Zum Muttertag gibt es Blumen. Dafür haben schon die Floristenverbände gesorgt, denen wir seine Verankerung im Festkalender verdanken: und wenn schon keinen Strauß, dann zumindest eine Karte mit floralen Motiven. Auch in „Jeder Tag ist Muttertag“, Hilary Mantels Debütroman von 1985, gibt es im Wonnemonat Mai Post für die Mutter.
Es ist ein Schreiben vom Sozialamt, das die Tochter Muriel ihrer Mutter Evelyn weiterreichen soll. Muriel, eine junge Frau mit geistiger Behinderung, verbringt jeden Donnerstagnachmittag in einer therapeutischen Tageseinrichtung.
Vermeintlich hilflose Tochter
Diese ist Muriels einziger sozialer Kontakt mit der Außenwelt. Mit ihrer überforderten und selbst schwer paranoiden Mutter lebt sie in einem verwahrlosten Haus in einer englischen Kleinstadt. Ein wahrhaft gespenstischer Ort, denn Evelyn sieht sich von Geistern verfolgt und schottet sich und die vermeintlich hilflose Tochter ab.
In dem amtlichen Brief steht, dass Muriels Tagesbetreuung umzieht und deswegen kurz unterbrochen werden muss. „Und da ist die tote Pflanze, die kein Blatt mehr hat, es gibt nur noch den braunen Stängel … Vorsichtig hebt sie den Blumentopf an, faltet den Brief einmal und legt ihn darunter. (Und du gibst ihn ganz sicher deiner Mutter, das tust du, nicht wahr, Muriel?) Unter die Pflanze.“
Evelyn findet den Brief zufällig Wochen später, Wochen, in denen Muriel unbeaufsichtigt aus dem Haus gegangen ist. Kurz darauf ist sie schwanger, was eine fatale Kette von Ereignissen auslöst – denn den Zustand ihrer Tochter will Evelyn unbedingt verbergen, vor allem vor den bösen, feindlichen Ämtern.
Hilary Mantel, die 2022 im Alter von 70 Jahren starb, ist vor allem für ihre historischen Romane gefeiert worden. Die beiden ersten Bände ihrer Thomas-Cromwell-Trilogie erhielten jeweils den Booker-Preis. In ihrem Debüt verarbeitete sie eigene Erfahrungen als Sozialarbeiterin; detailliert schildert sie die alltäglichen, oft furchtbar banalen Probleme des Betreuungssystems – Personalfluktuation, verdaddelte Akten, Briefe unter Blumentöpfen –, die schwerwiegende Folgen nach sich ziehen. Zur tragischen Figur wird die engagierte Betreuerin, die die wahren Verhältnisse ihrer „Klienten“ erst erkennt, als es zu spät ist. Abgründiger und diabolischer könnte ein Mutter-Tochter-Roman kaum sein.
Mutterschaft ist auf mehreren Ebenen Thema des Romans, dem Mantel auch noch die meisterhafte Fortsetzung „Im Vollbesitz des eigenen Wahns“ folgen ließ. Die Geister der toten und nie geborenen Kinder bevölkern nicht nur Muriels geplagte Seele.
Hilary Mantel hat in ihrer Autobiografie „Von Geist und Geistern“ (2003) geschildert, wie prägend ihre eigene schwere Erkrankung als junge Frau gewesen ist – sie litt unter Endometriose und konnte nach einer Operation keine Kinder mehr bekommen. Das Kind, das Mantel nie real im Leib trug, sei dennoch in ihr weiter gewachsen, als „Geisterkind“, als „Halbschatten der Möglichkeit“. In der Auseinandersetzung mit ihrer unmöglich-möglichen Mutterschaft liegt ein Schlüssel zum Werk dieser großen Autorin. Ihre Literatur ist das Reich der Gespenster.
Hilary Mantel: „Jeder Tag ist Muttertag“. Dumont, 256 Seiten, 11 Euro.