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Meinung Mötley Crüe in Deutschland

Nach seinem Tod setzte er sich gleich den nächsten Schuss

Redakteur
Nikki Sixx (l) und Vince Neil bei dem Mötley Crüe-Welttour-Auftakt in Sheffield Nikki Sixx (l) und Vince Neil bei dem Mötley Crüe-Welttour-Auftakt in Sheffield
Nikki Sixx (l) und Vince Neil bei dem Mötley Crüe-Welttour-Auftakt in Sheffield
Quelle: dpa/-
Wilder Sex mit übergewichtigen Groupies, Drogenexzesse und Musik, die aus der Hölle kommt. Keine Band ist wie Mötley Crüe. In der heutigen Zeit wirken sie allerdings wie ein lebender Anachronismus. Oder doch nicht? Ein Besuch.

Als Mötley Crüe noch nicht Mötley Crüe waren, in den ganz frühen 1980er-Jahren, da waren Mötley Crüe eine Band, wie so viele andere Bands, auf der Suche nach Ruhm und Fame oder zumindest einem Plattenlabel, dass ihnen irgendwann einmal genügend Geld überweisen würde, um nicht mehr darauf angewiesen zu sein, den Schimmel von den schimmelbefallenen Lebensmitteln in ihrer verkeimten Küche kratzen zu müssen. Damals wohnten Mötley Crüe noch in einem Haus, dass sie - nunja, Kreativität kommt mit den Jahren - das Mötley-Crüe-Haus nannten.

Im Mötley-Crüe-Haus, das direkt am Sunset Strip in Hollywood lag, passierten nicht bloß wahnsinnig viele, sondern auch viele wahnsinnige Dinge. Tommy Lee, seines Zeichens Drummer, schönster Mann der Welt und Inbegriff des Rock’N’Roll-Lifestyles schlechthin, ließ sich freudig auf den Deal mit einem schwer übergewichtigen Groupie ein, sie zu beschlafen, wenn er dafür ihr Auto, einen Jaguar XJS – sein absoluter Traumwagen! – fahren dürfte, der Teppich war voller Brandflecken, weil man probehalber einmal den Bassisten Nikki Sixx angezündet hatte, um sich an einer Showeinlage für die Bühne zu versuchen, und der Weihnachtsbaum, den die Band geklaut und aufgestellt hatte, der wurde mit der hinterlassenen Unterwäsche des mannigfaltigen Damenbesuches, Nadeln und Scheiße drapiert. Ja, mit Scheiße. Später zündete man ihn einfach an. Und von der Küche und den Lebensmitteln in der Küche sprechen wir besser gar nicht.

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Rock‘N’Roll ist ja immer auch das Potential des Möglichen und im Mötley Crüe-Haus erkannten Mötley Crüe, die unendlichen Möglichkeiten, die das grenzenlose Freiheitsversprechen des Rock’N’Roll ihnen bieten konnte. Es dauerte nur ein paar Jahre bis aus der Band nicht einfach nur eine weitere Heavy-Metal-Band, sondern eine der sagenumwobensten Heavy-Metal-Bands überhaupt wurde. Sie trugen die Haare toupiert, die Hosen zu eng, den Eyeliner perfekt gezogen und waren Ende der 1980er-Jahre längst in die Hall of Fame eingegangen.

Nicht, weil sie den einen Hit oder das eine Album hatten, an das die Welt sich irgendwann einmal erinnern wird, nein, Mötley Crüe wurden zu einer der größten nur vorstellbaren Rockbands, weil sie selbst der Inbegriff des Rock’N’Roll waren. Sie personifizierten die (in ihrem Fall Un-)heilige Trinität von Sex und Drugs und sehr lauter Musik, wie es keine Band zuvor und keine Band danach je wieder getan hat. Eine Band, geboren aus dem Dreck dieser Welt. Alles war laut und hart und schmutzig. Und alles, ja wirklich alles, war verdammt nochmal möglich.

Das Gesicht ist gezeichnet von den Exzessen, die er sein Leben nennt

Das ist jetzt vierzig Jahre her. Die Welt ist eine andere geworden. Der Rock’N’Roll ist ein anderer geworden. Aber Mötley Crüe sind immer noch da. Irgendwie haben sie alles überlebt. Den Wahnsinn, die Frauen, das Heroin und immer mal wieder auch den Tod. Und jetzt sind Mötley Crüe wieder in town. Die town ist zwar nur Mönchengladbach, aber das spielt ja keine Rolle, denn Rock’N’Roll ist eine universelle Sprache, die man sowohl auf dem Sunset Strip, als auch im eher provinziellen Teil des Rhein-Ruhr-Gebiets versteht und heute, da führt die Mötley Crüe-Welttournee die Band eben auf das Open-Air-Gelände des sogenannten Sparkassen-Parks.

Es ist kurz vor Pfingstwochenende, das Wetter ist fantastisch, in der Luft liegt der Geruch von Bier und Bratwurst und die anwesenden Männer, die man sich so, und zwar genau so, wohl auch auf einem Biker-Treffen vorstellen könnte, tragen ihre Kutten und ihre stolzen Bäuche vor sich her. Die hot girls, die damals vor den Backstage-Räumen und den Hotel-Suiten der Band campierten sind heute noch immer da, die tätowierten Tribals etwas verblasst, die Haut nun Orange, aber das ist okay. Time goes by. Was bleibt, ist eine Ahnung der besseren Zeiten.

Eigentlich als gemeinsamer Headliner, heute zur Vorband degradiert, heizen Def Leppard das Publikum ein wenig ein. Ein wenig trifft es ganz gut, denn Def Leppard vermitteln an diesem Abend eher den Eindruck, als wären sie nicht Def Leppard, sondern eine Altherren-Def-Leppard-Cover-Band, die auf dem Volksfest des Nachbardorfs noch einmal volle 70 Prozent gibt. Die wahre Energie kommt erst eine Stunde später auf die Bühne, und zwar in Form von Mötley-Crüe-Frontmann Vince Neil. Neil ist mittlerweile 60 Jahre alt, die Form ist eher eine Unform, das Gesicht ist gezeichnet von den Exzessen, die er sein Leben nennt, aber der Wille zur Show ist sowas von da und die schrill-eindringliche Stimme des Sängers, sie funktioniert noch immer.

Die Band braucht genau einen Song, nämlich, den ersten, Wild Side, und aus dem friedlichen Festival-Charakter der Open Air-Show wird ein räudiger Hexenkessel. Alles stimmt. Alles sitzt, die Haare, die zu engen Hosen, natürlich der Eyeliner, aber auch die noch immer in Szene gesetzten Metal-Posen.

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Es gibt Orte und Momente, die es so eigentlich gar nicht mehr geben dürfte und die Bühne in Mönchengladbach wird an diesem Abend zu so einem Ort. In der Mitte des Sets kommt Tommy Lee einmal hinter seinem Schlagzeug hervor, grüßt die German Fans, zeigt sich aber betrübt, dass er an diesem Abend noch „zu wenige Titten“ gesehen hat, woraufhin ihm zahlreiche weibliche Fans den Gefallen tun und ihm zeigen, was er gerne sehen möchte, wie die Kameras vor Ort einfangen und auf die großen Leinwände übertragen.

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Da steht eine Band auf der Bühne, deren größter Verdienst es in den letzten 30 Jahren war, einfach nur überlebt zu haben, liefert eine Show, die wie ein einziger Anachronismus wirkt – und wird dafür gefeiert und beinahe heiliggesprochen. Rock’N’Roll als das große Freiheitsversprechen – hier In Mönchengladbach, da funktioniert das noch.

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Das muss man sich einmal vorstellen, ja, genau, das muss man sich in diesem Fall leider wirklich einmal vorstellen, denn Bilder dürfen wir hier nicht machen, was wiederum mit der merkwürdigen Vorstellung von Presseverständnis der Presseverantwortlichen zu tun hat. Ganz merkwürdig ist das bei der merkwürdigen Pressefrau von Livenation, aber eben auch ein Teil des ganz großen Problems, denn neben all dem, was dem klassischen Rock’N’Roll, den Mötley Crüe verkörpern, die Luft zum Atmen genommen hat, sind nicht zuletzt auch Veranstalter verantwortlich. Die Kapitalisierung des Rock’N’Roll im Allgemeinen und die des Konzertwesens im Speziellen.

Der Kapitalismus ist natürlich etwas Großartiges, denn ohne den superkapitalistischen Impetus, den man nie zugeben, aber auch nie wirklich verstecken wollte, wäre Heavy Metal ja auch niemals Heavy Metal geworden, aber jede Show, die mittlerweile gespielt wird, ist so durchgetaktet, dass es nun keine Freiräume für Künstler mehr gibt, die einfach mal nur Künstler sind. Auf die Bühne kotzen. Von der Bühne fallen. Oder die Bühne auch einfach einmal ein paar Stunden zu spät finden. Das geht heute nicht mehr. Wie so vieles nicht mehr geht. Groupies, Drogenexzesse, Weihnachtsbäume mit Fäkalien dekorieren? Muss ja gar nicht sein. Aber Opposition zu dem System, in dem wir leben, war das nicht immer das Kernversprechen der Rockmusik? Es wurde ausgehöhlt und ist heute nur noch eine leere Phrase.

Nach seinem Tod setzte er sich gleich den nächsten Schuss

An diesem Abend ist das aber spektakulärerweise völlig egal, denn Mötley Crüe nehmen sich auch in dem enganliegenden Korsett die Freiheiten, die sie benötigen und zeigen somit noch einmal, welch ungeheures Potential dem Rock‘N’Roll als Gegenkultur doch zu Grunde liegt. In einer Gegenwart, die die Spießigkeit zum Fetisch und die Freiheit als Feindbild markiert hat ist das vielleicht dringender notwendig, als man sich das vorstellen kann.

Political Correctness, my ass! Das ist die nicht totzukriegende Botschaft, die eine nicht totzukriegende Band wie Mötley Crüe noch heute verkörpert. Neue Musik macht die Band schon lange nicht mehr. Sie touren nur noch. So als wäre ihre pure Anwesenheit ausreichend genug, noch einmal Inspiration zu geben, einen Begriff wie Gegenkultur zu überdenken und ihn neu auszufüllen.

Am 23. Dezember 1987, da starb Mötley Crüe-Bassis Nikki Sixx mal wieder. Er war unterwegs mit den Jungs der befreundeten Bands Ratt und Guns’N’Roses, man tingelte durch die Stripclubs Hollywoods und verlagerte die Party schließlich ins Hotelzimmer von Slash, wo man feinstes peruanisches und kolumbianisches Exportgut durch die Nase zog und es mit einem wilden Mix aus Alkohol, Pillen und Heroin vermengte.

Irgendwann war Nikki Sixx dann tot. Die anderen merkten es zunächst nicht. Dann versuchten sie, ihn wiederzubeleben. Dann riefen sie einen Notdienst. Der schaffte es, den klinischen Toten wieder zum Leben zu erwecken. Als Sixx das Krankenhaus verließ, sah er zwei Teenager, die um eine Kerze herumsaßen und trauerten, weil sie von seinem Tod im Radio gehört hatten. Er ließ sich von ihnen nach Hause fahren und setzte sich den nächsten Schuss.

Macht ja nichts, Totgesagte leben bekanntlich länger.

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