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Meinung Mick Jagger & Keith Richards

Du kannst nicht immer siebzig sein

Redakteur Feuilleton
Mick Jagger kriegt immer, was er will

„Ich wäre lieber tot, als mit 45 noch „Satisfaction“ zu singen“, soll Mick Jagger als 22-Jähriger gesagt haben. Zum 80. Geburtstag erweckt er den Anschein, längst noch nicht genug zu haben vom Leben. Herzlichen Glückwunsch, Mick!

Quelle: WELT

Autoplay
Mick Jagger wird heute achtzig Jahre alt, Keith Richards in diesem Jahr auch. Was heißt das? Die Rolling Stones waren nie jung – und durch sie ist das Alter für alle nachfolgenden Generationen bedeutungslos geworden.

Als sie sich 1961 auf dem Bahnhof Dartford trafen, war Mick Jagger 18 und Keith Richards 17. 80-Jährige spielten im Leben keine Rolle. Manchmal geisterte noch einer von ihnen als Veteran des Ersten Weltkriegs durch die BBC. Die Zeit gehörte schon den Kriegskindern des Zweiten. Jagger fuhr damals täglich nach London, um die School of Ecomomics zu besuchen. Richards fuhr zum Londoner Sidcup Art College, er schreibt in seinen Memoiren: „Ob Mick und ich uns verstanden haben? Wenn ich mit einem Kerl, der ‚Rockin’ at the Hops‘ von Chuck Berry auf Chess Records und auch noch ‚The Best of Muddy Waters‘ unterm Arm trägt, in einen Waggon steige, dann müssen wir uns einfach verstehen. Ich meine, er besaß den Piratenschatz von Henry Morgan.“

Nun feiert Mick Jagger seinen 80. Geburtstag, noch in diesem Jahr wird auch Keith Richards 80. Dass die ganze Welt darüber außer sich gerät und überall Texte wie dieser erscheinen, liegt daran, dass diese Welt mit ihren Babyboomern einerseits so gut gealtert ist wie sie, die Boomer, und sich andererseits genauso schwertut mit dem Alter. War die Rockmusik der Rolling Stones nicht immer was für junge Leute? Und was heißt das, wenn die jungen Leute älter werden? Solche offenen Fragen waren auch den Hymnen damals eingeschrieben: „Hail! Hail! Rock and Roll! Deliver me from the days of old“ (Chuck Berry), „Hope I die before I get old“ (The Who), „Forever Young“ (Bob Dylan), „Time Is On My Side“ (The Rolling Stones).

Keith Richards und Mick Jagger als kaum Zwanzigjährige im Jahr 1963
Keith Richards und Mick Jagger als kaum Zwanzigjährige im Jahr 1963
Quelle: Corbis Historical/Getty Images

Es geht allerdings auch schon länger so, dass sich die Welt am Alter von Mick Jagger und Keith Richards abarbeitet. 1973, als sie 30 wurden, fing es an. „Trau keinem über 30“, hieß es in den Sechzigern. Jagger und Richards sind seit 50 Jahren alt und ewig jung zugleich. Eigentlich waren sie es bereits 1961 auf dem Bahnhof Dartford, mit 17 und 18. Jagger sprach damals schon über eine Band, Little Boy Blue & The Blue Boys. Ihrem Schatz, den Bluesschallplatten, war das Alter eingeprägt, die Sänger darauf konnten gar nicht alt genug sein. 1962 standen sie als Rolling Stones, betreut vom 34-jährigen Bluesrocker Alexis Korner, im Marquee erstmals als Band gemeinsam auf der Bühne, spielten Blues, und Jagger sang, als hätte er ein Leben lang den Sümpfen in den Südstaaten Amerikas sein Leid geklagt.

Mick Jagger und Keith Richards hätten mit den Klassikern von Muddy Waters, Howlin’ Wolf und Robert Johnson selbst gemütlich altern können, hätte sie ihr Manager Andrew Loog Oldham 1964 nicht zum Songschreiben in die WG-Küche gesperrt. Heraus kamen sie nach einigen Mühen mit „The Last Time“. Zeit war bei den Rolling Stones immer ein Thema und ein großes Wort, auch wenn es, wie in „Time Is On My Side“, eher um die Liebe ging und darum, sich für junge Frauen interessant zu machen. „Out of Time“, „Time Waits For No One“ und der arme Junge, der in einer Rock’n’Roll-Band spielen müsse, in „Street Fighting Man“.

Es war ein Paradox der Zeit, der Sechzigerjahre, dass die Rolling Stones als Band der aufbegehrenden Jugend galten, während die Beatles aus dem Arbeitermilieu von Liverpool eine modernere Musik machten und nach den frühen Hysterien auch von Älteren gemocht wurden. Über das Alter machte Paul McCartney sich mit 25 schon in „When I’m Sixty-Four“ seine Gedanken. Danach konnte er in aller Ruhe älter werden und später, mit 64, den Triumph genießen, dass sein Haar noch da war und seine Musik so frisch klang wie in jungen Jahren. Niemand hätte ihn als 64-Jährigen in einem Film gezeigt wie „Shine A Light“ die greisen Glimmertwins, Mick Jagger und Keith Richards als Mittsechziger: Martin Scorsese fuhr mit seinen Kameras durch jede Falte und schnitt Jugendaufnahmen dagegen, in denen ein mädchenhafter Jagger 1965 staunte, dass die Rolling Stones nach drei Jahren noch immer da waren: „Ich hätte nie gedacht, dass wir auch nur zwei Jahre überstehen.“

Mick Jagger und Keith Richards, die berühmtesten Großväter der Welt
Die letzten lebenden Stones der ersten Stunde
Quelle: Getty Images

1968 schrieb der Kritiker Nik Cohn die legendären Sätze: „Wie die Dinge stehen, werden sich die Rolling Stones nicht lange halten. Sie dürfen nicht alt werden. Es gibt sie nur für diesen einen großen Knall, für dieses Hier und Jetzt – und dann werden sie wieder verschwunden sein.“ So falsch wie manche meinen, die Nik Cohn seit 55 Jahren zitieren, um zu zeigen, dass er es auch besser hätte wissen können, lag er damit nicht. Nach Stand der Dinge damals war Brian Jones als Star der Band bereits ihr Sorgenkind, das unter allgemeiner Anteilnahme seinen Absturz zelebrierte und schließlich, im Sommer 1969, tot in seinem Pool lag. Er war 27 wie so viele Opfer ihrer musikalischen Talente, ihres frühen Ruhms und ihrer ungesunden Lebensweise.

It‘s Only Rock’n‘Roll

Der „Club 27“ ist kein reiner Mythos: Altersforscher haben sich damit befasst und festgestellt, dass Stars statistisch entweder mit 27 an ihren Berufskrankheiten sterben oder an sich arbeiten und sich von allzu schädlichen Gewohnheiten verabschieden. Mick Jagger ist dafür das beste Beispiel als jahrzehntelanger Abstinenzler, Rohköstler und Frühsportler. Keith Richards steht mit seiner unverwüstlichen Konstitution, die ihm genetisch mitgegeben sei, wie er behauptet, für die Ausnahme der Regel der Club-27-Forschung.

Überhaupt bilden die beiden letzten Überlebenden der ursprünglichen Stones ein interessantes Paar. „It’s Only Rock’n’Roll“ heißt eine „Simpsons“-Folge, die 293ste. Jagger und Richards treten darin auf, als Ausbilder in einem Feriencamp für ältere, rocksozialisierte Männer. Die Synchronstimmen sind ihre eigenen. Jagger: „Rock’n’Roll ohne Gerichtsverfahren und Geschlechtskrankheiten!“ Richards: „Wir sind hier, um zu rocken!“ Jagger: „Ich habe noch Tonnen von Papierkram zu erledigen!“ Richards: „Man muss in guter körperlicher Verfassung sein!“ Jagger: „Wir müssen billigere Hafergrütze kaufen!“

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Richards’ Memoiren „Life“ vor 13 Jahren waren eine einzige Abrechnung mit Jagger, seiner Krämerseele, seinen Tanzstunden, seinen Salaten, seinen Wasserflaschen und seinem unstillbaren Verlangen nach Bewunderung – und danach, auch im Alter jung zu sein: „Ich glaube, es hat was damit zu tun, Mick Jagger zu sein, die Art, wie er damit umgehen musste, Mick Jagger zu sein. Er kann ganz einfach nicht anders, als dauernd Mick Jagger zu sein.“ Aber Keith Richards wusste eben auch, dass er ohne den anstrengenden, ehrgeizigen, tanzenden und singenden Buchhalter nicht der Pirat mit der Gitarre sein könnte, der Hüter ihres Schatzes aus uralten Bluesschallplatten.

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Wie gesagt: Es geht seit 50 Jahren um die Rolling Stones und um ihr Alter. Während Richards ungestört „in Würde altern“ durfte, was auch immer das bedeuten sollte, weil er einfach weiter seinen Blues spielte, wenn er allein war, sich ein Tuch um seinen grauen Schopf band und kauzige Sachen sagte, suchte Jagger nach dem jeweiligen Geist der Zeit, stolzierte durchs New Yorker Studio 54 in den Siebzigern und wollte in den Achtzigern so sein wie Michael Jackson. 1993 schrieb der „Spiegel“ über die erste bekennende Seniorenrockband One Foot in the Grave, die damals eine kleine Sensation war: „Selbst Rock-Veteran Mick Jagger, 50, sieht echt frisch aus gegen Schlagzeuger Gino Costas, 77, den Gitarristen Bill Haislip, 68, oder den weißbärtigen Bassisten Gavan Wiesner, 51. Lediglich das Gesicht von Frontfrau und Sängerin Jo Dina wirft deutlich weniger Falten als das vom guten alten Mick, doch auch Dina ist immerhin 53 Jahre alt und bewährte Großmutter.“

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2003, Jagger und Richards wurden 60, war der Witz des Jahres ein Tourneeauftakt der Stones im Münchner Olympiastadion, während die Olympiahalle nebenan Gunther von Hagens „Körperwelten“, kunstvoll präparierte Leichen, präsentierte wie lebende Tote. 2013 stießen Paläontologen in Ägypten auf Fossilien eines ausgestorbenen Sumpfschweins mit markanter Schnauze, das sie als mageren Vegetarier mit polygamen Neigungen beschrieben und Jaggermeryx naida nannten, eine Wassernymphe namens Jagger. Zwei fossile Gliederfüßer, Aegrotocatellus jaggeri und Perirehaedulus richardsi, waren bereits beschrieben, Richards selbst schrieb sein zweites Buch über den Einfluss seines Großvaters Augustus, „Gus und ich“: „Ich fand es an der Zeit, das Ansehen der Großväter und ihrer möglichen Verwendbarkeit deutlich zu verbessern. Großväter können für die schönen Dinge im Leben zuständig sein und Blödsinn machen.“

Nun, im Jahr 2023, werden Mick Jagger und Keith Richards also 80 Jahre alt, als Großväter und Rockgrößen. So ändern sich die Zeiten seit Jahrzehnten. Es ist kein Methusalemkomplott – so sehr es auch die Babyboomer amüsieren mag, wenn ihre Jugendhelden älter sind als sie, oder so sehr es sie auch kränken mag, weil ihnen, als sie jünger waren, etwas anderes versprochen worden war als ein aus dem Rebellentum geborener konservativer Geist. Dafür waren die Greise nie so jung wie heute. Nur ihre Gesichter sehen aus wie 80.

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