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Kultur „Johann Holtrop“ in Köln

Sehnsucht nach dem Königsdrama

Freier Mitarbeiter im Feuilleton
Verstrickt: Melanie Kretschmann als Johann Holtrop Verstrickt: Melanie Kretschmann als Johann Holtrop
Verstrickt: Melanie Kretschmann als Johann Holtrop
Quelle: Tommy Hetzel
In „Johann Holtrop“ erzählt Rainald Goetz vom Zerfall der Berliner Republik. Jetzt fand am Schauspiel Köln die Uraufführung des Romans statt. In den besten Momenten lässt Stefan Bachmanns Inszenierung an Shakespeare denken.

Als Rainald Goetz 2012 „Johann Holtrop“ veröffentlichte, war dieser große Gesellschaftsroman selbst bereits ein Rückblick. Wie Hegels Eule der Minerva ihren Flug in der Dämmerung beginnt, warf der von Goetz so bezeichnete „Abriss der Gesellschaft“ einen Blick ins Innere der Berliner Republik, als diese nicht nur schwer erschüttert war, sondern erste Zeichen der Auflösung zeigte: Immobilienkrise, Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Schuldenkrise, Eurokrise und so weiter. Krise ist seitdem immer. Nichts bleibt, wie es war, der Abriss geht weiter. Nur Goetz machte sich immer rarer. Doch plötzlich ist er wieder da, vergangene Woche mit einem Auftritt am Berliner Wissenschaftskolleg und nun in Köln. Grüne Bomberjacke, roter Dussmann-Beutel, er ist nicht zu übersehen.

Im „Johann Holtrop“ erzählte Goetz die Lebensgeschichte eines CEOs der Deutschland AG, überdeutlich am später wegen Untreue verurteilten Bertelsmann-Manager Thomas Middelhoff orientiert. Bis der Roman den Weg auf die Theaterbühne gefunden hat, dauerte es über zehn Jahre. Nun kann sich das Schauspiel Köln – in Koproduktion mit dem Düsseldorfer Schauspielhaus – einer Goetz-Uraufführung rühmen.

Regie führte, wie schon bei dem Goetz-Stück „Reich des Todes“ am gleichen Haus vor knapp zwei Jahren, der Intendant selbst, der demnächst das Wiener Burgtheater leiten wird: Stefan Bachmann. Olaf Altmann hat die Bühne entworfen, Jana Findeklee und Joki Tewes die Kostüme, Choreografie machte Sabina Perry und die Musik Sven Kaiser – auch das war bereits bei „Reich des Todes“ der Fall. Das sieht man auch auf der Bühne, die beiden Inszenierungen ähneln sich auf den ersten Blick sehr. Erste Anzeichen einer Kölner Goetz-Ästhetik?

Verstrickungszusammenhang

Die zahlreichen Gummischnüre, die sich von unten nach oben spannen, laden zum freien Assoziieren ein. Hier ist jeder verstrickt, doch wer zieht die Strippen? Durch den geschickten Einsatz des Lichts entstehen auf der sonst nahezu leeren Bühne verschiedene Räume, mal legt sich der Schimmer einer feinen Matrix über das Geschehen, mal treten die Streben wie in einer Gefängniszelle grell hervor. Hier ist nicht nur jeder verstrickt, hier ist auch jeder gefangen. Wie an Fäden im Marionettentheater agieren auch die Schauspieler, die Bewegungen haben etwas Mechanisches und die Sprache etwas Zerrissenes. Die Melodie wird von den Verhältnissen vorgegeben, man muss dem ratternden Rhythmus der harten Klavieranschläge der kleinen Kapelle am Bühnenrand folgen.

Es ist ein Verblendungs- und Verstrickungszusammenhang, in den die Figuren eingesperrt sind: die Gesellschaft als Marionettentheater. Wie die Orte, ob in der Firma, auf Mallorca oder in der Paris-Bar, gewinnen die Figuren – „Restseelenruinen“ heißt es im Roman – kaum an Gestalt. Alles ist Oberfläche, die von Goetz im Roman geschilderte Entleerung und Entwirklichung der Welt wird zum ästhetischen Prinzip. Eine Stilisierung, die mit ihrem starken Fokus auf das Verfremdende selbst noch zum Zuschauer eine große Distanz aufbaut. Selbst der von Melanie Kretschmann gespielte Holtrop – es sind an dem Abend ausschließlich Schauspielerinnen, die in die zahlreichen Rollen schlüpfen – ist kaum zu greifen. Der Untergang des Egoisten Johann Holtrop, es ist nur eine Randnotiz im Netz der Welt, er klappt am Ende zusammen wie eine Marionette, der die Stricke durchtrennt wurden.

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Mit dem weißblonden Haar lässt die Darstellung des Holtrop an den im Publikum sitzenden Autor denken. Kein Wunder, zieht der in seinem Roman immer wieder Parallelen zwischen Wirtschaft und Kunst. In einer Szene setzt sich Holtrop eine Narrenkappe auf den Schopf, es erinnert an das Gemälde „Kasperle“ von Martin Kippenberger, das Goetz mit einem schalkhaften Lachen zeigt. Dieses Porträt des Autors als junger Mann erinnert zugleich an den berühmten Schlussmonolog von Shakespeares Macbeth. Was ist Leben? „Ein armer Gaukler, der seine Stunde lang sich auf der Bühne zerquält und tobt; dann hört man ihn nicht mehr“, räsoniert der sich für unbesiegbar haltende und doch geschlagene Herrscher in den Trümmern seiner Macht.

Maximale Unbehaglichkeit

Holtrop als Wiedergänger von Goetz und Macbeth? Solche Momente, in denen die Inszenierung ihre Immanenz durchbricht und sich ins Metaphorische öffnet, sind allerdings selten. Bei Holtrop an Macbeth zu denken, passt auch deswegen, weil bei Goetz die Sehnsucht nach dem Königsdrama zu spüren ist. „Reich des Todes“, im Herbst 2020 in Hamburg uraufgeführt, war der Versuch, die US-Regierung von George Bush jun. auf die Maßstäbe Shakespeares zu skalieren. Wenn Goetz in den Maschinenraum blickt, tut er das von der Kommandobrücke aus. Dieser Blick mag verstörend und irritierend sein, er ist aber illusionsloser als die neuromantische Betroffenheitsliteratur, die sich durch Identifikation mit den Opfern ihre Behaglichkeitsnester im Wirklichen schafft. Goetz hingegen ist maximale Unbehaglichkeit, maximale Wirklichkeit.

Stellt man sich zum Schluss die unvermeidliche Frage, was „Johann Holtrop“ – noch dazu auf einer Theaterbühne – heute noch erzählen kann, gibt es zwei Antworten. Die eine betrifft das Stoffliche, die ferne Nähe des Geschehens als Vorgeschichte unserer Gegenwart. „Maximal gegenwärtig“ nennt Goetz seinen Roman in dieser Hinsicht im Programmheft (das auch einen merkwürdigen Dialog mit ChatGPT über Goetz beinhaltet). Die andere betrifft die Wahl der Perspektive, wie Shakespeare die Beschreibung der Macht nicht zu scheuen und nicht den Umweg über die „Sklavenmoral“ und ihre Sprache zu wählen. In dieser Hinsicht darf man vor allem gespannt sein, was aus dem Romanprojekt „Der Henker“ werden wird, das Goetz eben in einem kurzen Artikel „Absoluter Idealismus“ in der „Zeitschrift für Ideengeschichte“ erwähnte. Könnte es wieder das Porträt einer Epoche im Moment ihres Verschwindens werden? Bis das Werk fertig wird, kann man nochmal in den „Johann Holtrop“ schauen – oder nimmt mit der kurzweiligen Kölner Inszenierung vorlieb.

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