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Kultur Ralph Giordano

Ein Mann des Einspruchs

Ralph Giordano (1923–2014) Ralph Giordano (1923–2014)
Ralph Giordano (1923–2014)
Quelle: ullstein bild/Brigitte Friedrich
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Am 20. März wäre der Schriftsteller und Gesellschaftskritiker Ralph Giordano 100 Jahre alt geworden. Seine Stimme fehlt – denn er war weit mehr als ein „Mahner und Warner“. Er war ein antitotalitärer Linker, der den Relativierern immer Paroli geboten hat.

Es war nur ein winzig kleiner, abwertender Satz in einem „taz“-Leserbrief, doch vermutlich durchaus typisch für ein bestimmtes Milieu-Empfinden: „Wer würde schon Bücher von Ralph Giordano lesen?“ Sollte wohl heißen: Der bis an sein Lebensende 2014 als Gast in politischen Talkshows und als Verfasser „Offener Briefe“ in Zeitungen und Zeitschriften derart Präsente betrieb wohl das Schreiben nebenbei. Dabei zeugte die Stringenz und Präzision seiner Sätze, die es keineswegs bei „Ich sag mal“-Meinungs-Postulaten beließen, ebenso vom Analysevermögen des Intellektuellen wie von der Sprachgenauigkeit des Schriftstellers.

Hatte womöglich auch Giordanos Äußeres zu jener mürrisch-teutonischen Fehlwahrnehmung beigetragen? Das noch im hohen Alter strahlend weiße Haar, der berühmte Seidenschal und der dezent hanseatische Tonfall gehörten einem Zeitgenossen, den man in früheren Jahrzehnten wahrscheinlich als „Zivilisationsliterat“ geschmäht hätte.

Am 20. März 1923 in Hamburg als Sohn eines italienischen Vaters und einer jüdischen Deutschen geboren, hatte Giordano schon als Schüler erfahren müssen, wie sich ein vermeintlich erwachendes Deutschland abkehrte von jeglichen Komments westlicher Zivilisation und selbst ein großstädtisches Gymnasium für ihn und seinen Bruder Rocco zu einem Ort der Ausgrenzung und Demütigung wurde. Später musste die gesamte Familie untertauchen und taumelte dann am 4. Mai 1945 in Hamburg-Alsterdorf aus einem Kellerloch, in dem sich bereits die Ratten an die derart Erschöpften und beinahe schon Leblosen herangemacht hatten.

Noch als alter Mann wurde Ralph Giordano nicht müde zu erklären, weshalb er, der lebenslange Kritiker eines reaktionären Militarismus, selbstverständlich auch kein Pazifist sein konnte: Da die Niederringung der Nazis doch allein den Waffen der Anti-Hitler-Koalition zu verdanken war und das Überleben seiner Familie ganz konkret den Panzern der 8. britischen Armee unter General Bernard Montgomery (dem späteren stellvertretenden NATO-Oberbefehlshaber), die wenige Tage zuvor bereits das KZ Bergen-Belsen befreit hatte. In seinem 1982 erschienenem und seinerzeit auch von Heinrich Böll begeistert aufgenommenen Roman „Die Bertinis“ erzählt Ralph Giordano diese Familiengeschichte, der danach sogar in ihrer mehrteiligen TV-Verfilmung nichts von ihrer Wucht verloren gegangen war.

Über die „Zweite Schuld“

Lange Zeit siedelten Giordanos Feinde und Verächter vor allem rechts, von den Abonnenten der „Soldatenzeitung“ bis zu manchem CDU-Mitglied. Für sie war der Autor der „Zweiten Schuld“, einer fulminanten Studie über den bundesdeutschen Nachkriegsfrieden mit den NS-Tätern, und der Dokumentarfilmer von „Heia Safari“, einer bereits 1966 gesendeten Auseinandersetzung mit den deutschen Kolonialverbrechen, vor allem ein „Nestbeschmutzer“. Als dann Anfang der 1990er Jahre die damalige Bundesregierung zu den ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen und zu den Morden von Mölln und Solingen nicht in der nötigen Klarheit Stellung bezog und der von Neonazis persönlich bedrohte Ralph Giordano öffentlich über eine Selbstbewaffnung nachdachte, war in diesen Kreisen die Empörung groß.

Noch heute werden sich manche an die damalige Debatte erinnern. Halb vergessen ist, dass Giordano, im ersten Nachkriegsjahrzehnt überzeugter Kommunist, bereits 1961 in seinem Buch „Die Partei hat immer recht“ mit dem Stalinismus abgerechnet hatte – und dabei auch seine eigene temporäre Blindheit, „das Teilen der Humanitas“, schonungslos sezierte.

Später war er dann einer der ersten, der – ebenfalls in einer TV-Dokumentation – den türkischen Völkermord an den Armeniern und die Komplizenschaft des kaiserlichen Deutschland thematisierte. (Diesmal kamen die Morddrohungen von den rechtsextrem-türkischen Grauen Wölfen.)

Ein öffentlicher Intellektueller

Lange bevor „Kontextualisierung“ zu einem Mode- oder gar Kampfbegriff wurde, um alles mit allem zu vermengen, hatte Giordano als Schriftsteller, Publizist, Auslandsreporter und public intellectual bewiesen, dass sich sehr wohl Bezüge herstellen und Traditionslinien offenlegen ließen, ohne damit die Singularität von Auschwitz zu leugnen oder Stalins und Hitlers Opfer gegeneinander aufzurechnen. Nicht zufällig fiel Giordanos Einspruch gegen Ernst Noltes infamen Versuch einer Auslagerung des Holocaust („eine asiatische Tat“) ebenso vehement aus wie gegen jene, die er in den Jahren nach 1989 dann vor allem in der „taz“ als „trauerunfähige Linke“ bezeichnete, als empathielos und unfähig, die Massenverbrechen des Kommunismus auch nur wahrzunehmen.

Dass die beginnende Aufarbeitung des SED-Staates vom Ruch befreit werden konnte, ein „konservatives Projekt“ zu sein, ist deshalb auch einem antitotalitären Linken wie Ralph Giordano mitzuverdanken, dessen mediale Präsenz von einer persönlichen Glaubwürdigkeit und einer Argumentationsschärfe grundiert war, mit der damalige Kontrahenten wie Egon Bahr, Walter Jens, Uwe Wesel oder Hans-Christian Ströbele kaum mithalten konnten.

Biografisch beglaubigte Klarheit

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Das gleiche galt für seine profunde Kritik an der sogenannten „Friedensbewegung“, die im Januar 1991 im Augenblick der höchsten Gefahr dem von Saddam Hussein angegriffenen Israel die Solidarität verweigerte und dann auch 1995 die bosnischen Muslime lieber dem Milosevic-Faschismus opferte als auch nur ein Jota abzugehen von ihrem Pazifismus-Begriff.

In genau jener Abstrahierung vom Konkreten, einhergehend mit weinerlich-brutaler Opfer-Täter-Umkehr sah Ralph Giordano übelste deutsche Täter-Tradition. Gut vorstellbar, was er zu den gegenwärtigen Auslassungen der Prechts, Welzers, Käßmanns, Schwarzers, Chrupallas, Weidels und Wagenknechts gesagt hätte und mit welch biografisch beglaubigter Klarheit er wohl auch dem mäandernden Raunen des integren Jürgen Habermas begegnet wäre.

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Und die zahlreichen Bücher, die der oben erwähnte Leserbriefschreiber so stolz war, nicht zu kennen? Nun, Giordanos wohl schönstes, 1991 veröffentlichtes Buch „Israel, um Himmels Willen Israel“ liest sich gerade heute aktueller denn je, war seine Solidarität mit dem Land doch auch an jene Gerechtigkeit im Inneren gebunden, die einst bereits die machtkritischen Propheten von Jesaja bis Amos angemahnt hatten. Wobei er, Reporter, Vollbluterzähler und Ästhet, es natürlich nicht beim bloßen Mahnen belassen hatte, sondern unverwechselbare Menschen in dramatischer Landschaft zu Wort kommen ließ – ebenso wie in seinen Büchern zu Irland, Masuren und Sizilien.

Und so sehr er als Chronist mit seiner eigenen Lebenserfahrung auch präsent blieb in dieser packenden non-fiktionalen Prosa – mit der gegenwärtig so beliebt egomanisch-identitären Rede eines „Ich als...“ hätte er nie und nimmer seine Bücher begonnen. Und schon gar nicht hätte einer wie Ralph Giordano in seiner emanzipatorischen Kritik am Islamismus, aber auch am Islam auf den Beifall und die lockenden Klickzahlen aus dem Milieu des rechten Ressentiments spekuliert. Mit gutem Grund und ohne falsche Bescheidenheit trägt eines seiner Bücher, die Fortschreibung seiner „Erinnerungen eines Davongekommenen“, den Titel „Von der Leistung, kein Zyniker“ geworden zu sein.

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