Lange ist Eckhart Nickel vor allem als Autor aus dem Umfeld von Christian Kracht wahrgenommen worden. Beide sind Jahrgang 1966, waren Teil des Perfomance-Projekts „Tristesse Royale“ (1999) und gaben später im Axel-Springer-Verlag die legendäre Literaturzeitschrift „Der Freund“ heraus. Während Kracht seit „Faserland“ (1995) als Romanautor etabliert war, wagte Nickel, der mit Erzählungen und feiner Reiseprosa auffiel, erst 2018 sein Romandebüt: „Hysteria“.
Mit der Idee zu seinem jetzigen, zweiten Roman scheint der studierte Kunsthistoriker 25 Jahre schwanger gegangen zu sein: „Vor die Wahl gestellt, in welchem Ölgemälde des 18. Jahrhunderts er sich am liebsten aufhalten würde, nennt er Antoine Watteaus ‚Die Einschiffung nach Kythera‘“ – das war 1998 im Klappentext des Reisebuchs „Ferien für immer“ zu lesen. Im Roman „Spitzweg“ (wie Carl Spitzweg, der Maler) tummeln sich mehrere Menschen, die direkt aus Gemälden entstiegen scheinen.
Schauplatz der Geschichte ist ein humanistisches Gymnasium, Kunstunterricht in der Oberstufe. Kirsten, die talentierteste Zeichnerin der Klasse, bekommt von der Kunstlehrerin einen Satz gesagt, den wohl niemand gern zu seinem Selbstporträt hört: „Mut zur Hässlichkeit“. Kirsten stürmt aus der Klasse, während der neue, schnöselige Mitschüler Carl Kirstens Zeichnung zu seinen Unterlagen nimmt. Das wiederum beobachtet Kirstens Banknachbar, der Ich-Erzähler des Romans. Er ist über das Bilderrätsel „Original und Fälschung“ der Programmzeitschrift „Hörzu“ zum Kunstsinn sozialisiert worden.
Drei Schüler und ein Racheplan
Die drei schmieden einen Racheplan: Kirsten wird verschwinden und kunsthistorisch aufgeladene Bildbotschaften senden, um der Lehrerin für ihr Fehlverhalten einen gehörigen Schrecken einzujagen. Nickels Buch ist das, was es seinem Protagonisten an einer Stelle selbst bescheinigt: „im vorteilhaftesten Sinne aus der Zeit gefallen“. Er spielt in einer fast zeitlosen, heilen Welt bildungsbürgerlich homogener Milieus, die im Westdeutschland der gefühlten 1980er-Jahre allenfalls durch erste Ökobürger (Kirstens Familie) irritiert wurden.
Wie ein Aperçu auf den klassischen Bildungsroman verhandelt „Spitzweg“ große Fragen: Wie sehr verfeinern wir unser Leben durch Kunst? Kann sich ein bürgerliches Individuum komplett der Kunst verschreiben? Und sind Leute, die genau das tun, noch Lebenskünstler oder schon Sonderlinge?
Der Hagestolz als Typus
Die deutsche Sprache hat ein herrliches altmodisches Wort dafür, den Hagestolz. In der Figur des Hagestolzes, die Nickel dem gleichnamigen Spitzweg-Gemälde – das auch das Buchcover schmückt – entlehnt und auf die Figur des Carl projiziert, erzählt der Roman von Carl, der schon als Schüler weiß, dass er sich statt (partnerschaftlichen) Beziehungen und bürgerlichen Konventionen (Familie, Nachkommenschaft) lieber der reinen Kunst hingeben wird.
Neben Hagestolz/Carl erinnern weitere Personen an Figuren aus berühmten Gemälden: Kirsten gibt sich als leibhaftige Ophelia aus dem gleichnamigen Gemälde von John Everett Millais. Die Kunstlehrerin Frau Hügel wiederum wird uns als eine zum Leben erweckte „Dame mit dem Hermelin“ von Leonardo da Vinci präsentiert.
Der ganze Roman wirkt wie eine Versuchsanordnung, in der HB-Bleistifte von Faber-Castell, Kunsttheorie und liebevolle Bildungsbürgersatire eine magisch-realistische Mischung eingehen. Drive entfaltet der eigentliche Plot zu keiner Zeit, vielmehr nutzt Nickel die ersonnene Handlung, um in wohltemperierter Poeta-doctus-Manier über die Beziehung von Kunst und Leben zu reflektieren.
Sprachlich gehört Nickel zu den größten Stilisten seiner Generation, und wer sich erst einmal an die ohne jeden Jugendjargon markierte, zeitlose Schülersprache des Romans gewöhnt hat, ertappt sich bei dem Gedanken, gerade eine Novelle von Paul Heyse, eine Erzählung von Thomas Mann zu lesen – oder wenigstens ein Capriccio von Martin Mosebach.
Fans all dieser Autoren werden in „Spitzweg“ auf ihre Kosten kommen. Die Geschichte weiß selbst, von welcher artenschutzbedürftigen Spezies Mensch sie erzählt. Denn was ruft der rohe Mitschüler namens Klotz den auf Verfeinerung bedachten Kunststrebern zu? „Bildungsbürgertum go home, haha.“ Jetzt fehlt „Spitzweg“ nur noch ein QR-Code, der die zahlreichen erwähnten Kunstwerke uns Postbildungsbürgern barrierefrei zugänglich macht.
Eckhart Nickel: Spitzweg. Piper, 256 Seiten, 22 Euro