kettentrinker, Fleischgenießer, Frauenverschleißer. Ich habe es nie ausprobiert, aber ich vermute, ein Begriff wie „Burn-out“ hätte in seinem Gesicht eins jener Mienenfestspiele entfacht, die bisweilen noch mehr sagten als seine Worte. Walser war dem Zeitgeist stets um Längen voraus: ästhetisch und politisch. Wahrheit hat es für ihn nur als erlebte, gefühlte Wahrheit gegeben. Objektivität? – „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.“

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Sprache war ihm Religion, eine Macht, imstande, die wirklichere Wirklichkeit zu schaffen. Doch schon wäre der kurze Flirt des alten Sprachgläubigen mit den jungen Sprachabergläubischen zu Ende: Lieber wäre Martin Walser bei acht Grad Wassertemperatur durch den Bodensee geschwommen, als dass er seine Ausdruckssehnsucht an die Leine sprachlicher Rücksichtnahme hätte legen lassen. Lieber wäre er bei 45 Grad Lufttemperatur mit seinem Rollköfferchen zur zigsten Lesetour aufgebrochen, als dass er bereit gewesen wäre, Lebenserfahrungen durch den Filter späterer moralischer Einsichten zu zwingen. Für die Debatten und die Literatur der Gegenwart wäre einer wie Walser immer noch ein Glück. Für Walser selbst dürfte es eher ein Glück sein, dass er die Gegenwart hinter sich gelassen hat. Lieber Martin, ich wünsche Dir das Jenseits, das Dir gebührt!

Thea Dorn ist Schriftstellerin und moderiert das „Literarische Quartett“ im ZDF

Frank-Walter Steinmeier:

„Alle Versuche, Martin Walser in eine politische oder weltanschauliche Ideologie einordnen zu wollen, verkannten, was diesen Schriftsteller im Innersten antrieb: den eigenen Empfindungen so wahrhaftig wie möglich Ausdruck zu verleihen.“

Frank-Walter Steinmeier ist deutscher Bundespräsident

Aleida Assmann:

Anders als andere Schriftsteller hatte Martin Walser nicht nur einen unverkennbaren Stil, sondern auch eine unverkennbare Stimme. Mit der Emphase dieser Stimme modellierte er jeden Gedanken kraftvoll wie eine Skulptur. Aber er hatte weit mehr als nur eine Stimme, denn es war seine besondere Gabe, Stimmungen in Stimmen zu verwandeln. In ihm versammelte sich das Ungesagte, das er in Vielstimmigkeit übersetzte. Gefühle wie Nostalgie, Schuld und Scham hatten da ihren Ort.

Der Eklat, den er in der Paulskirche ausgelöst hat, könnte vor dem Hintergrund der heutigen Erfahrung mit Populisten als ein Spiel mit dem Feuer des Ressentiments erscheinen. Das war es aber nicht, denn Walser war ein Stimmensammler, der dem kollektiven Unbewussten in seinem Inneren Raum bot. Gefühle waren für ihn eine kostbare Währung, sie waren verbindlich gerade in ihrem Widerstreit. Walser war kein Populist, der vom Hass gesteuert ist, sondern ein Seismograf mit einem großen Herzen, der fast ein Jahrhundert deutscher Geschichte in sich trug. In zwei langen öffentlichen Diskussionen mit ihm konnte ich erfahren, wie gesprächsbereit und lernfähig er war.

Aleida Assmann ist Kulturwissenschaftlerin. 2018 erhielt sie mit Jan Assmann den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels

Navid Kermani:

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Seit seiner Friedenspreisrede habe ich mit Walser gehadert. Aber ich habe auch gelernt, wie viel er – unter allen deutschen Schriftstellern besonders er – in den Sechzigerjahren für die Aufarbeitung der deutschen Verbrechen geleistet hat, als ganz junger Mensch. Heute nickt man das als Vergangenheitsbewältigung ab, aber damals war das neu, es war furchtlos, man hat sich Ärger eingehandelt damit. Vielleicht hat ihn eben das Abnicken später zu seiner Friedenspreisrede geführt, jedenfalls blicke ich heute anders darauf, ich sehe die Rede, die ich immer noch fürchterlich finde, im Kontext seiner Lebensleistung.

Und dann war Martin Walser immer neugierig, er hat sich für Jüngere eingesetzt und für wenig beachtete Autoren, auch aus anderen Sprachen. Allein schon, dass er seinerzeit dem jungen, unbekannten Arnold Stadler den Weg geebnet hat, einem meiner Lieblingsautoren, dafür werde ich ihm immer dankbar sein. Und für manche seiner eigenen Bücher erst recht.

Navid Kermani ist Schriftsteller. 2015 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet

Olaf Scholz

„Seine Bücher haben Generationen gelesen, seine Freude am Argument hat uns viele lebhafte Debatten beschert.“

Olaf Scholz (SPD) ist deutscher Bundeskanzler

Raphael Gross:

2006 traf ich Martin Walser in Vorbereitung einer Ausstellung zu Ignatz Bubis: Die Verletzungen, die seine Paulskirchenrede bei vielen Juden ausgelöst hatten, waren noch offen. Einige seiner Positionen revidierte er dabei im Gespräch – so sein negatives Urteil zum Mahnmal für die ermordeten Juden Europas sowie seine Äußerungen zu Bubis’ angeblich verspäteter Auseinandersetzung mit dem Holocaust in dem berühmten „FAZ“-Gespräch. Persönlich empfand ich Walser als freundlich. Seine Position in der Vergangenheitspolitik erschien mir und erscheint mir immer noch als zutiefst problematisch.

Raphael Gross ist Historiker und Präsident des Deutschen Historischen Museums

Michael Krüger:

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Am besten und liebenswertesten war Martin Walser, wenn er über Schriftsteller sprach, die er verehrte – zum Beispiel Hölderlin oder Robert Walser: Seine Schwärmerei war überwältigend. Und er hatte einen wunderbar schrägen Humor, mit dem er selbst die langweiligsten Zeitgenossen zum Lachen brachte.

Michael Krüger ist Schriftsteller und war langjähriger Verleger des Hanser Verlags

Rafael Seligmann:

Martin Walser war ein ehrlicher Schriftsteller mit ungewöhnlicher Fantasie und Empfindsamkeit. Er nutzte die Fähigkeiten zur Beobachtung des Zeitgeschehens und zum Verfassen seiner Bücher. Zudem besaß Walser die seltene Gabe, sich zu hinterfragen und eigene Fehler einzugestehen.

Rafael Seligmann ist Schriftsteller. Zuletzt erschien sein Buch „Rafi, Judenbub“.

Peter Sloterdijk:

Ich nannte es für mich die „Walser-Konstante“. Im Südwesten Deutschlands lebte ein Autor, der mehr als jeder andere die Aufgabe erfüllte, Zeitgenosse zu sein. Sooft ich an Walser dachte, spürte ich die Konstante – ich konnte mich darauf verlassen, der Zeuge werde seinen Posten nicht aufgeben. Als kürzlich die Queen verstarb, begriff man mit einem Mal, dass eine Person eine Institution sein kann, mehr noch: ein Weltzustand.

Martin Walsers Tod enthält für mich eine vergleichbare Lektion. Als Einzelner war er sein Land und sein Zeitalter. Wer sich künftig an die Jahre der Walser-Konstante erinnern möchte, findet in den zahllosen Büchern des Autors die rechtsrheinische Version der Menschlichen Komödie, geschrieben, um den Sorgen, Ambitionen und Ekstasen der neuen Mittelschichten auf die Spur zu kommen.

Peter Sloterdijk ist Philosoph. Zuletzt erschien sein Buch „Die Reue des Prometheus“

Claudia Roth:

„In seinen literarischen Werken hat er die bürgerlichen Fassaden des Nachkriegsdeutschland als hohlen Schein entlarvt und ist dem Seelenleben der Deutschen auf den Grund gegangen.“

Claudia Roth (Die Grünen) ist die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien

Eva Menasse:

Als Schriftsteller war er der genial-gnadenlose Porträtist von Mittelmäßigkeit, Ressentiment und Kleinbürgerlichkeit, als öffentlicher Intellektueller das Gegenteil in Vollendung: Jederzeit so hochempfindlich wie stur und saumutig, volle Kante gegen den Zeitgeist, was immer richtig ist, auch wenn man dabei Fehler macht. Diese wilde Mischung hob ihn auch unter den Granden seiner Generation hervor, bei denen, siehe etwa Grass und Enzensberger, Werk und öffentliche Rolle viel kongruenter waren.

Martin Walsers Novelle „Ein fliehendes Pferd“ gehört zu den größten und frühesten Erlebnissen meiner Lesebiografie. Zum Glück konnte ich ihm das einmal sagen, worauf er einen Abend lang meine Hand hielt – so kindlich dankbar war er bis ins hohe Alter. Und auch für ihn passt, was Wendelin Schmidt-Dengler einmal auf Doderer prägte: „Mir sind die Fehler Walsers lieber als die Tugenden seiner Kritiker.“

Eva Menasse ist Schriftstellerin und Sprecherin des PEN Berlin. Zuletzt erschien ihr Roman „Dunkelblum“

Ingo Schulze:

Vielleicht war es eine Art Sympathiebeweis, dass er einem auf die Schulter haute, aber schmerzhaft war das immer. Einen dieser Schläge erlitt ich, nachdem ich ihm von meinem Werdegang als Leser seiner Bücher berichtet hatte, von denen in der DDR relativ viele erschienen waren, auch wenn man nicht alle bekam. So waren es die „Briefe an Lord Liszt“ oder die Romane „Jenseits der Liebe“ und „Das Schwanenhaus“ und eben auch die Novelle „Ein fliehendes Pferd“, durch die ich ihn kennenlernte.

Vor allem aber versah ich die Sammlung „Was zu bezweifeln war. Aufsätze und Reden 1958–1975“, die ich antiquarisch erworben hatte, mit vielen Bleistiftstrichen. Darin gibt es die Beobachtung, dass jemand, der über die Angst am Sonntagabend vor der Arbeitswoche schreibe, durchaus politisch sei. Ich hoffe, ich zitiere sinngemäß richtig. Jedenfalls ist das ein Satz, der mich seither begleitet hat.

2015 moderierte ich in Leipzig eine Lesung von ihm aus seinen Tagebüchern. Entgegen allen Vorwarnungen war er auch auf der Bühne ein sehr angenehmer Gesprächspartner, dessen Antworten, zumindest die meisten, nicht vorgefertigt schienen. Dass er mit seiner Paulskirchenrede in die falsche Richtung marschiert war, schien er zu wissen. Er sprach davon, welch ein Umschwung es war von den stehenden Ovationen unmittelbar nach seiner Rede zu der darauffolgenden Debatte. Seine Hand holte wieder aus, diesmal aber war es nur ein Abwinken.

Ingo Schulze ist Schriftsteller. Zuletzt erschien sein Roman „Die rechtschaffenen Mörder“

Arnold Stadler:

Er kam vom Bodensee, seiner Welt, niemals Provinz. Denn Provinz gibt es nicht, es gibt nur Welt. Da schwamm er so gerne hinaus. Fast bis zuletzt, als es nur noch mit den Augen ging. Martin Walser hatte die Gabe, Wasser in Sprache zu verwandeln. Und konnte seine Welt in seine Sprache holen. Sein ganzes großes Werk ist eine Übersetzung von Welt in Sprache, seiner Welt in seine Sprache, ist Weltliteratur. „Wenn du nicht gewesen wärst, Sprache, hätte es mich nicht gegeben.“ Aber es gab sie und ihn, was für eine glückliche Verbindung.

„Literatur ist das Licht, das uns alle erleuchtet.“ Das schrieb Martin Walser zur Gründung des Literaturhauses Heilbronn. Martin Walser selbst aber war ein Leuchtturm der Literatur, ein Dichter und mir Freund, Helfer und Gefährte über die Jahrzehnte hinweg. Zwar war Martin eine prägende Gestalt der Öffentlichkeit von den Nachkriegsanfängen bis heute. Noch kurz vor Corona auf Platz eins der 500 führenden Intellektuellen gesetzt. Walser aber war und bleibt im Herzzentrum jener Dichter, dem auch ich so viel verdanke in meinem Leben und Schreiben. Und ich werde auch seinen Blick unter diesen Nietzsches Schnauzbart vergleichbaren Augenbrauen, wie er dich anschaute, nicht vergessen, und für immer vermissen.

Arnold Stadler ist Schriftsteller. Zuletzt erschien sein Roman „Irgendwo. Aber am Meer“.

Winfried Kretschmann:

„Seine tiefe Verbundenheit mit der Heimat am Bodensee hat Walser zeitlebens begleitet und erst im Sommer 2022 hat er Baden-Württemberg mit der Übergabe seines Vorlasses an das Deutsche Literaturarchiv einen Schatz von außergewöhnlichem Wert vermacht.“

Winfried Kretschmann ist Ministerpräsident von Baden-Württemberg

Juli Zeh:

Von allen deutschen Autoren der Gegenwart hat mich Martin Walser in meinem Schreiben am stärksten beeinflusst. Für mich steht er in einer Reihe mit großen US-amerikanischen Erzählern wie Updike, Roth oder Franzen, denen es gelingt, große Gesellschaftsgemälde aus der Psychologie der Figuren und dem Auf und Ab ihrer Beziehung zu entwickeln. Walsers Romane sind literarische Archive des bundesdeutschen Zeitgeists, ein Haus der Geschichte in Buchform, durch das man staunend wandeln und endlos neue Details entdecken kann.

Walsers Schaffenskraft ist regelrecht ansteckend – ihn zu lesen ist wie ein Aufruf, an der großen Erzählung weiterzuspinnen, die uns Menschen alle miteinander verbindet und in der wir uns immer wieder davon berichten, was wir waren, was wir werden, was wir sind. Es ist nicht leicht, einen wie ihn ziehen zu lassen. Ein großes „Danke“ will ich ihm nachrufen, für alles, was er, zum Teil unter großer Anstrengung und Schmerzen, gegeben hat.

Juli Zeh ist Schriftstellerin. Zuletzt erschien ihr Roman „Zwischen Welten“

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