Die Abschlussdiskussion ist beispielhaft für die diesjährige Ausgabe des Theatertreffens in Berlin. Üblicherweise sitzt hier die Jury, also die sieben Kritiker, die für die Auswahl der zehn bemerkenswertesten Inszenierung des Jahrgangs verantwortlich sind. Man zieht ein Fazit, inklusive vorheriger Auseinandersetzungen.
Doch dieses Jahr kommt es anders: Auf dem nun üppig bestuhlten Podium sitzt zusätzlich eine Abgesandtschaft vom Blog des Theatertreffens und vom internationalen Forum. Und die attestiert der Jury, politisch von vorgestern zu sein.
Das Theatertreffen habe die wichtigsten Themen unserer Zeit schlicht vernachlässigt: Klima, Diversität, Inklusion. Gefordert wird mehr Aktivismus auf der Bühne. Man will mit den richtigen Stichworten gefüttert werden, im Geiste beleidigter Konsumenten geht man die innere Checkliste durch. Dass das Politische in der Kunst als ästhetische Frage erscheint, ist dem Aktivismus fremd. Der Einwand der Jury, dass Statements weder Kunstfertigkeit ersetzen noch eine Einladung rechtfertigen, scheint nicht anzukommen.
Je länger die Diskussion dauert, desto mehr verstärkt sich der Eindruck, dass die Kritikerjury als Haupthindernis für den Theaterfortschritt auserkoren wurde, als würde sie persönlich das Haus der Berliner Festspiele mit Barrikaden verrammeln, um die anstürmenden Marginalisierten aller Länder auszuschließen. Schuld sind „die Strukturen“. Eine jedes Jahr in wechselnder Zusammensetzung und mit demokratischer Entscheidungsfindung agierende Jury wird so beschrieben, als handele sich um eine jahrhundertealte Feudaltyrannei.
So endet das Theatertreffen, wie es begonnen hat: Mit dem Eindruck, dass die Jury unter Rechtfertigungszwang gerät – und mit ihr „der Markenkern“ des Theatertreffens, wie es ein Juror ausdrückt. Kuratierte Besinnungs- und Gesinnungsfestivals gibt es unzählbare, doch nur ein einziges, bei dem die Kritik als „Stellvertretung der Zuschauer“, so ein anderer Juror, über die Auswahl entscheidet.
Doch weder die neue Intendanz der Berliner Festspiele noch die neue Leitung des Theatertreffens können sich, trotz gegenteiliger Beteuerungen, dafür nicht erwärmen. Dass die Jury durch die aktivistischen Stoßtruppen moralisch diskreditiert wird, könnte den Weg freimachen, das Theatertreffen grundlegend umzukrempeln.
Der Anschein, dass das Theatertreffen mehr als Auslauf- statt Zukunftsmodell begriffen wird, verstärkt sich durch das Begleitprogramm, gerade weil es das Begleiten fast durchweg verweigert, sondern sich mit den „Treffen“ wie ein zweites Festival im gleichen Haus aufstellt.
Von einem Mangel an Aktivismus, wie es der Auswahl der Jury vorgeworfen wurde, ist beim Gegenfestival keine Spur. Eine Performerin im blau-gelben Ukraine-Look springt wie ein Gummiball manisch auf und ab. Und solange die Ukraine kämpft, wird weiter gehüpft, erklärt der Beipackzettel, auch um zu zeigen, wie anstrengend das Unterstützen ist.
Simple Gesten mit aufgeblasenem Anspruch, das trifft ohne Zweifel einen gewissen Zeitgeist, der sich in solchen hyperkritischen Performances selbst versichern kann. Als Beitrag zur politischen Urteilskraft fällt das allerdings mehr als dürftig aus. Beiträge wie „1 Minute Scream“ oder „Putinprozess“ erklären sich erschöpfend bereits durch den Titel. Und wie sehr man sich inzwischen im Team Weltoffenheit für die Idee geschlossener Nationalkulturen begeistern kann – alles Ukrainische gut, alles Russische böse –, ist zumindest erstaunlich.
Bei der Kritik konnte man mit dem letzten Schrei des Aktivismus nicht landen: „Selbstverzwergung“, „Bankrotterklärung“ oder „Fremdschämnummern“ heißt es in den Feuilletons. Und so schlecht, wie die Kritik inzwischen in Theaterkreisen beleumundet ist, wird sie wohl das gleiche Urteil wie die Jury treffen: strukturkonservativ und veränderungsunwillig. Doch nicht jede Veränderung ist blind zu begrüßen, selbst wenn sie mit aufgepepptem Vokabular angepriesen wird, und es gibt vernünftige Dinge, die sich zu erhalten lohnen.
Trotz der harschen Vorwürfe aus dem eigenen Haus hat die Jury erkennbar versucht, eine möglichst breite Auswahl zu treffen – und damit den Stand des deutschsprachigen Theaters abzubilden. Gefälliges Erzähltheater wie „Das Vermächtnis“ wurde ebenso eingeladen wie das kryptische Max-Stirner-Musical „Der Einzige und sein Eigentum“.
In „Die Eingeborenen von Maria Blut“ banalisierte die grellbunte Hipsterästhetik die Faschismusparabel und „Zwiegespräch“ wurde in ein Generationengespräch verwandelt, in dem die Regisseurin Rieke Süßkow, geboren 1990, den Autor Peter Handke, Jahrgang 1942, abserviert. „Nora“ versucht, den Klassenkampf ins Puppenheim zu bringen, scheitert aber und entscheidet sich für die wenig überraschende oder revolutionäre Lesart als weibliches Emanzipationsdrama. Und der so alberne wie amüsante „Sommernachtstraum“ ist ein großer Theaterspaß.
Drei Inszenierungen ragen heraus
Wird man irgendeine dieser Inszenierungen in ein paar Jahren noch als besonders bemerkenswert erinnern? Wohl kaum. Sie zeigen aber, was zurzeit angesagt ist. Drei Inszenierungen ragen allerdings heraus: Florentina Holzingers weibliches FKK-Spektakel „Ophelia’s Got Talent“ ist in seiner drastischen Sinnlichkeit trotz großer Schwächen wirklich bemerkenswert: Wiener Aktionismus für die Generation Netzfeminismus. Der Abend zeigt auch, aus welchen Quellen das Theater neue Kraft zu ziehen versucht: aus Extremperformances, Zirkus, erotisches Kabarett, also aus Tradition der derben Unterhaltung.
Kontrolliert statt entgrenzt ist hingegen „Kinder der Sonne“. Was Mateja Koležnik aus dem Stück von Maxim Gorki gemacht hat, wirkt wie ein Schauspieleruhrwerk vor Filmkulisse: Realismus pur! Doch zieht einen die geschlossene Welt eines bürgerlichen Haushalts, in der die Kassandrarufe der als nervenkrank Abgestempelten ungehört verhallen, fast unmerklich in ihren Bann. Die von der Klassenfrage bereits zerrissene Gesellschaft wird von einer Choleraepidemie erschüttert, nun eskalieren die Konflikte und der naive Fortschrittsglaube wird pulverisiert. Weil sich Koležnik für die Konflikte des Stoffs interessiert, können die Zuschauer darin die Konflikte ihrer eigenen Zeit erkennen.
Eine geschlossene Gesellschaft zeigt auch Philipp Preuss mit „Hamlet“, die Überraschungseinladung aus Dessau. Der Dänenprinz ist in zwei Schauspieler gespalten, der Hof ein Psychotikerparadies, die Geschichte ein einziger Loop. Sein oder Nichtsein? Oder, oder, oder …, murmelt Hamlet unaufhörlich. Er findet keinen Halt mehr in der Welt, er wird verrückt. „Wahnsinn darf man bei den Mächtigen nicht unbeobachtet lassen“, sagt Claudius aus dem Zentrum des Irrenhauses.
Dieser „Hamlet“ zeigt, dass man einen Klassiker nah am Text und trotzdem verstörend ungewöhnlich auf die Bühne bringen kann. Ein großartiges Beispiel, wie sich Weltbezug und Gegenwärtigkeit in der Kunst herstellen. Die aktivistische Kritik dürfte das jedoch nicht befriedigen. Fortsetzung nächstes Jahr, garantiert.