Zu seiner Zeit war er viel berühmter als Mozart, heute ist er vergessen. Am offensichtlichsten ist André-Ernest-Modeste Grétry freilich noch in seiner Geburtsstadt Lüttich präsent: Da steht seine Statue nebst Herzurne im Sockel vor der Opera Royale de la Wallonie.
In Lüttich spielt man den 1741 geboren, 1813 in Montmorency, dem von ihm gekauften Landgut Jean-Jacques Rousseaus gestorbenen Komponisten auch noch ab und an. „Zemire et Azor“, eines seiner populärsten Stücke, eine Variante von „Die Schöne und das Biest“, war in Liège zu sehen, ebenso sein „Guillaume Tell“. Beide liegen auch auf Tonträger vor.
Als „Zemira e Azor“ ist die Biest-Oper gegenwärtig auch auf der kostenlosen Videoplattform operavison.eu abrufbar. Diese Fassung, die 1776 an der Mannheimer Hofoper ihre Erstaufführung feierte, war die erste italienische Übertragung des Stoffes, in der alle gesprochenen Dialoge durch Rezitative ersetzt wurden und Musik von Niccolò Jommelli und Ignaz Holzbauer Verwendung fand. Passenderweise haben das kürzlich Bernhard Forck und die Akademie für Alte Musik Berlin sowie Regisseur Nigel Lowery im Schlosstheater Schwetzingen neu herausgebracht.
Gegenwärtig sind zehn höchst unterschiedliche seiner 57 Musiktheaterwerke verfügbar auf Bild- oder Tonträgern – kein schlechter Schnitt. Kennt man doch heute diesen liebenswürdigen, viel geehrten Komponisten, der – obwohl Liebling der Königin Marie Antoinette – sogar die Revolutionsjahre einigermaßen unbeschadet überstanden hat, aber dann dem Fluch des Vergessenwerdens anheimfiel, eigentlich höchstens als historische Fußnote.
Obwohl ihn der Napoleonische Hof noch einmal mit höchsten Ehren würdigte: Er war der erste Komponist, der 1803 in die Ehrenlegion aufgenommen wurde. Auf Davids bekannter Darstellung der Kaiserkrönung Napoleons von 1804 ist auch Grétry unter den Gästen zu erkennen.
Musikgeschichtlich wichtig ist noch ein zweites seiner meist als opéra comique (französische Oper mit gesprochenen Dialogen) aufgeführten Werke: „Richard Coeur de Lion“ von 1784 erzählt eher sentimental denn komisch vom Gefangenenschicksal des Königs Richard Löwenherz. Ein patriotischer „Richard“-Chor waren die letzten Noten, die zu Zeiten des vorrevolutionären Königtums in Frankreich, von abziehenden Soldaten gesungen, in der Opéra de Versailles erklungen sind. Aber schon im späteren 19. Jahrhundert galt Grétry als altmodisch, total ancien régime eben.
Doch in seiner Epoche – dem Übergang vom Barock zum Rokoko – war André-Ernest-Modeste Grétry viel geliebt. Anders als die altmodisch werdenden, aufwendigen Hofopern eines Lully oder Rameau mit ihren gestelzten Götterprologen und mythologischen Handlungen, anders auch als der Reformer Gluck, der meist antik-tragisches Personal bemühte, ging es bei dem in der italienischen Manier geformten Grétry kompakter und patenter zu. Das singende Personal kam schnell auf den knappen Arienpunkt, das Ballett war fleißig beschäftigt – und meist waren drei Akte in neunzig Minuten vorbei.
Orientalismen der Aufklärung
2019 gab man in der Opéra de Versailles erstmals wieder „Richard Coeur de Lion“. Dessen Erfolg – auch auf DVD und CD – führte nun zu einer zweiten Grétry-Premiere. „La caravane de Caire“, uraufgeführt 1783 im Schlosstheater von Fontainebleau. Einst ein Hit.
Kein Wunder, wurde hier einer Mode der Zeit gefrönt – dem Exotismus. Mit einem schön verzierten Schellenbaum voller Glöckchen, diversen Trommeln und Klapperinstrumentarium ist das Concert Spirituel unter Hervé Niquet im Graben der kostbaren 700-Plätze-Oper platziert und versucht sich meisterlich rhythmisierend in klanglichen Orientalismen der Aufklärung.
Oben moussieren die Dialoge und singspielhaft eingängigen Arien, unten wird mit Finesse und Temperament musiziert, die jungen, tollen Sänger sausen auch mal aus ihren gemalten Pappkulissen um den Orchestergraben und machen direkt das Publikum an. Denn Marshall Pynkoski inszeniert augenzwinkernd historisierend, seine Frau Jeannette Lajeunesse Zingg lässt ihre acht reizend kostümierten Ballettpüppchen tanzen, als sei man in einer altmodischen Music Hall, in der vor allem das Motto gilt: Du sollst nicht langweilen.
Bei einer Diversity-Übung lässt sich mit dieser krachbunten Inszenierung nicht landen. Dafür zeigt sie voller Ironie die stolz vorgeführten Klischees über mehr oder weniger edle Halbwilde, augenrollende osmanische Paschas (Robert Gleadow singt famos und kann mindestens so toll grimassieren wie Jack Sparrow), verschlagene Eunuchen (die wie Enguerrand de Hys trotzdem tief singen).
Und dazu eine verfolgte Unschuld (Hélène Guilmette), die sich mit ihrem verloren geglaubten Geliebten (Pierre Derhet) im Sklavenharem vereint sieht. Und weil dessen Vater (Jean-Gabriel Saint-Martin) als einst treuer Gefährte des Paschas auftaucht, der allen die Freiheit schenkend das gute Ende herbeiführt, ist die Nähe zur „Entführung aus dem Serail“ offensichtlich.
Grétry ist kein Mozart, aber er schlägt sich wacker, mit Charme und Energie, Witz, Tempo und Vielfalt. Nach seinem Tod sollen 300.000 Menschen hinter seinem Sarg hergezogen sein, die Hälfte der Bevölkerung von Paris. Das hat ein Mozart bei seinem Armenbegräbnis leider nicht geschafft.