Zwei musikalische Überschreibungen von vorhandenem, meistenteils gut bekannt Musikstücken: Die eine ereignet sich an einem Theater, die andere an einem Opernhaus.
Am Hamburger Thalia Theater zeigt der russische, inzwischen in Berlin lebende Artist-in-Residence Kirill Serebrennikov sein vom Moskauer Gorki Center übernommenes und weiterentwickeltes, dunkel nachdenkliches Sehvergnügen „Barocco“ als ein „musikalisches Manifest“.
An der Berliner Staatsoper wirft der multiple (Puppen-)Künstler Nikolaus Habjan mit seinen regelmäßigen Kollaborateuren, der Osttiroler Musicbanda Franui aus Innervillgraten und dem Bariton Florian Boesch, einen szenischen umfassenderen Blick auf Franz Schuberts Liedzyklus „Die schöne Müllerin“.
„Bar Occo“. So steht es auf dem Plakat über der Hamburger Eingangstür. Doch da schenkt keine hippe Cocktail-Quelle ein nie genossenes Getränk aus. Es gibt auch nur in Maßen ein kulinarisches Pasticcio aus meistenteils von Daniil Orlov erfrischend innovativ neuorchestrieren Barock-Hits von Rameau, Bach, Lully, Zelenka, Vivaldi, Händel e tutti quanti zu hören.
Sinnlich überbordende Party-Stimmung, ein rauschend seinsvergessenes, überdekoriertes Fest des Lebens, ist hier freilich ebensowenig zu sehen. Eher muss man an jene grotesk verformte, „abartige“ Naturperle denken, die jener Design-Epoche den Namen gab und auf portugiesisch als „barocco“ bezeichnet wurde.
Denn ein bitter gewordener, aber wie stets mit plakativ wirkungsbewussten Bildern operierender Serebrennikov, natürlich immer noch gezeichnet von seinen Gefängnis-, Prozess- und Arresterfahrungen der vergangenen Jahre, findet „Barocco“-Manifest, das er seit Moskau weitergedacht hat, inzwischen eher die Melancholie, das Memento Mori, die stets hinter der Goldfolie lauernde schwarze Seite des von Kriegen, Pestilenzen und Aberglauben geschüttelten Zeitalters.
Ausgangspunkt ist ’68
Und so mischen sich jetzt eher sparsam goldene Divenkostüme und schräge Hutkreationen zwischen Umweltaktivisten, Anti-Ukraine-Krieg-Demos und Tarkowski-Filmreminiszenzen. Es regnet zu Beginn, ein Elektriker auf einer defekten Peitschenlampe wird vom Blitz getroffen, das Videofeuer verbrennt immer wieder Menschen. Denn Serbrennikovs Ausgangspunkt sind die 68-er Jahre, Urmutter heutiger Proteste, nur dass damals von Vietnam bis Prag auch Menschen als lebende Fackeln Aufmerksamkeit erheischten, wo heute Menschen sich für das Klima auf Straßen kleben.
Die zehn Bilder bestreiten singende Schauspieler (der famose Odin Biron, der sogar Counter kann, der wuselig-tranige Felix Knopp, Tilo Werner als aggressiver Musikclown, Svetlana Mamresheva, Yang Ge, Victoria Trautmannsdorff) die superbe, bereits von Teodor Currentzis auf ein Sopransilbertablett gehobene Nadezhda Pavlova, der liebenswürdige, in Berlin von der Straße weggecastete brasilianische Straßentroubadour Jovey, eine Skelett-Puppe, fünf Tänzer, zehn Musiker, ein kleiner Chor und Statisten.
Die Musik – Händel-Arien, Monteverdis zauberisches „Poppea“-Finalduett, Rameau-Chöre, ein Telemann-Trio, Purcells „Cold Song“, Lamenti, Bachs d-moll-Chaconne in der einarmigen Brahms-Bearbeitung (weil – ganz bitter und böse – die andere Hand des Pianisten in einer Handschelle samt Bewachungsschergen steckt) – ist das Fundament, der Glanz und die Tröstung des Abends in seiner fluiden, vieles nur anreißenden Reigenhaftigkeit. Da schieben sich Tanzarrangements zwischen Tanztableaux und Spielszenen, und immer fliegen virtuelle Funken, Staubkörner, Schneeflocken.
Diese Musik habe ihm Licht und Hoffnung im Arrest gegeben, sagt Krill Serebrennikov über diese, einst wieder nur vom USB-Stick ermöglichte Inszenierung des Regisseurs, den der doktrinäre Staat stummgeschaltet, schließlich vertrieben hat. Der barocke Affekt, der Überfluss, das trotzig auf sich beharrende Schöne, ist, was der Dissident ihm als politisch übermaltes Kunstprodukt entgegenhält. Und das eine verblüffend neue Bühnenwirklichkeit, intensive Betroffenheit aus seinem verletzlichen Gefährdet sein heraus erfährt.
Je länger der als „#einspielmitfeuer“ verhashtagte Abend dauert, desto moderner mutet dieses barock aufschäumende Perlen-Pasticcio an, das so lakonisch einfach wie kraftvoll, zwischen E-Gitarre, Walking Bass und Melodica arrangiert ist (man kann sogar die Playlist bei Spotify abrufen), Kunst in Kitsch, Wahrheit in schöne Lüge, Sinn in Sinnlichkeit übergehen lässt. Das leidenschaftlich und verzweifelt ist, letztlich hilflos bleibt – und deshalb auf der Schönheit als Waffe beharrt, selbst wenn da nur ein Plastiktüre im Ventilatorenwind wirbelt: „Proletarier aller Länder – vergnügt Euch.“
135 Minuten entfaltet sich in Hamburg „Barocco“, 75 Minuten braucht die bescheidenere „Müllerin“ in Berlin. Schuberts Klavierliedyklus, auf die hintergründig romantischen Lieder des Wilhelm Müller soll gerade eben nicht todtraurig mit dem feuchten Finale des verschmähten Burschen im Bach enden. Das war der gemeinsame Hoffnungsschimmer von Nikolaus Habjan und Florian Boesch. Beide steigen sie mit dem „Wandern ist des Müllers Lust“ ein, singend und pfeifend. Und am Ende sitzen sie auf einem umgelegten Spind, der fast zum Sarg wurde und sinnieren dem Erlebten hinterher: „Und der Himmel da oben, wie ist er so weit!“
Zart verklingen dazu hinter ihnen Harfe und Hackbrett und eine ferne Trompete, so wie die feinen Franui-Zehn ihren warmen, aber auch mal grellen Alpenverfremdungssound so herrlich switchen können zwischen Danzlmusi und Trauermarsch, Liebeslied und Weltumarmung und dabei doch immer schubertseelenvoll richtig wie anheimelnd tönen.
Erstaunlich ist es immer wieder zu sehen, wie die ausdrucksvollen Habjan-Puppen lebendig werden, selbst zu singen scheinen. Die Müllerin ist allerdings nur ein sich die Blondhaare kringelnder, episodenhaft stiefmütterlicher Statistinnen-Blondinenbalg, der schnell wieder als Witwe entsorgt wird. Kahl und schmucklos ist hingegen der weiße Torso des augenfunkelden Müllersburschen, der zunächst auf einem Stab steckt.
Habjan an den Händen, die vorher auf einem („die liebe Farbe“) grünen Sessel lagen, und Boesch den Kopf führend, welcher später auch ein weißes Hemd anhat, das ist eine vollkommene Symbiose. Das umarmt einander, hält den Schädel ganz nah oder auf Distanz, während die Hände ganz woanders flirren, bleibt totes Artefakt und durchpulster dritter Spieler, mal mit, mal ohne Unterleib.
Wer führt hier? Das ist das Kollektiv der Musiker, des nicht einmal vollkommenen, bisweilen schwer zu verstehenden Sängers, des unauffällig korrigierenden Puppenkreateurs. Sie alle haben Rhythmus und Dynamik, fügen sich drein im Schubert-Einander. Bis die Musik verstummt, der schwärmerisch-verzweifelte Jüngling starr wird, die beiden Akteure sich zwischen dem Ding an den Fingern fassen: kunstheilige Schubert-Dreieinigkeit, auf der so speziellen Franui-Soundwelle dahingeschwebt.