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Literatur 45 Jahre Deutschpunk

Wir waren die Türken von morgen

Redakteur Feuilleton
Alles war vorbei: Gabi Delgado-López und Robert Görl von DAF Alles war vorbei: Gabi Delgado-López und Robert Görl von DAF
Alles war vorbei: Gabi Delgado-López und Robert Görl von DAF
Quelle: Sheila Rock/ Shutterstock
Im Sommer 1978 feierten die deutschen Punks ihr erstes Festival in Berlin-Kreuzberg. Daraus ging die Hymne einer ganzen Generation hervor: Sie beschwor die Kebabträume in der Mauerstadt, türkische Agenten in der DDR – und alle grölten „Deutschland, Deutschland“. Worum ging es eigentlich dabei?

Zum Jahrestag des Mauerbaus, es war der 17. im Sommer 1978, fuhr die Düsseldorfer Punkband Mittagspause nach Berlin. Einer der beiden Sänger war Gabi Delgado-López. Er trug einen Panzerfahreranzug der Sowjetarmee, was an der Staatsgrenze zur DDR für einigen Ärger sorgte und den Spanier aus dem Ruhrpott auf eine Idee brachte: Wenn es im Osten eine Massenorganisation wie die DSF, die Deutsch-Sowjetische Freundschaft, gab, sollte der Westen sich auf seine Weise zu Amerika bekennen. Eine Punkband namens DAF würde Gabi Delgado-López gründen. Deutsch-Amerikanische Freundschaft, DAF statt RAF.

Es sind die Gründungsmythen einer neuen, einer dritten Bundesrepublik, von denen Ulrich Gutmair erzählt. „‚Wir sind die Türken von morgen‘ – Neue Welle, Neues Deutschland“ ist ein anderes Buch als all die Heldensagen über Punk im deutschen Westen, in denen die 1978er die 68er als revolutionäre Kraft ablösen, indem sie die „progressive“ Rockmusik zerstören, sich die Haare schneiden und alles ästhetisieren, was die Alten provoziert. Der Sündenstolz ist auch ein Leitmotiv bei Gutmair, aber nicht das stärkste. Aus der Subkulturgeschichte wird eine Kulturgeschichte.

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Die Berlinreise von Mittagspause führt zum ersten deutschen Festival der neuen Bands ins SO36, einem ehemaligen Kino in Kreuzberg. S.Y.P.H, Male, DIN A Testbild, Stuka Pilots, PVC und Ffurs sind eingeladen. Iggy Pop und David Bowie schauen vorbei. Gabi Delgado-López isst mit seinen Bandkollegen Döner auf der Bühne und wird, weil er diesmal einen Blaumann trägt mit BRD-Schild auf der Brusttasche, von den Berliner Punks als Nazi angefeindet. In der Nacht zum 13. August wird eine Mauertorte angeschnitten. Daraufhin formiert sich ein Protestzug zur Betongrenze – wobei auch sechs Jahrzehnte später nicht ganz klar wird, wo der aufrichtige Zorn gegen das Schandmal aufhört und die Ironie beginnt: Ohne die Mauer, so erzählen es die Veteranen für gewöhnlich, wäre West-Berlin nicht jenes wunderbare Soziotop gewesen, in dem solche Subkulturen gedeihen konnten.

Gutmair schaut über die Mauer in den Osten und zugleich tiefer hinein ins eigene Land im Westen und die eingeschlossene Stadt. Delgado-López schreibt damals das Lied dazu: „Kebabträume in der Mauerstadt/ Türk-Kültür hinter Stacheldraht/ Neu-Izmir ist in der DDR/ Atatürk der neue Herr/ Miliyet für die Sowjetunion/ In jeder Imbissstube ein Spion/ Im ZK Agent aus Türkei/ Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei/ Wir sind die Türken von morgen“. „Kebabträume“ ist noch heute ein gesungenes Rätsel. Hat der Mauerbau der DDR den Strom ostdeutscher Billiglohnarbeiter stillgelegt und so die Bundesrepublik zum multikulturellen Land gemacht? Wer ist das Wir, wer sind die Türken von morgen? Und wer ruft hier „Deutschland, Deutschland“?

Ulrich Gutmair: „Wir sind die Türken von morgen – Neue Welle, neues Deutschland“ (Tropen, 304 S., 22 €)
Ulrich Gutmair: „Wir sind die Türken von morgen – Neue Welle, neues Deutschland“ (Tropen, 304 S., 22 €)
Quelle: Klett-Cotta

DAF haben mit einer einzigen Hymne, sie erschien als Single 1980 und in der Gitarrenversion auf „Monarchie und Alltag“ von den Fehlfarben, die Einwanderungskultur mit typisch deutschen Ängsten und Verschwörungsnarrativen in ein Werk verwandelt, das noch nachhaltiger irritiert als DAF-Zeilen wie „Tanz den Mussolini, tanz den Adolf Hitler, tanz den Jesus Christus“. Punk als Exorzismus. In den seinerzeit erblühenden migrantischen Milieus des Westens und im Osten, wo die Jugend wirklich eingemauert ist. „Hüben wie drüben gibt es gute Gründe, sich gegen die gesellschaftliche Wirklichkeit aufzulehnen“, schreibt Gutmair.

Sein Punk ist keine Mode aus den späten Siebzigern, sondern eine moderne Haltung: „Punk ist eine antiidentitäre Bewegung, die all jene willkommen heißt, die entweder nicht in der Lage sind oder schlicht keine Lust darauf haben, die bestehenden Identitätsangebote anzunehmen.“ Was auch für Ideologien gilt. Herzlich willkommen.

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