Solche Zahlen aus dem „Land der Freiheit“ müssen beunruhigen: Immer mehr Wünsche nach Verbannung oder Zensur unliebsamer Bücher meldet die American Library Association (ALA). 1269 Anträge auf Zensur dokumentiert die Dachorganisation öffentlicher Bibliotheken in den USA für das Jahr 2022. Die Zahl sei fast doppelt so hoch wie 2021, wo es 729 Anträge gab, Bücher entweder aus Beständen zu entfernen oder Buchausleihen zu verhindern. Laut ALA betrafen 58 Prozent der dokumentierten Zensuranträge Bücher und Materialien in Schulbibliotheken, Klassenbibliotheken oder Schullehrplänen; 41 Prozent der geforderten Verbote bezogen sich allgemein auf öffentliche Bibliotheken.
Insgesamt 2571 Einzel-Werke würden hinsichtlich ihrer Präsenz in Büchereien inzwischen beanstandet oder angefochten, noch vor 20 Jahren waren nur wenige hundert betroffen, berichtet die US-Bibliotheksvereinigung und ergänzt, dass aktivistische Zensurgruppen hinter dieser Rekordzahl stehen. In Europa waren es jahrhundertelang Fürsten oder die Kirche, die Index-Listen unliebsamer Literatur erstellen, heute, mitten in der Demokratie, sind es Gruppen von unten, in den USA oft konservativ-christliche, evangelikale Kreise, die ihre Kinder nicht mit bestimmten Thematiken in Kontakt wissen wollen, etwa Büchern mit LGBTQ-Inhalten.
Als „neue Zensur von unten“ bezeichnete eine Ausstellung in Zürich dieses Phänomen erst kürzlich. Interessant ist, dass diese Form der „Cancel Culture“ von rechts erfolgt, also von der Seite des politischen Spektrums, die das linke, woke Canceln von Büchern – etwa Schullektüren mit N-Wort – sonst geißelt.
Man muss befürchten, dass ideologische Grabenkämpfe künftig zu ständig mehr Zensurfeldzügen in die Bestände öffentlicher Bibliotheken führen. Erst vergangene Woche hatte der frühere US-Präsident Barack Obama den neuen Trend zum Bücherbann von rechtsaußen kritisiert. Betroffen seien nicht zufällig Bücher, die von Menschen mit bestimmter Hautfarbe, Herkunft oder sexueller Orientierung handelten.
Die Tendenz, Missliebiges für das eigene Weltbild einfach aus der öffentlichen Sphäre zu entfernen, nimmt bedenklich zu. Moderne, nein, Aufklärung, hieß eigentlich mal, auch die anstrengende andere Sicht der Dinge auszuhalten. Was die Kirche über Jahrhunderte mühsam lernen musste, fällt ausgerechnet mündigen Menschen im freien Westen wieder schwer. Anderswo sowieso. Man könnte kulturpessimistisch werden, wenn zur Freiheit nicht auch Initiativen gehören würden, die sich dieser Entwicklung in den Weg stellen. Jüngst wurde angekündigt, dass in den USA eine digitale Bibliothek der verbotenen Bücher eröffnen will, die lokal verbotene Bücher landesweit über eine App zugänglich machen will. Klingt nach einer Pointe von Exilanten oder Dissidenten aus der Zeit des osteuropäischen Kommunismus, aber passiert heute, mitten in Zeiten der Freiheit.