Seit dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs tobt in den Vereinigten Staaten ein Krieg der Erinnerungen. Wer das verstehen will, muss nur ins Auto steigen und eine halbe Stunde von Atlanta im Bundesstaat Georgia entfernt das größte Relief der Welt besuchen, das dort in den Fels des Stone Mountain gegraben wurde. Übergroß reiten dort drei Männer auf ihren Pferden; sie heißen Jefferson Davis, Robert E. Lee und Stonewall Jackson. Sie waren der Präsident der „Konföderierten Staaten von Amerika“, der General, der die konföderierten Truppen befehligte, und sein fähigster Offizier.
Gleich vier konföderierte Kriegsflaggen wehen vor dem Relief, dreizehn Treppenstufen symbolisieren die dreizehn Bundesstaaten, die sich damals gegen die Zentralregierung erhoben, um die Sklaverei zu verteidigen. Muss man betonen, dass es sich hier um einen Lieblingsort des Ku-Klux-Klan und überhaupt aller amerikanischen Rassisten handelt? Eingeweiht wurde die Monstrosität übrigens nicht im 19. Jahrhundert. Auch nicht in den Zwanzigerjahren. Sondern anno 1970, und zwar von keinem Geringeren als dem damaligen amerikanischen Vizepräsidenten Spiro Agnew.
Während der Süden seine rassistischen Helden auf Sockel stellte, wurden im Nordwesten der Vereinigten Staaten Lincoln-Statuen und Triumphbögen zu Ehren der Unionsarmee errichtet; der schönste steht am Eingang des Prospect Park in Brooklyn. Und hier blieb der Konflikt quasi eingefroren, bis Donald Trump an die Macht kam. Plötzlich schauten sich die Leute in amerikanischen Städten — die auch im Süden längst ethnisch bunt gemischt sind — genauer an, wer in Bronze hoch zu Ross über ihre öffentlichen Plätze galoppierte. Häufig stellten sie dabei fest: Das sind ja lauter Vaterlandsverräter, die im Kampf für die Sklaverei amerikanische Soldaten abgeknallt haben. Der Vorwurf der „cancel culture“ richtete sich in Amerika zunächst dagegen, dass solche Reiterstandbilder von lokalen Stadtverwaltungen gestürzt wurden.
Wie Müll in den Fluss geworfen
Aber was sollte an die Stelle der gestürzten Denkmäler treten? Präsident Joe Biden hat jetzt ein Dekret unterzeichnet, dass drei Orte in Amerika zu Gedenkstätten für Emmett Till umgewidmet werden: eine Kirche in Chicago, ein Landeplatz am Mississippi, ein Gerichtsgebäude.
Emmett Till war ein 14-jähriger schwarzer Junge aus Chicago, der seine Verwandten in Mississippi besuchte. Eine weiße Frau, die in einem Laden arbeitete, beschuldigte ihn am Abend des 24. August 1955, er habe sie belästigt. Drei Tage später kidnappten ihr Ehemann und sein Halbbruder den Jungen; sie folterten ihn, ermordeten ihn und warfen seine Leiche wie Müll in den Fluss. Einen Monat später standen die Mörder vor Gericht; und natürlich sprachen die Geschworenen, lauter Weiße, sie frei.
Emmett Tills Mutter beschloss damals, den Sarg mit dem Leichnam ihres Jungen öffentlich zur Schau zu stellen. Die Bilder vom zerfetzten Körper von Emmett Till schockierten auch viele weiße Amerikaner. Jene drei Denkmäler, die Biden gestiftet hat, sind: der Landeplatz am Fluss, wo die Leiche im Wasser verschwand; die Kirche in Chicago, wo sich die Trauernden versammelten; das Gerichtsgebäude, wo die Mörder freigesprochen wurden.
Dies ist der historische Moment, in dem sich die Zukunft Amerikas entscheidet: multiethnische Demokratie oder autokratische Herrschaft der weißen, christlichen Minderheit? Die Kontroverse wird im Streit um die Vergangenheit entschieden: Soeben hat der Gouverneur von Florida beschlossen, dass in den Schulen seines Bundesstaates unterrichtet werden soll, Sklaven hätten in der Zeit der Sklaverei auch viele nützliche Dinge gelernt. (In Wahrheit mussten die Sklaven auf den Plantagen knochenbrechende landwirtschaftliche Arbeit verrichten, und es war ihnen bei Todesstrafe verboten, sich höhere Kenntnisse zu verschaffen.) Bidens Entscheidung, Emmett Till, dem Opfer des Rassismus, ein Denkmal zu errichten, ist ein Versuch, der Wahrheit eine Bahn zu brechen.