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Kultur „Medea“ in Epidauros

Die Dämmerung des Abendlands

Auf der Bühne brennt noch Licht! „Medea“ in Epidauros Auf der Bühne brennt noch Licht! „Medea“ in Epidauros
Auf der Bühne brennt noch Licht! „Medea“ in Epidauros
Quelle: Alex Kat (@alexkatphotography)
Warum vergreift sich Medea so grausam an ihren Kindern? Der Regie-Star Frank Castorf inszeniert das Rachedrama im antiken Amphitheater von Epidauros – mit einer umstrittenen, aufwühlenden Deutung. Sein Stück ist auch eine Abrechnung mit der Arroganz des Westens.

Ausgerechnet Frank Castorf, Theater-Anarchist und Ex-Intendant der Berliner Volksbühne, darf einen der größten Klassiker der Antike inszenieren – und das im besterhaltenen Amphitheater Griechenlands: Kein Wunder, dass seine „Medea“, Höhepunkt des Athen-Epidauros-Festivals, schon im Voraus umstritten war.

Das Theaterfestival ist das griechische Äquivalent zur deutschen Klassikerpflege in Bayreuth. Seit den 1950er-Jahren wird das griechische Theater hier Jahr für Jahr vor eindrucksvoller Kulisse erneut zum antiken Erlebnis. Genau wie Bayreuth navigiert das Festival dabei zwischen der Öffnung zu mutigen, zeitgenössischen Inszenierungen und den eher konservativen Ansprüchen des Publikums. So tritt Castorfs „Medea“ die Nachfolge einer Inszenierung der Medea-Oper von Luigi Cherubini von 1961 an – mit niemand geringerem als Maria Callas in der Hauptrolle.

Der Theaterabend beginnt für das Publikum mit dem Erklimmen des Theaterhügels. Vorbei an Wegweisern zu den alten Heilstätten des Asklepios-Tempels geht es auf Treppen durch Olivenhaine. Am Fuße des Berges lässt der Pulk den berühmten Orangensaft zurück, der noch schnell am Kiosk getrunken wurde. Die Aufregung ist im Gedränge deutlich zu spüren – besonders bei der Platzsuche quer durch die zwölf keilförmigen Segmente. Die zwei Aufführungen mit jeweils 9.000 Plätzen sind trotz der Vorbehalte gegen Castorf ausverkauft. Während die Sonne untergeht, erscheint der gegenüberliegende Bergrücken auf einer großen Videoleinwand über der Bühne.

Fast Kino: „Medea“ in Epidauros
Fast Kino: „Medea“ in Epidauros
Quelle: Alex Kat (@alexkatphotography)

Die Steine sind noch warm von den 40 Grad des Tages. Das Publikum wirkt wie ein einziges großes Insekt, das aus tausenden Fächern und zu Fächern umfunktionierten Programmheften besteht, die man jetzt ohnehin nicht mehr lesen wird. In den ersten Reihen sitzen stark frisierte Frauen jeden Alters in langen Kaftanen und mischen ihr Parfum in die Gerüche einer nur am Abend das Haus verlassenden Öffentlichkeit. Blickt man von unten zurück bis zum letzten Rang, so sieht man die letzten Köpfe nur mehr stecknadelkopfgroß. Das Theater ist immens. Überall wird sich zugewunken und gegrüßt. Angesichts der Hitzewelle sieht man noch überraschend elegant aus.

Fährt man von Athen aus nach Epidauros, so muss man, um auf die Peloponnes zu gelangen, an Korinth vorbeifahren – jenem Ort, an dem Medea mit ihrem Mann Jason, der Vater ihrer zwei Kinder, Zuflucht erlangte. Medea hatte Jason geholfen, das Goldene Vlies von ihrem Vater zu stehlen. Sie reist mit Jason und den Argonauten weiter zu Pelias, wo Jason versucht, das Vlies gegen die Herrschaft über den dortigen Staat einzutauschen. Da dies misslingt, ziehen beide staatenlos nach Korinth. Dort beschließt Jason, nach einigen gemeinsamen Jahren mit Medea, die Tochter des Herrschers Kreon zu heiraten. Das versetzt Medea in Wut und Rachsucht, schlussendlich ermordet sie ihre Kinder.

Auf den Steinen liegen nummerierte Sitzkissen, immer wieder werden noch schnell die Plätze hin und her getauscht, damit man zusammensitzen kann. Andere sitzen schon still und gucken gebannt auf den mit Plastikflaschen übersäten Bühnenboden. Mit Verspätung geht der Theaterabend endlich los.

„Fickzellen mit Fernheizung“

Auf der Leinwand sieht man nun die Städte der Zukunft. Kühlend am Wasser gebaute Hochhäuser im Sonnenschein und leerer Asphalt – ein starker Kontrast zu mehreren Zelten auf einer mit Plastikmüll bedeckten Bühne. Überschrieben wird all das mit dem Slogan „temporal open markets“, zeitweise offene Märkte. Ein dystopischer Anblick, der in seiner Bildsprache etwas abgenutzt wirkt. Erst bei der letzten Biennale in Venedig hatte Loukia Alavanou den griechischen Pavillon mit einer Inszenierung von „Ödipus auf Kolonos“ bespielt, die in den armen und vermüllten Vororten von Athen spielte.

Über die Bühne, die damit gleich zu voll wirkt, laufen die fünf Schauspielerinnen und drei Schauspieler des Abends – denn alle spielen alles. Sie beginnen Heiner Müllers Medea-Dialoge zu spielen, auf den Übertitelungsbildschirmen erscheint: „VERKOMMENES UFER, MEDEAMATERIAL, LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN“. Von Müller kommt vielleicht auch die Idee für das Bühnenbild, denn im Text heißt es nun, „die Kinder entwerfen Landschaften aus Müll“, „Fickzellen mit Fernheizung“.

In den ersten zwanzig Minuten kommt das Stück nicht richtig in die Gänge – und von Medeas Wut ist noch nichts zu sehen. Alle wechseln ihre Rollen und sind abwechselnd Medea oder Nicht-Medea. Doch dann treten alle ab – bis auf eine Medea. Es entfaltet sich ein Stück, das für einen Castorf ungewohnt linear verläuft. Der textliche Fokus liegt auf dem ersten Dialog zwischen Medea und Jason, aus dem Text von Müller und der antiken Fassung des Euripides.

Vermüllte Szene: „Medea“ in Epidauros
Vermüllte Szene: „Medea“ in Epidauros
Quelle: Alex Kat (@alexkatphotography)
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Da es den Reiz an Medea ausmacht, selbst eine nicht konsistente Figur voller Widersprüche zu sein, erscheint die Idee der Aufteilung auf mehrere Schauspielerinnen erst einmal schlüssig. Das Prinzip hatte Castorf schon 2017 für Fausts Gretchen an der Volksbühne eingesetzt. Das funktioniert, weil es das Spiel in die Länge zieht, bei einer Nebenrolle aber deutlich besser als bei einer Hauptrolle. Dazu kommt, dass die Schauspielerinnen Maria Nafpliotou und Angeliki Papoulia einfach zu gut sind, als dass man die Medea dann wieder in den übrigen drei Verkörperungen sehen will.

Vor allem Nafpliotou brilliert bis zu dem Punkt, an dem man sich dabei ertappt, sich eine originalgetreue Medea-Inszenierung von Castorf zu wünschen, allein mit ihr besetzt. Ihre Medea ist sehr wütend. Zeitweise hat man das Gefühl, der griechische Himmel könnte sich auftun und Jason vom Blitz getroffen werden. Aber die göttliche Gerechtigkeit bleibt bekanntlich aus – und Medea nimmt das Schicksal selbst in die Hand. Auch durch den Beziehungskonflikt mit Jason ist sie zeitlos. Eine Frau im Publikum tätschelt bei Medeas Worten „Dank für deinen Verrat, der mir die Augen wiedergibt“, den Oberschenkel ihres Mannes. Auf ihrem iPhone-Bildschirm, auf dem sie im halbstündigen Takt die Uhrzeit nachschaut, leuchtet ein Familienbild mit zwei Kindern auf.

Dennoch steht der Konflikt Kreon/Medea – der Staat gegen die Staatenlose – im Vordergrund der Inszenierung. Nachdem Jason beschlossen hat, Kreons Tochter Glauke zu heiraten, möchte Kreon im Gegenzug, dass Medea mitsamt den Kindern Korinth verlässt. Nikolas Hanakoulas spielt vor allem den Kreon, denn auch bei den Männern sind die Rollen fluide verteilt. In seiner Rolle wechselt er in die eines Gefängniswärters auf der griechischen Insel Makronisos. Dort wurden Ende der 1940er-Jahre linke Partisanen in Konzentrationslagern inhaftiert, die zuvor noch gegen den Faschismus gekämpft hatten, darunter auch Mikis Theodorakis. Aus dieser Zeit werden Protokolle verlesen.

Multiple Identitäten: „Medea“ in Epidauros
Multiple Identitäten: „Medea“ in Epidauros
Quelle: Alex Kat (@alexkatphotography)

Medea wird zur Frage danach, was passiert, wenn sich der Staat gegen die eigenen Bürger wendet. Sie ist getrieben davon, dass sie einen Preis für ihr Anrecht auf Integration bezahlt hat, dessen Versprechen sich jetzt nicht einlöst. „Gebt mir mein Blut zurück aus euren Adern … Heute ist Zahltag Jason Heute treibt Deine Medea ihre Schulden ein“, schreit sie über die Bühne. Die Machthaber, wie Pelias, halten ihr Wort nicht – und schließen, wie Kreon, das Andere, das sie „barbarisch“ nennen, aus dem Staat aus.

Dieser Konflikt wird im Stück auf die internationale Staatengemeinschaft übertragen. In einer Art Kinderspiel nehmen die Schauspieler die Rollen verschiedener Länder an: Deutschland, USA und Israel auf der einen, Russland, China und die Türkei auf der anderen Seite. Sie erklären sich gegenseitig den Krieg. Das Coca-Cola-Schild über der Bühne ist im Verfall begriffen. Medea, die aus der fernen Kaukasusregion nach Griechenland kommt, steht hier für den Konflikt zwischen „Barbarei“ und dem rationalen Fortschritt der westlichen Vernunft. Die grausame Rolle Europas in der Unterwerfung einer antikolonialen Gegenmacht wird auch im Vortrag des Rimbaud-Gedichts „Eine Zeit in der Hölle“ heraufbeschworen. Der Dichter schreibt dort hasserfüllt über die Kolonialmacht Frankreich. Medea spricht: „Wunden und Narben geben gutes Gift“.

Angst vor sich selbst

Castorf führt vor, wie das in der Antike wurzelnde Versprechen des Westens, Demokratie bringe Freiheit, scheitert. Die weibliche Aggression Medeas wird hier zur Metapher für einen Anerkennungskampf gegen den männlichen, westlichen Staat. Und so bleibt der dramatischste Satz des Abends jener, den Medea zu Jason sagt: „Du bist mir einen Bruder schuldig“. Schleichende Einsamkeit befällt Medea.

Eine Frage bleibt: Warum vergreift sich Medea auch dieses Mal an ihren Schutzbefohlenen? Einige im Publikum halten sich bei der Ermordungsszene, zugleich der Schluss, die Augen zu. Medea macht, dass man Angst vor sich selbst bekommt. Jedes Mal hofft man, dass sie die Kinder doch nicht umbringt. Vielleicht ist es dieses Mal ihre Verzweiflung, vielleicht will sie Jason einfach nur Schaden zufügen, oder es geht um die Unmöglichkeit einer echten Integration der Kinder in das Versprechen Kreons, Gleichheit unter seinen Bürgern herzustellen.

Es bleibt eine vielschichtige Inszenierung, keine Analogie geht wirklich auf. Doch genau diese Offenheit macht diesen hervorragenden, widerspruchsvollen Castorf-Abend aus. An dieser antiken Heilstätte zeigt der Ost-Berliner, der längst ein internationaler Regiestar ist, dass das Theater nicht heilt, sondern aufwühlen muss.

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