WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Kultur
  3. Film
  4. Filmfestival in Cannes: Der verborgene Effekt der Sandra Hüller

Film Filmfestival in Cannes

Der Sandra-Hüller-Effekt

Filmredakteur
ANATOMIE D’UNE CHUTE Justine TRIET ANATOMIE D’UNE CHUTE Justine TRIET
Sandra Hüller in „Anatomie d'une Chute“: Kann man ihr glauben?
Quelle: Festival de Cannes
Gleich zwei Filme, in denen Sandra Hüller mitspielt, waren Favoriten der Jury beim Filmfestival von Cannes. Warum geht die deutsche Schauspielerin selbst dann trotzdem leer aus? Das hat mit der besonderen „Ein-Preis-Logik“ von Cannes zu tun.

Üblicherweise sind die Debatten in der Jury von Cannes mindestens so geheim wie die Codes der französischen Atomsprengköpfe. Wie Entscheidungen zustande kamen, erfährt man allenfalls Jahrzehnte später in den Memoiren eines Juroren. Nicht so bei den 76. Filmfestspielen. Das hat mit der deutschen Schauspielerin Sandra Hüller zu tun.

Sandra Hüller, in den Cannes-Annalen schon festgeschrieben durch „Toni Erdmann“, war gleich mit zwei Filmen im Wettbewerb. In „The Zone of Interest“ (Interessengebiet) spielt sie die Ehefrau des Auschwitz-Kommandanten, in „Anatomie d’une Chute“ (Anatomie eines Falls) wird sie des Mordes an ihrem Mann angeklagt. In beiden Rollen ist sie herausragend, einmal eine Meisterin des Verdrängens angesichts des Massenmordens, einmal eine Frau, der Stück für Stück ihre Geheimnisse entrissen werden. Wen man auch fragte, war sich sicher, die Schauspielerinnen-Palme könne nur an Hüller gehen. Und dann ging sie doch an eine andere.

Die Erklärung liegt in der Mechanik der Preisregeln. Das Festival vergibt im Wettbewerb nur sieben Auszeichnungen, verweigert sich der Preisinflation etwa der Oscars, wo es mehr als 20 Kategorien gibt. In Cannes sagt die Regel, dass ein Film nur einen einzigen der sieben Preise bekommen kann, Häufung ausgeschlossen, auch andere sollen eine Chance haben.

Nun war ebenfalls allen klar, dass Jonathan Glazers „The Zone of Interest“ einen der großen Preise erhalten musste, es war der ästhetisch kühnste Wettbewerbsfilm. Ein Schauspielpreis für Hüller hätte „Zone“ aber – Einpreisregel! – von den höchsten Weihen ausgeschlossen. Dasselbe galt für Justine Triets „Anatomie d’une Chute“, einen weiteren Favoriten. So endete Sandra Hüller, wie schon bei „Toni Erdmann“, unbepreist.

Die Idylle bei Auschwitz: „The Zone of Interest“
Die Idylle bei Auschwitz: „The Zone of Interest“
Quelle: Festival de Cannes

Die beste weibliche Hauptrolle ging an die Türkin Merve Dizdar, die in Nuri Bilge Ceylans „Kuru Otlar Üstüne“ (Trockenes Gras) auch herausragend ist, als Lehrerin, die nach einer Beinamputation ihren „Wert“ als Frau neu auslotet; ein zwanzigminütiges Rededuell zwischen ihr, einer gesellschaftlich Engagierten, und einem resignierten Intellektuellen gehört zu den Höhepunkten des Cannes-Jahres.

Die Frage nach der Goldenen Palme schien für viele schon früh beantwortet, derart Eindruck hatte „The Zone of Interest“ hinterlassen. Jonathan Glazer erzählt (nach einem Roman von Martin Amis, der Paul Celan gewidmet ist) von dem Vernichtungslager Auschwitz – ohne die Vernichtung zu zeigen. Sein Film bleibt konsequent außerhalb der Mauer, in Haus und Garten des KZ-Kommandanten, wo dessen Frau ein Idyll eingerichtet hat, das nur funktioniert, weil sie und ihr Mann und ihre Kinder das Grauen konsequent ausblenden – obwohl sie es hören und riechen und natürlich wissen müssen. Es ist ein äußerst streng konzipierter Film, unter anderem durch den Kunstgriff, das Geschehen lediglich durch in Haus und Garten fix montierte Kameras zu schildern, die jeden emotionalen Kontakt mit den Figuren verhindern.

Vor acht Jahren ging der Große Preis der Jury in Cannes an „Saul Fia“ (Sohn von Saul), den man inzwischen als Extrempunkt der Holocaust-Erzählung ansieht; mehr von dem Unzeigbaren zeigen als den Juden Saul, der die Gaskammern ausräumen und die Leichen verbrennen muss, kann man nicht. In gewisser Weise ist „Zone“ eine Reaktion darauf, eine Anerkenntnis, dass die Bilderherstellung von der Shoah an ihren Grenzen angelangt ist und nach neuen Wegen der Vermittlung suchen muss, wie auch die Erzählung von der Shoah mit dem Sterben der letzten Zeugen.

Am Ende von „Zone“ springt Glazer in die Gegenwart, zeigt eine Putzkolonne im Auschwitz-Museum vor dem Berg von Kleidern und Schuhen, womit er sagen will: „Hütet euch vor neuen Völkermorden“. Das Problem an seinem Film liegt darin, dass er rein gar nichts dazu zu sagen hat, wie Menschen von Unmenschlichkeit vereinnahmt werden können; das unfassbar Böse ist bei ihm schlicht unfassbar böse. Die Sprache nach Auschwitz, sagt Celan, habe durch ihre „eigenen Antwortlosigkeiten“ hindurchgehen müssen, durch „furchtbares Verstummen“, die „tausend Finsternisse todbringender Rede“. Am Ende habe sie wieder zutage treten dürfen, „angereichert von all dem“. Bei Glazer ist sie immer noch stumm.

Glazer ist nicht der erste Regisseur, der Auschwitz aus der Perspektive der Kommandanten-Familie erzählt. 1977 drehte Theodor Kotulla „Aus einem deutschen Leben“ mit Götz George und Elisabeth Schwarz; der Film ist vergessen, die Bundesrepublik wollte davon nichts wissen, bis sie von der „Holocaust“-Serie wachgerüttelt wurde. Man sollte „Zone“ und „Leben“ miteinander aufführen, um zu begreifen, was Glazers Film fehlt, nämlich wenigstens der Ansatz einer Erklärung – der wichtig wäre angesichts von Kambodscha, Ruanda und der Ukraine.

Ein Jahrgang voller Altmeister

Anzeige

Vielleicht haben ähnliche Gedanken die Cannes-Jury davon abgehalten, die Goldene Palme „The Zone of Interest“ anzuvertrauen. Es gab durchaus Alternativen. Im Wettbewerb tummelten sich viele alte Cannes-Habituées, von Kaurismäki und Loach über Wenders und Moretti bis Breillat und Bellocchio, und ihre Filme waren durchweg respektabel. Aki Kaurismäki bekam den Jury-Preis für „Kuolleet Lehdet“ (Herbstlaub), einen archetypischen Kaurismäki-Film über einsame Menschen, Alkohol, Kino und prekäre Arbeit (aber mit einem raren Happy-End). Wenders’ „Perfect Day“ erhielt den Preis für den besten Hauptdarsteller, die japanische Schauspiellegende Kōji Yakusho. Abschied lag in der Luft, einige dieser Altmeister werden nicht wiederkehren.

Aki Kaurismäkis „Kuolleet Lehdet“
Aki Kaurismäkis „Kuolleet Lehdet“
Quelle: Festival de Cannes

Das Durchschnittsalter der Jury unter dem Doppel-Palmengewinner Ruben Östlund („Triangle of Sadness“) lag bei (für Cannes) jugendlichen 44 Jahren. Dies war ein Zeichen – und auch ein Auftrag für einen Generationswechsel. Die Jury hätte Jessica Hausners „Club Zero“ prämieren können, über verhängnisvolle Propheten. Oder Kaother Ben Hanias „Les Filles d’Olfa“ (Olfas Töchter) über den verhangnisvollen Zusammenhang von Armut und Islamismus. Oder Hirokazu Kore-edas „Kaibutsu“ (Monster) über verhängnisvolle Lehrer/Schüler-Beziehungen.

Stattdessen wählte die Jury Justine Triets „Anatomie d’une Chute“. Eine, auf den ersten Blick, erstaunliche Wahl, denn „Anatomie“ hat nichts von dem Zeitgeist, der seit Jahren aus den Siegern großer Festivals spricht: Im Cannes der Vorjahre gewannen etwa „Triangle of Sadness“ (Reich versus Arm), „Titane“ (Gender), „Parasite“ (Klassenkampf), „Shoplifters“ (neue Familienformen), „The Square“ (soziale Medien), „Ich, Daniel Blake“ (das unmenschliche Sozialsystem).

„Anatomie d’une Chute“ hat andere, fast zeitlose Topoi. Was ist Rücksicht, was Egoismus in einer Beziehung? Wie leben sich Ehepartner auseinander? Wie nimmt ein Kind das wahr? Vor allem aber: Was ist Wahrheit? Wie kann sie etabliert werden? Durch die Beteiligten? Zeugen? Mediale Aufzeichnungen? „Anatomie“ ist ein stilistisch absolut konventioneller, aber inhaltlich desto ehrgeizigerer Film. Justine Triet (sie ist 44!) steht als erst vierte weibliche Palmen-Gewinnerin eher auf der Seite der Sandra-Hüller-Figur als auf der von deren Filmmann, aber selbst die Auflösung, die sie am Ende präsentiert, lässt noch Zweifel zu. So ist das Leben, eben.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema