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Kultur Kriegstagebuch aus der Ukraine

Eine Niederlage können wir uns nicht leisten

Trost für die Untröstlichen, aufgenommen unweit von Butscha Trost für die Untröstlichen, aufgenommen unweit von Butscha
Trost für die Untröstlichen, unweit von Butscha
Quelle: AP
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Seit dem 24. Februar 2022 hält uns der preisgekrönte Übersetzer Juri Durkot aus Lemberg über die Lage in der Ukraine auf dem Laufenden, erzählt von Freunden, der Familie, den äußeren wie inneren Verheerungen des Kriegs. Lesen Sie hier sein Tagebuch aus dem zweiten Kriegsmonat.

Juri Durkot setzt sein Tagebuch fort. Seine neuesten Einträge finden Sie hier. Seine Berichte aus dem ersten Kriegsmonat sind hier nachzulesen.

Lemberg, den 22. April, nachmittags

Was macht den Unterschied aus zwischen einem Tagebuch und einer Kolumne? Vor allem die Selbstdisziplin. Jeder seriöse Tagebuchschreiber betrachtet die Texte als sein Lebenswerk. Oder zumindest als Therapie. Das verpflichtet. Man könnte dafür ein noch schöneres, typisch deutsches und deswegen für einen Ausländer absolut unaussprechliches Wort verwenden: Es ist eine Selbstverpflichtung. Daran hat mich Juri Andruchowytsch vor paar Jahren erinnert.

Ich weiß nicht wirklich, wie es funktioniert. Ich habe noch nie ein Tagebuch geschrieben. Aber ich stelle mir vor, dass man fleißig und regelmäßig schreiben muss. Und ein echter Tagebüchler müsste sein Leben lang schreiben. Keine Ahnung, ob das Tagebuchschreiben – wie der kaum übersetzbare Begriff der „Innerlichkeit“ – in Deutschland erfunden wurde, beides passt aber gut zusammen. Es ist bemerkenswert, dass es zu dieser Klopstockschen Wortschöpfung nur in der deutschen Wikipedia einen Eintrag gibt. Sonst in keiner anderen Sprache.

Trauergottesdienst für einen gefallenen Freiwilligen in Lemberg am 14. April
Trauergottesdienst für einen gefallenen Freiwilligen in Lemberg am 14. April
Quelle: AFP

Bei Kriegstagebüchern ist es anders. Weil alle Kriege irgendwann enden, muss man sich die Frage stellen: Was macht man danach? Ich weiß nicht, warum ich gerade heute darüber nachdenke. Vielleicht ist es bloß ein verregneter Karfreitag vor dem orthodoxen Ostern.

Bei einer Kolumne hat man dagegen mehr Freiheit. Und mehr Zeit. Da dieses Genre eher wöchentlich – wenn man das Glück hat, ein berühmter Autor zu sein, zweiwöchentlich oder sogar monatlich – praktiziert wird, sieht es eine gewisse Muße vor. Man kann sechs Tage in der Woche seinen Vergnügungen nachgehen, damit in dieser Zeit ein paar geniale Gedanken heranreifen, bevor man am siebten Tag ein paar Zeilen niederschreibt.

Nach diesem Prinzip hat eine der besten ukrainischen Wochenzeitungen funktioniert. Damals redeten alle von einer „Zeitenwende“, und zwar von einer echten. Die von einem „Liefern-oder-nicht-liefern“-Waffendilemma geprägte Zeitenwende gab es damals noch nicht.

Es ist ein Rätsel, warum in mir in den letzten Wochen plötzlich so viele Erinnerungen aus den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren wach werden. Womöglich, weil ein Verrückter nun die Zeit zurückdrehen will. Vielleicht ist es nur ein Schutzmechanismus. Aber es war eine unglaublich spannende Zeit mit so viel Neuem an Freiheit, an Wissen, einer plötzlichen Vielfalt von Ideen und Gedanken, dass uns die Welt wie eine atemberaubende Reise erschien. Zu dieser neuen Welt gehörten auch die neuen Zeitungen.

Noch wichtiger als die Zeitenwende war möglicherweise die Tatsache, dass damals die ersten Computer in die Redaktionsräume Einzug gefunden hatten. Und die ersten Computerspiele. Ich glaube sogar, sie waren der Hauptgrund dafür, warum die Wochenzeitung ein besonders beliebtes Format war, obgleich Medienhistoriker auf absolut nebensächliche Faktoren wie Papierprobleme oder drucktechnische Engpässe hinweisen.

So füllte sich der Redaktionsalltag sechs Tage die Woche mit fröhlichen Computerklängen. Nein, man hat nicht nur an und mit den Rechnern gespielt. Man hat auch Geburtstage gefeiert. Und andere Feste. Am siebten Tag hat man die beste Zeitung aller Zeiten produziert. Dies hatte zugleich eine metaphysische Dimension: Man verstand die Mission nicht als Schöpfung, an der man sechs Tage arbeitet und sich am siebten Tag ausruht, sondern als Zerstörung – des alten Systems, der menschenverachtenden Ideologie, der Überbleibsel der verlogenen kommunistischen Welt. Als diese Welt endgültig zugrunde gegangen war, fiel es schwer, weiterzumachen. Mitte der 1990er-Jahre wurde das Blatt eingestellt. Viele dachten damals, dass Freiheit und Demokratie fast automatisch siegen würden.

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Aber sie haben nicht automatisch gesiegt. Man hat dafür kämpfen müssen, mehrfach und immer wieder. Die Unabhängigkeit als Zerfallsprodukt des sowjetischen Imperiums war den Ukrainern nach allgemeiner Auffassung noch mehr oder weniger kampflos in den Schoß gefallen. 2004 bedurfte es schon einer – immerhin friedlichen – Revolution, um die Rückkehr des Autoritarismus zu verhindern. Zehn Jahre später während des Euromaidans zahlte man bereits einen viel höheren Preis an Menschenleben und anschließendem Gebietsverlust, um einen neuen Möchtegerndiktator zu verjagen.

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Der schwarze Schatten Russlands hing all die Jahre am Himmel über Kiew und wollte es nicht freigeben. Nun kämpfen wir gegen den brutalen Wahn einer verbrecherischen russischen Kriegs- und Propagandamaschine. Diesmal müssen wir einfach gewinnen. Eine Niederlage können wir uns nicht leisten. Einen fünften Versuch wird es nicht geben.

Lemberg, den 21. April, abends

Eigentlich hatte ich nicht vor, die deutsche Politik zu kommentieren. Ich habe dieses heikle Thema mit Absicht gemieden, auch wenn das Tagebuchformat es erlaubt. Dabei habe ich aus der Überzeugung heraus gehandelt, dass man das Thema am besten den deutschen Journalisten überlassen sollte. Und dem ukrainischen Botschafter.

Nach dem gestrigen Artikel in der „Bild“-Zeitung habe ich mich doch dazu entschieden. Weil es einfach wahnsinnig weh tut. Es ist schmerzhaft zu beobachten, wie egal Menschenleben sein können. Die Bundesregierung hat der deutschen Industrie den Export des Sanitätspanzers „Boxer“ in die Ukraine nicht erlaubt, hieß es in diesem Bericht.

Ich versuche diesen Satz in eine allgemein verständliche Sprache zu übersetzen: Die ukrainischen Soldaten und Zivilisten dürfen weiter sterben. Und zwar am besten einen langsamen Tod. Denn wenn man schnell stirbt, braucht man keinen Sanitätswagen mehr.

Das totale Versagen der deutschen Politik setzt sich also fort. Die Halbwahrheiten und Heucheleien multiplizieren sich, der Eindruck ist, man erfindet jeden möglichen Grund, warum man etwas nicht machen kann: Warum man auf Gasimporte nicht verzichten kann, warum man Waffen nicht liefern kann, warum man schwere Waffen nicht liefern kann … Irgendwie funktioniert alles nach dem Motto: Wir geben euch das, was ihr heute dringend braucht. Garantiert. Spätestens in sechs Monaten.

Vor zweitausend Jahren hätte ein römischer Senator nach einem kapitalen Versagen Gift genommen. Vor zweihundert Jahren hätte man sich wegen einer Lüge duellieren müssen. Noch vor paar Jahrzehnten wäre die Angelegenheit mit einem Rücktritt erledigt gewesen.

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Heute liegt die Latte viel niedriger. Man muss sich nicht einmal für ein Versagen entschuldigen. Es reicht, wenn man sagt, dass man einen Fehler gemacht hat. Oder noch besser: Man habe sich in einem Diktator getäuscht. Anders formuliert: Man hat sich vom Diktator freiwillig über den Tisch ziehen lassen. Trotz Warnrufe aus allen Ecken und Enden. Ich wollte sagen: Ländern.

Dieses Versagen ist so vollkommen, dass eigentlich die gesamte deutsche Politik zurücktreten müsste. Denn es zieht sich quer durch die gesamte deutsche politische Landschaft – von links nach rechts, von vorne nach hinten, von Nord nach Süd und von West nach Ost. Es ist vollkommen egal, an welchem Ende man das Ei aufschlägt. Aber der komplette Rücktritt der deutschen Politik ist unmöglich. So wird man sich weiter durchwursteln.

Dieses Versagen zieht sich auch durch die Medienlandschaft, die in einer scheinheiligen Ausgewogenheit jahrelang versucht hat, die Wahrheit in der Mitte zu finden, und dabei immer wieder in dieselbe Falle getappt ist. Durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der bis heute in seinen Schalten Kommentare russischer offizieller Stellen einblendet und Berichte über russische Lügen durch eine kleine Anmerkung relativiert, dass Russland etwas bestreite. Als wäre ein Serienmörder bereit, seine Morde einzugestehen.

Die russisch-amerikanische Journalistin und Autorin Masha Gessen hat es in einem Interview auf den Punkt gebracht: Die Nachrichtenagenturen sollten keine lächerlichen Mitteilungen von russischen Behörden verbreiten, denn alles, was von der russischen Propagandamaschine komme, sei unzuverlässig, und es sei unverantwortlich, sich darauf einzulassen.

Aber es ist auch ein Versagen der deutschen Gesellschaft insgesamt, der es – in ihrer komfortablen Muße und ihrer Verliebtheit in Schuldgefühle ausschließlich gegenüber Russland – nicht gelungen ist, die Welt ohne eine rosa Brille zu betrachten. Dass es überall viele sehr engagierte Menschen gibt – und zwar nicht nur in meiner eigenen Blase –, die es immer wieder versucht haben, ändert kaum etwas am bisherigen Ergebnis.

Wann hat das ein Ende? Ein von russischen Angriffen zerstörtes Haus in Charkiw
Wann hat das ein Ende? Ein von russischen Angriffen zerstörtes Haus in Charkiw
Quelle: REUTERS

2017 hat Masha Gessen ein Buch mit dem Titel „Die Zukunft ist Geschichte“ (im englischen Original: „The Future Is History“) veröffentlicht, in dem sie in den bewegenden Schicksalen der Protagonisten aufzeigt, wie der Totalitarismus schleichend Russland erobert und das Land sich in seine Geschichte zurückverkapselt hat. Für das heutige Russland sei die Zukunft nur noch Historie. Der russische Zoll hat die von Lesern im Ausland bestellten Exemplare immer wieder beschlagnahmt.

Ich weiß nicht, wann ich wieder nach Deutschland komme. Ich weiß nicht, ob ich mich hier noch wohlfühlen werde, auch wenn es früher immer der Fall gewesen ist. Dass ich es nicht bedauere, seit einer Ewigkeit ein inniges Verhältnis zu diesem Land zu haben, verdanke ich meinen zahlreichen Freunden, die überall in Deutschland leben. Bei ihnen möchte ich mich für diesen Text entschuldigen.

Doch wenn die deutsche Politik so weiter macht, befürchte ich, dass die Zukunft für uns alle Geschichte sein wird.

Lemberg, 20. April, nachmittags

„Wenn alle tot sind, ist das Große Spiel beendet. Nicht vorher“, sagt Hurree Babu, ein bengalischer Geheimagent, der für die Briten arbeitet. Es ist eine fiktive Figur aus dem Roman „Kim“ von Rudyard Kipling. Die Handlung spielt in den 1890er-Jahren in Britisch-Indien. Kipling hat den Begriff „Das Große Spiel“ (The Great Game) zwar nicht erfunden, durch seinen Roman aber entscheidend zu dessen Verbreitung beigetragen.

Mit diesem Ausdruck bezeichnet man das historische Ringen zwischen Großbritannien und Russland um die Vorherrschaft in Zentralasien im 19. Jahrhundert. Es war das Zeitalter des aufkommenden Imperialismus, geprägt durch den Wettlauf um neue Kolonien und das weltpolitische Machtstreben europäischer Staaten.

Für Hannah Arendt stand der Imperialismus an den Ursprüngen zweier totalitärer, verbrecherischer Regime, des Nationalsozialismus in Deutschland und des Stalinismus in der Sowjetunion, auch wenn er woanders nicht zum Desaster des Totalitarismus führte. Nach dem Zweiten Weltkrieg und mit der Unabhängigkeit der früheren Kolonien ging das Zeitalter des Imperialismus laut allgemeiner Auffassung zu Ende. Das letzte Imperium, die Sowjetunion, hörte jedoch erst 1991 auf zu existieren.

Heute bilden der russische aggressive Neoimperialismus und ein von Hass durchtränktes autokratisches Regime, bedient von einer totalen menschenverachtenden Propaganda, die dank moderner Kommunikationsmittel einst unvorstellbare Ausmaße erreicht hat, ein toxisches Gemisch, das unsere Welt seit Jahren vergiftet. „Russland stirbt“, schreibt ein ukrainischer Menschenrechtler: „Es stirbt an einer Überdosis Hass. Und diese tödliche Spritze hat es sich selbst verabreicht“.

Russische Soldaten paradieren in Sewastopol auf der Krim
Russische Soldaten paradieren in Sewastopol auf der Krim
Quelle: REUTERS

Der Tod und das Große Spiel scheinen tatsächlich zum russischen Motto geworden zu sein. Vielleicht hat man dort beides nie wirklich aufgegeben. Bei einem gewissen Tolstoi kann man nachlesen: „Jedem muss klar sein, dass eine Mobilisierung und ein globaler Krieg bis zum Tod bevorsteht. Jemand wird seinen Arbeitsplatz verlieren, jemand wird sein Geschäft verlieren, viele werden zu Krüppeln, und noch mehr Landsleute werden sterben. TOD ist unsere nationale Ideologie!“

Nein, das sind nicht die Worte einer fiktiven Romanfigur aus dem 19. Jahrhundert. Und es ist nicht Leo Tolstoi, der das gesagt hat. Es ist Pjotr Tolstoi, Vizevorsitzender der russischen Duma. Und Leos Urenkel.

Lemberg, den 19. April, nachmittags

Bevor Tom, Jerry, Donald Duck und Micky Maus in den letzten Jahren des auseinanderdriftenden sowjetischen Imperiums die Kinderstuben von Kaliningrad bis Wladiwostok eroberten, hatten die Kids ihren Spaß mit Animationsfilmen aus einheimischer Produktion. Die Herstellung von Zeichentrickfilmen beruhte in der UdSSR auf einer langen Tradition. Das erste Studio Sojusmultfilm war bereits 1936 gegründet worden, angeblich auf persönliche Anweisung Stalins. Es bezog die Räumlichkeiten zweier enteigneter orthodoxer Kirchen in Moskau und produzierte Kinderfilme im Disney-Stil.

Der kommunistischen Führung war es bewusst, wie wichtig Indoktrination schon im Kindesalter ist. Doch es war nicht alles Propaganda, was im Laufe der Jahrzehnte an Animationsfilmen produziert wurde. Märchen aus der Weltliteratur und kultige Serien gehörten zu den Klassikern, die jedes Kind (und selbstverständlich jeder Erwachsene) kannte. Der Hase und der Wolf oder das Krokodil und die Fantasieschöpfung Tscheburaschka, ein Wesen mit übergroßen Ohren, waren nicht nur als Kultfiguren beliebt, sondern lebten in zahlreichen Witzen weiter. Als sich im heutigen Russland die Zensur im Internet verstärkte und die ersten Ideen über ein „souveränes“, also völlig von der Außenwelt abgeschottetes Internet kursierten, schlugen einige Witzbolde vor, es „Tscheburaschka“ zu benennen.

Es gab sogar Kinderfilme mit eingebauten Anspielungen für Erwachsene. In der Zeichentrickserie „Die Abenteuer des Kapitän Wrungel“, die in den 1970er- und 1980er-Jahren in Kiew entstand, verschmelzen Actionfilm, Western und Thriller zu einer atemberaubenden Komposition. Nicht nur James Bond wird hier mit der Figur des Agenten 00X parodiert, auch die Beatles werden verehrt: Das U-Boot der Gangster trägt die Ziffern 66, ein verdeckter Hinweis auf den 1966 erschienenen Song „Yellow Submarine“.

„Schätze versunkener Schiffe“ aus dem Jahr 1973 war kein Kultfilm, eher eine biedere Mischung aus recht banalem Abenteuer und sowjetischer Propaganda. Der Zeichentrickfilm spielt in einem Pionierlager am Meer; Ferien am Strand zu verbringen, war ein Traum vieler sowjetischer Kinder. Die Kinder tragen rote Halstücher, marschieren artig hinter der steif wirkenden Pionierleiterin her und bringen rostige Metallstücke zu einer Sammelstelle. Das Einsammeln von Altpapier und Altmetall gehörte in den Ferien oder bei den Subbotniks zu den Standardaufgaben für Schüler. (Um die leeren Falschen haben sich andere Kategorien von Werktätigen gekümmert.)

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In diesem Pionierlager mit dem romantischen Namen „Brigantine“ macht auch Mwamba Ferien, ein Junge aus Afrika, der fleißig Russisch lernt. Als Zeichen für den proletarischen Internationalismus sozusagen. Der Plot ist einfach: Nach dem Vortrag eines Wissenschaftlers über das Leben im Meer beschließen drei Kinder – ein Mädchen und zwei Jungs –, ein vom Professor erwähntes versunkenes Schiff zu finden. Irgendwie gelangen sie ins Innere des Forschungs-U-Boots „Neptun“. Das ist noch nicht schlimm. Dass das Mädchen, abgesehen vom roten Halstuch, in die ukrainischen Nationalfarben gelb und blau gekleidet ist, klingt aus heutiger Sicht schon interessanter.

Der echte Hammer kommt erst, als die Kinder das Schiff finden. Nachdem der Rumpf durch einen Roboterarm von Dreck und Rost freigewischt wird, sieht man einen Buchstaben: Z. „Alles klar, ein Zerstörer der Nazis“, identifiziert ein Junge das Schiff mit der Kennzeichnung Z 29. „Woher weißt du das?“, fragt ihn sein Kumpel. „Hab gelesen. Die Nazis haben ihre Zerstörer mit dem Buchstaben Z markiert“. Im Original wird übrigens der Ausdruck „faschistischer Zerstörer“ verwendet: Die deutschen Nationalsozialisten wurden immer als „Faschisten“ bezeichnet, um jegliche Konnotation mit dem „Sozialismus“ zu vermeiden.

Der mutmaßlich von ukrainischen Raketen versenkte Kreuzer „Moskwa“
Der mutmaßlich von ukrainischen Raketen versenkte Kreuzer „Moskwa“
Quelle: picture alliance/dpa/Archiv

Nachdem sich plötzlich ein Torpedo vom Nazi-Schiff löst, gibt es zunächst eine wilde Verfolgungsjagd, die selbstverständlich ein glückliches Ende findet. Das rostige Torpedo landet auf dem Altmetallhaufen. In der Schlussszene tritt Mwamba, vollbeladen mit Geschenken seiner Freunde, auf einem Dampfschiff die Heimreise an.

Ein Neptun. Ein Mädchen in Blau und Gelb. Ein Z zur Bezeichnung eines Nazischiffs. Nach der Versenkung des Kreuzers „Moskwa“ auf einmal zu viele Anspielungen. Sojusmultfilm hat den Film von seinem YouTube-Kanal gelöscht und auf diese Weise seine Loyalität unter Beweis gestellt. Ansonsten ist das Video im Netz frei zugänglich.

Lemberg, den 18. April, mittags

Wie reagiert man, wenn man einen Anruf bekommt und eine Stimme hört, die sagt: „Mein Vater lebt nicht mehr“? Wenn das die Stimme einer jungen Sprachstudentin ist, mit der man zuletzt vor ein paar Tagen online auf Englisch geplaudert hat? Wenn sie damals erzählt hat, sie habe ihrem Papa eine Kapuzenjacke geschenkt? Und nun wiederholt sie mehrmals, sie wisse nicht, wie sie weiter leben soll?

Einer alten Bekannten von mir ist das gerade passiert. Sie hat versucht, die Studentin so lange am Hörer und im Gespräch zu halten (worüber kann man denn in diesem Moment überhaupt sprechen?), bis der Freund der jungen Frau bei ihr eingetroffen war. Danach rief meine Bekannte mich an, total aufgewühlt.

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Manchmal ist es kaum zu glauben, wie eine Stadt mit knapp über 700.000 Einwohnern – Flüchtlinge nicht mitgezählt – funktioniert. Man kann sich fast sicher sein: Auch wenn du nicht selbst betroffen oder nicht Zeuge von einem bestimmten Ereignis gewesen bist, wird es jemanden zumindest in deinem weiteren Bekanntenkreis geben, der ganz nahe dran war. Eigentlich widerspricht es jeder mathematischen Logik. Es ist gegen jede Regel der Wahrscheinlichkeit. Also muss es eine Illusion sein. Ich formuliere es also anders: Es ist erstaunlich, wie eine Illusion funktioniert. Für alles andere gibt es soziale Netzwerke.

Es sind die ersten Toten nach Raketeneinschlägen in Lemberg. Zunächst wurden fünf Opfer gemeldet, später sechs, mittlerweile ist ihre Zahl auf sieben angestiegen. Elf Verletzte, drei davon schwer. Einige Autos komplett ausgebrannt, die anderen von Splittern durchlöchert. Dicker schwarzer Qualm von brennenden Autoreifen. An den anliegenden Gebäuden gibt es keine Fenster und keine Dächer mehr. Das Schild „Reifenservice“ ist gut zu erkennen. Großgeschrieben, mit weißen Buchstaben auf dem roten Hintergrund. Davor ein Löschfahrzeug in Feuerwehrrot. Eine russische Rakete schlug in eine Autowerkstatt am Stadtrand ein. Der Zeitpunkt und das Wetter waren dafür prädestiniert, den größtmöglichen Schaden anzurichten: Viele Menschen wollten an einem sonnigen Frühlingsmorgen vor dem Arbeitsbeginn auf Sommerreifen wechseln.

Ort eines Raketeneinschlags in Lemberg
Ort eines Raketeneinschlags in Lemberg
Quelle: Getty Images

Vier Raketen, eine ausgebrannte Autowerkstatt und einige zerstörte Lagerräume, die schon lange nicht mehr genutzt worden waren. Womöglich galt der Anschlag auf den Reifenservice den Eisenbahngleisen, die dahinter verlaufen. Doch ausgerechnet diese sind intakt geblieben. Nach besonderer Effizienz klingt es nicht. Aber dem russischen Militär geht es ja nicht wirklich um Effizienz. Es geht um Terror.

In Charkiw, wo es ununterbrochen Bomben hagelt, würde niemand in einem seitenlangen Text über eine zerstörte Autowerkstatt philosophieren, es wäre eine Meldung im Telegrammstil gewesen. In der Westukraine kann man sich das noch leisten. Eine Bekannte aus Charkiw hatte lange gebraucht, um ihre alten Eltern zu überzeugen, dass man die Stadt verlassen muss. Am Ende hatte es geklappt. Am Wochenende traf die Familie in Lemberg ein. Kaum vierundzwanzig Stunden später hat es nun auch hier geknallt.

Unweit der zerstörten Autowerkstatt steht ein Hotel. Keine Nobelherberge, versteht sich, wer würde hier schon Viele-Sterne-Luxushäuser bauen. Aber auch nicht die letzte Absteige. Hier haben Flüchtlingsfamilien eine Unterkunft gefunden. Nun hat die Unterkunft durch die Druckwelle keine Fenster mehr. Der Krieg, von dem die Menschen in den Westen des Landes geflüchtet sind, will sie einfach nicht loslassen.

Lemberg, den 15. April, nachmittags

„Welcome to the Machine“, der Song aus dem 1975 veröffentlichten Album „Wish You Were Here“ von Pink Floyd, wird allgemein als Kritik an der Musikindustrie interpretiert. Es ist eine Metapher für das Business, das sich kaum für die Musiker und ihre Kreativität interessiert, sondern nur ans Geld denkt. Ganz am Anfang des Songs, noch bevor die ersten Gitarrenakkorde erklingen, hört man Geräusche, die den Eintritt des Künstlers in die Maschine symbolisieren sollen. So lautet die gängige Interpretation.

Als ich den Song zum ersten Mal in den späten 1970er-Jahren hörte, hatte ich eine andere Assoziation. Der Anfang hörte sich für mich an wie das Geräusch eines Spielautomaten. Das Gerät brummt, ein Torpedo wird abgefeuert, es hinterlässt eine Spur von hellen Laserstrichen. Irgendwo am Horizont fährt ein Schiff. Wenn das Torpedo das Schiff trifft, ertönt ein Geräusch, das eine Explosion nachahmt. Das Schiff verschwindet im Dunst des unscharfen, von einer schmutzigen Kunststoffscheibe abgedeckten Bildschirms.
Der Spielautomat hieß „Seeschlacht“. Es gab zehn Versuche pro Spiel. Hatte man alle zehn Schiffe getroffen, gab es ein paar zusätzliche Schüsse als Bonus.

Alle Kinder mochten die abgedunkelten Hallen, vollgestellt mit klotzigen Schränken, die mit einer primitiven Grafik ausgerüstet waren und beim Spielen merkwürdige Geräusche von sich gaben. Aber die „Seeschlacht“ war besonders beliebt. Vor dem Automaten bildete sich immer eine lange Schlange. Selbst in den Nullerjahren gab es diese Geräte noch. Dann wurde das iPhone erfunden.

Auch mein Sohn hat als Kind noch an so einem Spielautomaten Schiffe versenkt. Auch er hat Pink Floyd gehört. Und unabhängig von mir genau dieselbe Assoziation gehabt. Familientradition.

Wer weiß, vielleicht hören ukrainische Soldaten auch Pink Floyd. Womöglich haben einige auch an den Spielautomaten ihren Spaß gehabt. Und haben sich manchmal sogar einen Bonus erspielt. Im realen Leben hatten sie nicht wirklich viele Versuche. Und trotzdem das größte russische Kriegsschiff im Schwarzen Meer versenkt.

Selten hat ein gesunkenes Schiff für so viel Jubel gesorgt. Aber diesmal war es ein besonderer Fall. Und zwar nicht nur deswegen, weil es ein empfindlicher militärischer Verlust und ein immenser Imageschaden für die russische Marine ist. Es war das Flaggschiff ihrer Schwarzmeerflotte. Selbst für Kinder, die bisher nur den Klassiker „Schiffe versenken“ gespielt haben, muss es klar sein, was für ein wichtiger Treffer es war: nämlich mit drei oder vier Kästchen je nach Version das zweitwichtigste Schiff überhaupt.

Der gesunkene russische Raketenkreuzer „Moskwa“
Der gesunkene russische Raketenkreuzer „Moskwa“
Quelle: Zhang Jiye/XinHua/dpa

Dazu kommt, dass sein Name Symbol war: Moskwa. Aber auch das nicht genug: Es war ausgerechnet die Moskwa, die am ersten Kriegstag die ukrainischen Soldaten auf der winzigen Schlangeninsel zur Aufgabe aufforderte und von ihnen mit einem derben Funkspruch zum Teufel geschickt wurde (okay, dieser russische Fluch ist sowieso nicht wirklich übersetzbar). Die Antwort der Ukrainer ist sofort zu einem Meme geworden.

Als wäre das nicht genug: Die Moskwa wurde von zwei in der Ukraine entwickelten Raketen getroffen. Russland hat zwar eine andere Version präsentiert: Die Munitionsvorräte seien aus unbekannten Gründen ohne fremdes Zutun explodiert. Wahrscheinlich wird Moskau nie offiziell zugeben, dass sein Kreuzer von zwei ukrainischen Marschflugkörpern auf den Meeresgrund geschickt worden ist. Allerdings hat man sich inzwischen daran gewöhnt, dass die russischen Interpretationen fast immer das Gegenteil von dem behaupten, was tatsächlich passiert ist.

Vor wenigen Tagen hat die ukrainische Post eine Sonderbriefmarke herausgegeben. Darauf ist ein ukrainischer Soldat mit einem Gewehr abgebildet, der einem russischen Kriegsschiff den Stinkefinger zeigt. Als man den Wettbewerb für den besten Entwurf ausschrieb, hätte sich niemand vorstellen können, dass zwei Tage nach Erscheinen der Briefmarke die Moskwa untergehen würde.

Heute war der Online-Shop der ukrainischen Post überlastet. Vor dem Gebäude des Hauptpostamtes am Maidan der Unabhängigkeit in Kiew bildete sich eine Riesenschlange. Es wird gemunkelt, dass sie länger war als die vor dem Apple Store in New York nach der Einführung eines neuen iPhone-Modells.

Lemberg, den 14. April, nachmittags

Anfang der 1990er-Jahre konnte man im Buchhandel neue Landkarten der ukrainischen Regionen kaufen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion gab das Verteidigungsministerium in Kiew die in der kommunistischen Zeit als geheim eingestuften, ziemlich detaillierten Militärkarten frei. Einige Ortschaften auf diesen Faltblättern trugen immer noch sowjetische Namen wie Komsomolsk; inzwischen aber hatten die Dörfer und Städtchen ihre alten Bezeichnungen wieder zurückbekommen. Das war zunächst etwas verwirrend, man gewöhnte sich aber schnell daran.

Die anderen Merkmale wie genaue Höhenangaben in den Bergen oder eingezeichnete kleine Bächlein waren viel wichtiger. Mit so einer Superkarte ausgerüstet, packten wir mit unseren französischen Freunden, die zum ersten Mal in der Ukraine waren und sich deshalb über jede Ziege auf der Wiese freuten, einen alten Golf voll und starteten eine Erkundungstour.

Wir wollten eine neue Bergstraße in den Karpaten ausprobieren. Auf unserer neuen Landkarte verlief sie fast parallel zur Hauptstrecke und führte über einen kleinen Pass auf die Südseite eines Bergkamms. Wir wussten, dass die Züge dort durch einen fast zwei Kilometer langen Tunnel fuhren, der noch Ende des 19. Jahrhunderts in der österreichischen Zeit gebaut worden war. Neben der Eisenbahnstrecke war auch eine Autostraße auf der Karte eingezeichnet. Ihre Linien sahen fast genauso dick aus wie die der Hautverkehrsader über die Karpaten. Laut Legende war sie asphaltiert. Also konnte sie nicht viel schlechter sein.

Ukrainische Soldaten vor den Trümmern einer russischen Panzerkolonne
Ukrainische Soldaten vor den Trümmern einer russischen Panzerkolonne
Quelle: dpa

Nach wenigen Kilometern hatte sich der Asphalt verflüchtigt, wir kamen aber zunächst immer noch gut voran. Der Anstieg war ziemlich steil, der Golf erklomm ihn aber recht brav. Bald wurde die Straße deutlich schlechter, mal ragten große Felsblöcke aus dem Boden, mal tat sich ein tiefer Graben auf. Man musste höllisch aufpassen, um mit dem Unterboden nicht aufzusetzen. Irgendwann sahen wir einen alten Mann, der am Straßenrand saß und eine Pfeife rauchte. Wir kamen mit ihm ins Gespräch. Ich muss gestehen, dass die Frage, die wir ihm gestellt haben, nicht besonders klug war. Wir fragten ihn, ob wir da durchkämen. Ja, antwortete der Mann mit einem schelmischen Lächeln, sicher. Mit einem Traktor. Wir plauderten noch ein wenig über das Leben, wendeten und fuhren zurück.

Ein paar Jahre später hat ein Freund von mir die Tour wiederholt. Er wusste nichts von unserem Abenteuer und verließ sich genauso wie wir auf die Karte. Er fuhr im Hochsommer los. Die Straße war in demselben Zustand, er kam aber besser voran. Immerhin war er zusammen mit seinem Freund mit einem alten Lada Niva unterwegs, was ein bisschen nach Geländewagen klang.

Oben auf dem Bergkamm angekommen, versuchten die beiden, den Weg am gegenüberliegenden Berghang ins Dorf zu finden. Es war nicht einfach. Alles war von hohem Gras überwuchert, eine Straße weit und breit nicht zu sehen. Eine Weile fuhren die beiden mit dem Niva hin und her. Allmählich wurde es dunkel, ein Gewitter zog auf. Schließlich fanden sie eine Straße. Sie mussten so schnell wie möglich runter, die Wolken sahen ziemlich bedrohlich aus.

Irgendwann setzte ein Platzregen ein, die Bergstraße verwandelte sich in einen Wildbach, und der Niva blieb in den Fluten stecken. Das Getriebe ging kaputt. Irgendwie retteten sich die beiden zu Fuß und stiegen komplett durchnässt und halb erfroren noch gerade rechtzeitig ins Tal ab, um den letzten Zug nach Hause zu erwischen. Am nächsten Tag haben sie den Niva mit einem Traktor geholt.

Diese Abenteuer kamen mir plötzlich in Erinnerung, als ich neulich eine Geschichte auf Facebook las. Im Osten des Landes wurde eine russische Militärkolonne gesichtet, die sich in Richtung Charkiw bewegte. Niemand konnte verstehen, warum sie auf dieser Landstraße fuhr. Die Einheimischen wussten, dass die Straße nirgendwohin führt und sich einfach in den weiten Feldern verliert. Dann kam jemand auf die Idee, einen Blick auf eine alte Landkarte zu werfen. Es kann sein, dass es eine aus den frühen 1990er-Jahren war, die auf den sowjetischen Militärkarten basierte. Die russische Kolonne orientierte sich offenbar daran. Über das weitere Schicksal der Truppe wurde nicht berichtet.

Hätte ich diese Geschichte gelesen, ohne früher eine eigene Erfahrung mit den Karten gemacht zu haben, hätte ich sie wahrscheinlich nicht geglaubt. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Vielleicht haben die Sowjets absichtlich irgendwelche gar nicht existierenden Straßen auf Militärkarten eingezeichnet. Als eingebaute Fallen für westliche Spione und Saboteure. Fast vierzig Jahre später hat die Falle zugeschnappt. Die Weitsicht sowjetischer Kartografen hat sich gelohnt.

Lemberg, den 13. April, nachmittags

Es fühlt sich seltsam an, wieder in der Philharmonie zu sein. Es ist das erste Konzert mit Publikum seit Kriegsanfang. Ein regulärer Konzertbetrieb ist es immer noch nicht. Man hat die Sitzreihen im Parterre abgebaut, nun stehen sie aufeinandergestapelt und abgedeckt mit einem weißen Tuch hinten am Eingang; die Konturen der einzelnen Sessel kann man darunter noch erkennen. Vor dem Sesselberg und fast bis zur Bühne sind Dutzende von größeren und kleineren Kartons zu sehen. Nur ganz vorne ist freier Platz mit zwei Tischchen für Tontechniker und Videoingenieur. Das Konzert soll im Livestream übertragen werden.

Im Keller eines Wohnhauses in Charkiw suchen diese Menschen Schutz vor Beschuss
Im Keller eines Wohnhauses in Charkiw suchen diese Menschen Schutz vor Beschuss
Quelle: Andrew Marienko/AP/dpa

Auch in der Eingangshalle und in der Garderobe sind überall Kisten. Die Räumlichkeiten der Philharmonie wurden kurzerhand in ein Lager für Hilfsgüter umgewandelt. Nur auf dem Balkon ist alles wie in den alten Zeiten: Plüschige Sessel, leicht knarzender Fußboden. Wenn man hier sitzt, die Augen schließt und der Musik zuhört, kann man sich einbilden, dass es keinen Krieg gäbe.

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Auch die Bühne sieht nicht wie sonst aus. An beiden Seiten stehen Stühle in mehreren Reihen. Sie sind für die Musiker der Philharmonie reserviert, ansonsten sitzen sie hinten im Parkett oder auf dem Balkon. Heute sind aber die Plätze knapp.

Es ist ein Solidaritätskonzert für die Ukraine. Zwei Virtuosen aus Frankreich – ein Cellist und ein Pianist – werden bei einigen Stücken von den ukrainischen Musikerkollegen begleitet. Für sie muss es ebenfalls ein seltsames Gefühl sein, wenn sie im Saal aufgestapelte Kartons statt Menschen sehen. Ich stelle mir vor, dass in diesen Kartons Plüschtiere sitzen und die Musik genießen. Da fühlt man sich besser.

Heutzutage gehört Olivier Messiaen irgendwie fast automatisch zum Programm. Nicht, weil in Lemberg derzeit Vogelrufe in der Musik in Mode sind (der französische Komponist war ein begeisterter Ornithologe). Der Grund dafür ist, dass Messiaen sein „Quartett für das Ende der Zeit“ während des Zweiten Weltkriegs in einem Gefangenenlager komponiert hat. Auch wenn der Titel dieses Musikstücks religiös angehaucht ist und auf der Offenbarung des Johannes basiert, kann man sich heute das Ende der Zeit als das Ende einer zusammengebrochenen Welt sehr gut vorstellen.

Im Krieg gehören die Abende nicht der Musik, sogar im Hinterland nicht. Sie gehören der Leere der Ausgangssperren, die manchmal von den Sirenen der Fliegeralarme durchbrochen wird. Das Konzert findet also am Vormittag statt. Eine Stunde vorher heulen die Sirenen auf. Kurz vor Beginn ist der Alarm vorbei. Noch einmal Glück gehabt.

Einige Theater in Lemberg haben inzwischen ihren Betrieb wiederaufgenommen. Die Oper nicht. Man kann sich kaum vorstellen, wie ein ägyptischer Pharao mit einem besiegten äthiopischen König zusammen in einem Luftschutzkeller sitzt. Und auch sonst würde die gemeinsame Zeit im Bunker die in der Kunst des 19. Jahrhunderts so beliebten diversen Dreiecksbeziehungen auffliegen lassen – lange bevor im Schlussakt ihre Kulmination erreicht worden wäre.

Lemberg, den 12. April, nachmittags

Man habe den Eindruck, als werde um die Stadt irgendwo oben gekämpft, schreibt der ukrainische Autor Serhij Zhadan auf Facebook nach einem erneuten Raketeneinschlag in Charkiw. Dort oben donnere es, da fliege etwas herum, und manchmal falle dieses Etwas auf den Boden herunter. Trotzdem sei es auf den Straßen im Zentrum ziemlich ruhig. Die ersten Kneipen machen auf. Und die ersten Supermärkte, in denen sich niemand wundert, wenn bewaffnete Männer Milch kaufen.

Allerdings kann man das Zentrum nicht mit den östlichen Vororten Charkiws vergleichen. Nach wochenlangen schweren Kämpfen sieht es dort aus, als hätte jemand eine Kulisse für einen besonders brutalen Kriegsfilm aufgebaut. Oder für einen Science-Fiction-Horror über wütende Dinosaurier. Nur ist es diesmal keine Kulisse, sondern die bittere Realität, in der Ukrainer dafür getötet werden, dass sie in Freiheit leben wollten.

Allerdings gibt es auch im Zentrum Charkiws schwere Zerstörungen. Ein vielleicht markantestes Bild zeigt das stark beschädigte Gebäude der Gebietsverwaltung am Freiheitsplatz. Auf den ersten Blick sieht es fast intakt aus. Aber durch die Fensteröffnungen in den oberen Etagen kann man den Himmel sehen. Es fehlt nicht nur das Dach, sondern auch ein halber Seitenflügel, was jedoch bei einer Frontalaufnahme dem Zuschauer verborgen bleibt. Als hätte ein überdimensionaler T-Rex aus einem Horrorfilm ein Stück vom Gebäude weggebissen. Und als hätte ein noch größerer Saurier die vielen kleinen Häuser des alten Charkiw, die zwei Weltkriege überstanden haben, zertrampelt und in einen Haufen Bauschutt verwandelt.

Es fällt immer wieder etwas vom Himmel auf Charkiw. Jeden Tag. Mehrmals. Die Stadt werde terrorisiert, obwohl sie schon längst keine Angst mehr habe, schreibt Serhij Zhadan. Die Hauptsache sei: nicht zu verzweifeln.

Serhijs unermüdlicher Einsatz und unerschütterlicher Optimismus helfen vielen Menschen, ihre Angst zu überwinden und düstere Gedanken wegzujagen. Wenn er dieser Tage abends etwas postet, beendet er seine Texte öfter mit den Worten: Wenn wir morgen aufwachen, werden wir unserem Sieg einen Tag näher sein.

Er hat recht. Wir wissen alle, wofür wir kämpfen.

Lemberg, den 11. April, nachmittags

Im Krieg funktionieren die Verkehrsregeln anders. Dass Militärfahrzeuge und Rettungswagen Priorität haben, ist klar. Das ist ja auch in friedlichen Zeiten so. In den ersten Kriegstagen, als das halbe Land versuchte, von Osten mit dem Auto Richtung Westen zu flüchten, ging es auf den oft schmalen Landstraßen nur noch im Schritttempo voran. Manchmal stundenlang sogar gar nicht. Kolonnen mit Militärgeräten und Rettungsdienste fuhren in die andere Richtung, man musste sie vorbeilassen. Und immer wieder Checkpoints passieren.

Viele Straßen der Gegend um Kiew sind selbst nach dem Abzug der russischen Truppen zu gefährlich oder gar nicht befahrbar. Verbrannte Panzer, zerstörte Brücken, vermintes Gelände. Oft muss man weiträumig umfahren. Google Maps ist längst keine verlässliche Hilfe mehr, der Krieg zeigt der modernen Navigation die Grenzen auf. In den Kampfgebieten vertraut sowieso niemand einem Navi. Die Helfer wissen einfach, welche Straßen man benutzen kann, und selbst da riskieren sie oft ihr Leben, wenn sie beispielsweise Lebensmittel oder Medikamente nach Charkiw bringen.

In Kiew funktionierten eine Zeitlang viele Ampeln nicht. Es gab aber auch kaum Autos auf den Straßen. Und für diejenigen Vehikel, denen man am häufigsten begegnete, galten die Verkehrsregeln sowieso nicht. Ein gepanzerter Mannschaftswagen braucht keine funktionierende Ampel. Er hält bei Rot sowieso nicht an.

Seitdem sich die Lage in Kiew etwas entspannt hat, sind einige Ampeln wieder in Betrieb. Aber die Fußgänger haben es nicht leicht. Es gibt zwar immer noch nicht viele Autos in der Hauptstadt, diejenigen, die dort auf den Straßen herumfahren, halten bei Rot nicht immer an. Oft ist es wie in Kairo: Wer zuerst und am lautesten hupt, fährt als erster über die Kreuzung, wie ein ukrainischer Journalist die Lage beschreibt.

Immer grüne Welle: ukrainische Soldaten an der Ostfront
Immer grüne Welle: ukrainische Soldaten an der Ostfront
Quelle: AFP/FADEL SENNA

Es wird noch eine Weile dauern, bis man sich in Kiew an die normalen Verkehrsregeln wieder erinnert. Und von einem normalen Alltag wird man wohl erst dann reden, wenn die ganze Stadt im Stau steht. Mit dem Unterschied zu der Zeit vor dem Krieg, dass sich die meisten Menschen wohl darüber freuen werden.

Verkehrsunfälle wurden aus Kiew in letzter Zeit keine berichtet. Womöglich deswegen, weil das Verkehrsaufkommen im Moment immer noch minimal ist. Es kann aber auch sein, dass es den hohen Fahrkünsten der Kiewer Autofahrer zu verdanken ist. Als der sowjetische Polizist Ivan Danko, gespielt von Arnold Schwarzenegger, während einer wilden Verfolgungsjagd im US-amerikanischen Actionfilm „Red Heat“ aus dem Jahr 1988 gefragt wird, wo er das Busfahren gelernt hat, antwortet er kurz: in Kiew.

Lemberg, den 9. April, nachmittags

Über die menschlichen Schicksale, die durch den Krieg zerstört werden, schreibt man ständig. Geschichten von Tod und Zerstörung, Leid und Gewalt stehen derzeit jeden Tag in der Zeitung. Bilder darüber sind oft noch erschütternder als das geschriebene Wort. Über die Schicksale von Tieren schreibt man dagegen viel seltener.

Wenn überhaupt, dann eher kurz, nur ein paar Absätze, fast nebenbei erwähnt. Zwei Löwen nach Polen evakuiert. Acht Kängurus aus dem Zoo in Charkiw gerettet. Zwei Orang-Utans und ein Schimpanse nach Mörserbeschuss tot. Mehrere Pferde in Hostomel durch russische Truppen verbrannt. Tiere erzählen ihre Geschichten nicht. Sie erzählen nicht davon, was sie gesehen haben. Sie erzählen nicht, wie ihre Artgenossen durch eine Bombe getötet wurden. Ihr Leid bleibt stumm. Trotzdem ist es nicht weniger ergreifend.

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Immer wieder gibt es Meldungen über gerettete Tiere. Über Haustiere und Wildtiere. Katzen und Hunde. Pferde und Schweine. Strauße und Schildkröten. Hirsche und Kühe. Am Stadtrand von Charkiw wurde ein Zoo zerbombt, einige Tiere sind dabei getötet worden.

Anfang März sind dort beim Füttern zwei Helfer durch Beschuss ums Leben gekommen. Man sah kaum noch eine Möglichkeit, die verbleibenden Tiere zu retten. Die durch ständige Bombardements fast verrückt gewordenen großen Raubkatzen drohten jederzeit auszubrechen. Man wollte sie schon einschläfern. Am Ende war eine Rettungsaktion doch von Erfolg gekrönt. Nun sind fünf Löwen, ein Jaguar und ein Leopard in Sicherheit.

Auch er ist endlich in Sicherheit: ein Hund von Flüchtlingen aus der Ukraine
Auch er ist endlich in Sicherheit: ein Hund von Flüchtlingen aus der Ukraine
Quelle: Carol Guzy/ZUMA Press Wire/dpa/Symbolbild

Eine rote Katze sitzt zwischen den Trümmern auf einer zerbombten Straße in Butscha. Dutzende von Fotografen scharen sich um sie. Im Hintergrund ist ein verbrannter russischer Panzer zu sehen. Nach einer Weile ziehen die Fotografen, Kamerateams und andere Journalisten aus Butscha weiter. Die rote Katze lassen sie zurück. Der neue Medienstar bleibt mit seinem Ruhm allein. Fühlt sich vielleicht etwas verunsichert nach dem ganzen Rummel.

Müsste aber eigentlich zufrieden sein, dass alles vorbei ist. Diese Geschichte hat ein glückliches Ende: Die Katze ist von einem Helfer aufgenommen worden, wie man auf Facebook erfährt. Hoffentlich wird sie nun den gemächlichen Alltag einer Hauskatze genießen können.

Lemberg, den 8. April, abends

Anfang März habe ich auf dem Bahnhofsvorplatz in Lemberg mit Flüchtlingen aus Makariw gesprochen. Die Evakuierungszüge brachten damals viele Menschen aus diesem kleinen Ort in die Westukraine.

Einige waren sichtlich aufgewühlt. Die Frau, die immer wieder sagte, man könne nicht verstehen, was dort passiert sei, wenn man es nicht selber erlebt habe. Ihr Sohn, der meinte, es gebe kein Makariw mehr. Die beiden haben ein Gespräch förmlich gesucht. Sie wollten unbedingt ihre Geschichten loswerden, ihr Leid von der Seele reden.

Andere saßen still und waren alleine mit ihrem Schmerz. Wie die junge Mutter neben dem großen hellgrauen Zelt des Katastrophenschutzes. Es schien, als blicke sie ins Leere, ihre Taschen und Pakete froren auf den kalten Fliesen des frisch renovierten Platzes. Ihr kleiner Sohn, etwa vier oder fünf Jahre alt, rannte hin und her und hatte offenbar Spaß daran. Wie es weitergehen sollte, wusste die Mutter nicht. Der Sohn machte sich keine Gedanken darüber.

Makariw ist ein kleiner Ort westlich von Kiew, etwa 60 km von der Hauptstadt entfernt. Kaum mehr als 10.000 Einwohner. Ein Fluss, ein Busbahnhof, keine Eisenbahn, ein paar Kirchen, zwei Schulen, eine große Bäckerei. Die Einwohner haben dort hauptsächlich von der Landwirtschaft gelebt. Friedlicher geht es kaum.

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Ende Februar sind russische Truppen in den Ort eingezogen, es gab dort schwere Kämpfe, erst Ende März konnte die ukrainische Armee die Kontrolle übernehmen. Heute kam die Meldung, dass in Makariw bis jetzt 132 erschossene Zivilisten in Massengräbern gefunden wurden.

Ich weiß nicht, ob Fotografen und Journalisten in Scharen nach Makariw strömen werden. Ob sie auch dort unzählige Fotos machen und über die Schicksale der Menschen Geschichten schreiben werden. Und was ist mit vielen anderen kleineren und größeren Orten westlich und nördlich von Kiew? Dort hat die russische Armee genauso gewütet – besonders nach dem gescheiterten Versuch, die ukrainische Hauptstadt einzunehmen.

Eine Frau bei ihrem zerstörten Haus in Andriivka in der Umgebung von Kiew
Eine Frau bei ihrem zerstörten Haus in Andriivka in der Umgebung von Kiew
Quelle: REUTERS/MARKO DJURICA

Überall haben sich ähnliche Massaker wie in Butscha abgespielt, das jetzt in der ganzen Welt als Symbol für die Gräueltaten des russischen Militärs bekannt ist. Ein kurzer, leicht auszusprechender Name. Grausame Bilder, die keinen Menschen kaltlassen. Mehr braucht man nicht. Der Schock soll nicht unendlich dauern.

Lemberg, den 7. April, nachmittags

Wenn es in den Nachrichten heißt, die Nacht sei in einer Region ruhig gewesen, dann bedeutet es meistens: kein Beschuss, keine Raketeneinschläge, hin und wieder ein Fliegeralarm. Maximal zwei. Aber nicht drei. Denn wenn es drei sind, dann knallt es in der Regel irgendwo doch. Man hat gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen.

Anscheinend gibt es einen weiteren kausalen Zusammenhang: Wenn es knallt, dann spätestens ein paar Minuten nach dem Beginn des Fliegeralarms, nicht nach einer halben Stunde. Die meisten Menschen in Lemberg reagieren kaum noch auf die Fliegeralarme. So sieht das Leben im Hinterland aus. Da wird man schnell zum Klugscheißer. So etwas würde wohl jemand in Charkiw zu dieser Geschichte sagen.

Letzte Nacht in Lemberg war ruhig. Das heißt, die Sirenen heulten nur einmal. Die vorletzte Nacht dagegen nicht ganz. Nein, es gab keine Raketen. Zumindest in Lemberg nicht, aber doch in der etwa 70 km nordöstlich liegenden Kleinstadt Radechiw. Derzeit können siebzig Kilometer verschiedene Welten voneinander trennen. Eine Welt, wo man noch in relativer Ruhe schlafen kann von jener, in der es jede Nacht Bomben hagelt.

Diesmal sind die Raketen in Radechiw jedoch nicht eingeschlagen, sie wurden offenbar abgefangen. Wie viele es waren, weiß man nicht genau, auf jeden Fall drei oder vier. Welches Ziel diese russischen „Wunderwaffen“ angesteuert haben, ist auch nicht ganz klar. Möglicherweise Lemberg, sicher ist es aber nicht. Kein Grund zur Panik. Man konnte sowieso nichts hören. Mittlerweile geht man mit den Informationen eher spärlich um.

Lemberg nach den Luftangriffen am 26. März
Lemberg nach den Luftangriffen am 26. März
Quelle: AP

In Radechiw gab es immerhin einen ziemlich lauten Knall. Mehrmals. Besonders der letzte hat vielen Menschen Angst eingejagt. Explosionen am Boden wurden aber keine gesichtet. Nur ein ziemlich großes Stück Metall soll vom Himmel gefallen sein. Ein paar Fensterscheiben sind durch die Druckwelle kaputtgegangen. Bei unseren Bekannten, die nicht mal einen Kilometer von dieser Sternschnuppe entfernt wohnen, haben die Scheiben allerdings gehalten. Am nächsten Morgen radelten sie neugierig zu ihrem Schrebergarten, nur um festzustellen, dass man schon mit der Aussaat beginnen kann.

Vor knapp zwei Wochen, als die Raketen in Lemberg eingeschlagen sind und ein paar Öltanks in Brand gesetzt haben, muss der Knall viel lauter gewesen sein. Ein Freund von mir, der in der Nähe wohnt, hat erzählt, dass bei seinem Nachbarn die Fenster rausgeflogen seien. Bei ihm nicht. Der Rahmen machte den Unterschied. Die Thermofenster des armen Nachbarn waren in einem Holzrahmen, unser Freund hat sich vor paar Jahren für einen preiswerteren Kunststoffrahmen entschieden. In der Zukunft könnte der Hersteller damit sogar werben: „Unsere Fenster halten einen Raketeneinschlag in einer Entfernung von 750 Meter aus.“ Es könnte beim Kauf noch jahrelang ein ausschlaggebender Punkt sein.

Lemberg, den 6. April, nachmittags

1933, auf dem ersten Höhepunkt des Stalinschen Terrors gegen die Ukrainer, wurde eine neue ukrainische Rechtschreibung eingeführt. Die kurze Periode des von Moskau tolerierten Nationalkommunismus und sogar einer gewissen Förderung der ukrainischen Kultur in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre hatte bereits ein Jahr zuvor ein abruptes Ende genommen. Das Zentralkomitee der Bolschewiken in Moskau verordnete in einem Dekret vom April 1932 eine „Niederschlagung des Nationalismus“ in der Unionsrepublik. Die Folge war eine Säuberung in den Reihen der ukrainischen Nationalkommunisten und eine Hexenjagd auf die „ukrainischen bourgeoisen Nationalisten“.

Die ukrainische Sprachwissenschaft war laut einem im typischen Stil der sowjetischen Propaganda formulierten Vorwurf von einer „bourgeois-schädlichen Methode“ befallen; es galt ab sofort, „die Wurzeln des ukrainischen Nationalismus an der Sprachfront auszurotten“. In den 1920er-Jahren habe man Ukrainisch in der Sowjetrepublik auf die „polnische und tschechische bourgeoise Kultur“ ausgerichtet, wodurch eine „künstliche Barriere zwischen der ukrainischen und russischen Sprache“ entstanden sei.

Eines der Ergebnisse der Rechtschreibreform war das Verschwinden eines ureigenen Buchstabens aus dem ukrainischen Alphabet: Ґ. Vorher gab es in der ukrainischen Schriftsprache – anders als im Russischen – zwei Zeichen: eins für die Bezeichnung eines h-Lauts und eins für den g-Laut. Nach der aufgezwungenen Reform entsprach einem russischen Buchstaben nun ein ukrainischer. Er wurde zwar anders als im Russischen als h ausgesprochen, was aber offenbar nicht als ein Problem angesehen wurde, weil dies auch in den südrussischen Dialekten der Fall war.

Tatsächlich markierten die Jahre 1932/33 einen brutalen Angriff des Stalinismus gegen die ukrainischen Bauern, Intellektuellen, Kulturschaffenden und kommunistischen Parteikader. Es war die erste große Russifizierungswelle in der Sowjetzeit. Verglichen mit der schrecklichen, von der sowjetischen Führung böswillig herbeigeführten Hungersnot von 1932-33, dem Holodomor, der in der Ukraine und anderthalb Dutzend Ländern der Welt als Völkermord eingestuft wird und dem mindestens dreieinhalb Millionen Menschen zu Opfer gefallen sind, erscheint die Rechtschreibreform wie ein winziger Stich. Allerdings war es der Anfang einer manchmal latenten und bisweilen einer recht offensiven Russifizierungspolitik, die auf eine immer stärkere Assimilierung der ukrainischen Sprache ans Russische zielte, zur allmählichen Verdrängung des Ukrainischen im öffentlichen Bereich führte und vor allem in der Ost- und in der Zentralukraine eine massive Schließung ukrainischer Schulen zur Folge hatte.

Hätte Stalin länger gelebt, hätte man womöglich auch andere Buchstaben aus dem ukrainischen Alphabet verbannt, die anders aussahen als die russischen. So blieb es aber nur bei diesem einen Schriftzeichen. Wieder eingeführt wurde es erst 1990, in der späten Perestroika-Zeit, als die Sowjetunion und ihre Armee nicht mehr gegen einzelne Buchstaben kämpften, sondern sich mit viel größeren Problemen beschäftigten und mit brutaler Gewalt Proteste in den sowjetischen Republiken unterdrückten.

Ermittler stehen vor einer Wand in Tschechien, auf die der Großbuchstabe Z gemalt wurde
Ermittler stehen vor einer Wand in Tschechien, auf die der Großbuchstabe Z gemalt wurde
Quelle: Hájek Ondøej/CTK/dpa/Symbolbild

Neunzig Jahre nach dem Kampf gegen ein unschuldiges Schriftzeichen hat die russische Armee in ihrem Kreuzzug gegen die Ukraine wieder einen Buchstaben auf ihre Fahnen, pardon: ihre Militärfahrzeuge geschrieben. Diesmal ist es ein Zeichen aus dem lateinischen Alphabet, das zum Symbol des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine geworden ist. In Russland wird der Buchstabe auf Wohnungs- und Autofenster geklebt. Wir wissen nicht, warum die russische Militärführung beschlossen hat, bei dem Überfall den letzten Buchstaben des lateinischen Alphabets zu verwenden. Man kann darüber nur spekulieren. Ein möglicher Grund dafür wäre zum Beispiel, dass damit das Wort Zombie anfängt. Eine andere Erklärung wäre, dass jemand im russischen Generalstab den Buchstaben aus persönlichen Gründen hasst, weil er ihn im Englisch- oder im Deutschunterricht nicht richtig schreiben konnte.

Vielleicht will man damit aber auch erreichen, dass der Westen so eine natürliche Abscheu gegen diesen Buchstaben entwickelt und ihn aus dem lateinischen Alphabet selbst entfernt. Die ersten „Erfolge“ kann Russland bereits verbuchen: Das Verwenden des Zeichens zur Unterstützung des russischen Angriffskriegs ist in vielen Ländern inzwischen verboten und wird strafrechtlich verfolgt. Und die Zurich Insurance Group hat ihr Logo – ein weißes Z auf blauem Grund – in den sozialen Netzwerken entfernt.

Lemberg, den 5. April, nachmittags

450 kg nach Rubzowsk. 140 kg nach Ussurijsk. 90 kg nach Uljanowsk … Südliches Sibirien. Ferner Osten. Wolga. Die gesamte russische Geographie. Bilder der Überwachungskameras in einer Postfiliale im belarussischen Masyr zeigen Soldaten, wie sie diverse Gegenstände nach Hause verschicken. Darunter Fernseher, Klimaanlagen, einen E-Scooter, Möbel, Kleidung. Selbst eine Kofferraumklappe ist dabei. Als wären die Männer auf einer großen Einkaufstour unterwegs. In Masyr weiß man aber nichts davon. Dort weiß man nur, dass es jetzt in der nur etwas mehr als 100 km von der ukrainischen Grenze entfernten Stadt einen improvisierten Markt gibt, wo russische Soldaten Schmuck, Kleidung, Alkohol oder Haushaltsgeräte feilbieten.

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Ebenso ist es unwahrscheinlich, dass ein Soldat aus Sibirien mit seinem eigenen E-Scooter in die Ukraine gekommen ist, um ihn auf den dortigen Straßen auszuprobieren. Auch wenn die russische Propaganda es zweifellos behaupten könnte. In der zivilisierten Welt gibt es allerdings eine klare Definition für diese Art von Tourismus: Plünderei. Und Soldaten, die sie betreiben, heißen Plünderer und sind somit Kriegsverbrecher.

Der Naturgeist Hajun aus den belarussischen Volksmythen lebt im Wald und beschützt Bäume, Tiere und Vögel. Heute warnt er auch Ukrainer vor Gefahren und berichtet deswegen über Truppenbewegungen in Belarus. Von Raketen, die vom belarussischen Gebiet abgefeuert werden. Und vom sonstigen Treiben des russischen Militärs. Anton Matolka, Fotograf, Blogger und Begründer des Telegram-Kanals „Belaruski Hajun“, gilt im Lukaschenko-Land schon längst als Extremist und lebt seit 2020 in Polen.

Gestern hat „Belaruski Hajun“ eine lange Liste von Namen und Telefonnummern der Absender veröffentlicht. Am vergangenen Samstag haben russische Soldaten mehr als zwei Tonnen Pakete aus Masyr nach Hause geschickt. Das Meiste ging nach Rubzowsk, eine Stadt in der Region Altai im südlichen Sibirien an der Grenze zu Kasachstan. Dort sind einige Verbände der russischen Streitkräfte und der dem Innenministerium unterstellten Nationalgarde „Rosgwardija“ stationiert.

Eine Frau in Butscha begrüßt einen ukrainischen Soldaten nach der Befreiung
Eine Frau in Butscha begrüßt einen ukrainischen Soldaten nach der Befreiung
Quelle: dpa

Mutmaßlich enthielten die Postsendungen Sachen, die die Soldaten aus der Ukraine „mitgebracht“ haben. Nun werden sie als „Geschenke“ in den Haushalten ihrer Familien landen. Eine südsibirische Eigentümlichkeit? Ein seltsamer regionaler Brauch? Wohl kaum. Auch dies gehört in der russischen Armee zum System. In der Armee der Mörder, Vergewaltiger und Plünderer.

Lemberg, den 4. April, morgens

Seit gestern schreibt die ganze Welt über Butscha. Ich habe es auch versucht. Mehrmals sogar. Angefangen. Gelöscht. Wieder angefangen. Und wieder gelöscht. Ich weiß nicht, was man schreiben soll. Wie man schreiben kann. Die veröffentlichten Bilder machen sprachlos. Sie sind aber nur eine Momentaufnahme des Horrors, in dem die Einwohner dieser Kleinstadt mehr als einen Monat lang gelebt haben und gestorben sind. Selbst diejenigen, die jetzt vor Ort sind, um die russischen Verbrechen zu dokumentieren und auf die sadistische Weise umgebrachte Zivilisten zu begraben, können nur einen Ausschnitt der Gräueltaten sehen.

Werden die Frauen und Freundinnen der russischen Sadisten, die in Butscha gewütet haben, unbekümmert Ohrringe tragen, die aus den Ohren der Opfer ausgerissen worden sind? Oder werden sie vorher fragen, ob dies geschehen ist, als die ukrainischen Frauen und Mädchen bereits tot oder noch am Leben waren? Wird es für sie einen Unterschied machen? Oder ob sie vorher vergewaltigt worden sind? Wird sich eine Tochter über ein Mitbringsel seines Papas aus Butscha freuen, seien es Schuhe, die einem getöteten Kind ausgezogen wurden, oder ein Plüschbär, von dem man die Blutspuren in einer chemischen Reinigung entfernt hat?

Irgendwo in der russischen Provinz wird man einem Kind bestimmt nicht sagen, dass sein Vater ein brutaler Frauen- und Kindermörder ist. Es wird aufwachsen und fest daran glauben, sein Papa sei ein Held, der tapfer gegen die „Faschisten“ gekämpft habe. Vielleicht wird man diesen „Helden“ später sogar in die Schule als Kriegsveteranen einladen, damit er über seine „Heldentaten“ berichtet. Die „richtige“ Version wird man schon konstruieren.

Bilder des Horrors: Blick durch eine zerschossene Windschutzscheibe in Butscha
Bilder des Horrors: Blick durch eine zerschossene Windschutzscheibe in Butscha
Quelle: dpa

Nach den Gräueltaten von Butscha sehen selbst die deutschen Politiker ein, dass Russland sich durch seine Kriegsverbrechen endgültig aus dem Kreis der zivilisierten Länder verabschiedet hat. Zu spät. Es hört sich so an, als wäre Russland nach dem Überfall auf die Ukraine, nach dem Raketenbeschuss von Charkiw, nach dem Massaker an der Zivilbevölkerung von Mariupol immer noch ein zivilisiertes Land gewesen. Doch das war spätestens seit dem Tschetschenien-Krieg schon nicht mehr der Fall. Es folgten die Invasion in Georgien, die Annexion der Krim, der Krieg im Donbass … Nur sollte man bitte nicht sagen, dass man es nicht gewusst hätte. Man hat bloß die ganze Zeit weggeschaut, weil man wegschauen wollte. Weil es bequem war.

Und nun Butscha. Ein Schock. Und eine Folge des jahrzehntelangen Wegschauens. Diese Gräueltaten waren möglich, weil die früheren russischen Verbrechen unbestraft geblieben sind.

Es ist bekannt, welche Einheit in Butscha stationiert war. Es ist bekannt, wer dort die russischen Truppen kommandiert hat. Es ist bekannt, welche Generäle jeden Tag verbrecherische Befehle erteilen. Es ist bekannt, wer den Überfall auf die Ukraine geplant, vorbereitet und befohlen hat. Es ist bekannt, welche Propagandisten seit Jahrzehnten tagtäglich ihre hasserfüllten Lügen verbreiten. Und nun? Weiß der Westen immer noch nicht, was tun? Will man weitere Massaker abwarten?

Vielleicht werden schon bald viele europäische Politiker nach Kiew pilgern. Dabei werden sie auch Butscha besuchen und an einem kleinen Denkmal für Opfer des russischen Massakers, das dort bald bestimmt geben wird, Blumen niederlegen. Der Ort ist ja nur knapp 30 Kilometer von Kiew entfernt. Ein Katzensprung. Vorher werden sie aber endlos über Sanktionen diskutieren. Und immer wieder begründen, warum es nicht möglich ist, den Import vom russischen Erdöl und Erdgas zu stoppen.

Lemberg, den 2. April, nachmittags

Ich war ein einziges Mal in Tschernobyl. Es muss im Herbst 2007 gewesen sein, mehr als einundzwanzig Jahre nach dem Reaktorunglück. Bei einer internationalen Konferenz in Kiew stand auch ein Kurztrip zu dem im Jahr 2000 stillgelegten Kernkraftwerk auf dem Programm. Seit einiger Zeit gab es zumindest für Journalisten und organisierte Gruppen eine Art Tourismus in das Sperrgebiet. Die Strahlung sei deutlich zurückgegangen, ein kurzer Aufenthalt unbedenklich, hieß es in den offiziellen Vorschriften. Ganz sicher waren wir dennoch nicht. Aber die Neugier war stärker als die Angst. Die Teilnahme am Ausflug war freiwillig, ich kann mich allerdings nicht erinnern, dass jemand abgesagt hätte.

Wir stiegen in einen uralten Ikarus-Bus ein, der wie ein Denkmal für den ungarischen Sozialismus aussah, und fuhren Richtung Norden los. Nach etwa 80 Kilometern stiegen am Checkpoint vor dem Sperrgebiet zwei Beamte mit einem Geigerzähler zu. Wir fuhren weiter. Bald fing das Gerät zu rattern an. Manchmal etwas stärker, in der Regel jedoch ziemlich schwach.

Etwa hundert alte Menschen lebten mittlerweile im Sperrgebiet, sie waren auf eigenes Risiko in ihre Hütten zurückgekehrt. Die Ingenieure, die die stillgelegte Anlage überwachten, arbeiteten schichtweise. Unsere Begleiter erklärten uns, dass die Strahlung sich nicht gleichmäßig über das gesamte Gebiet verteilte. Selbst etwas näher zum havarierten Kraftwerk gab es einige ziemlich saubere Flecken.

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Der Platz vor dem Kraftwerk war keiner davon: Der alte Sarkophag war nicht mehr ganz dicht. Die neue Schutzhülle über dem explodierten Reaktorblock gab es damals noch nicht, sie wurde erst 2019 fertiggestellt. Nach fünf Minuten fuhren wir weiter. In der Geisterstadt Prypjat, nur wenige Kilometer vom Kraftwerk entfernt, wuchsen Bäume durch Fensterhöhlen. Eine Strophe aus der sowjetischen Hymne war an der Seitenmauer eines Hochhauses immer noch gut lesbar. Einige Buchstaben verblassten ein wenig, ansonsten führte die Partei Lenins die dortigen Geister immer noch zum Triumph des Kommunismus.

Auf dem Rückweg wurden wir auf Reststrahlung in einem Scanner untersucht, die Reifen des Busses wurden gewaschen. Es sei alles in Ordnung, hieß es. Im Hotel stand ich lange unter der Dusche.

Die Schutzhülle über dem alten zerstörten Teil des Kernkraftwerks Tschernobyl
Die Schutzhülle über dem alten zerstörten Teil des Kernkraftwerks Tschernobyl
Quelle: pa/dpa/ukrin/-

Unsere Begleiter erzählten uns damals, dass ein Gebiet besonders gefährlich geblieben war: der sogenannte „Rote Wald“. Dort hatten sich die abgestorbenen Kiefern unter Einfluss extrem hoher Strahlung braunrot verfärbt. Später wurde der Wald mit Bulldozern gerodet und „begraben“. Der Boden ist bis heute stark kontaminiert geblieben.

Genau dieses Gebiet durchpflügten russische Panzer und Mannschaftswagen einige Tage nach dem Überfall auf die Ukraine. Sie wirbelten Unmengen vom radioaktiven Staub auf. Die Soldaten trugen keinerlei Schutz. Später hoben sie dort Schützengräben aus. Sie hielten das Kernkraftwerk mehr als einen Monat lang besetzt.

Das Resultat ließ nicht besonders lange auf sich warten. Nachdem sich die ersten Symptome der Strahlungskrankheit gezeigt hatten, verließen die russischen Truppen panikartig das Gebiet und das Kernkraftwerk. Zuvor musste das Personal ein von den ukrainischen Behörden inzwischen veröffentlichtes Übergabeprotokoll unterzeichnen.

Darin heißt es, dass die Einheiten der russischen Nationalgarde „Rosgwardija“ die Anlage beschützt hätten und dass es von Mitarbeitern des Kraftwerks keine Beschwerden gäbe. Mitgenommenes Inventar wie Kaffeemaschinen, Teekessel oder Besteck aus der Betriebskantine wurde offenbar nicht als reklamationswürdig eingestuft.

Ukrainische Medien berichten, dass inzwischen etwa hundert Soldaten in einem spezialisierten Krankenhaus in der belarussischen Stadt Homel behandelt werden. Der russische Militärmedizinische Dienst soll bereits den ersten Todesfall eingeräumt haben.

Lemberg, den 1. April, nachmittags

Wir sitzen in einem Café in der Innenstadt und trinken Kaffee. Einen doppelten Espresso, einen Cappuccino. Es ist vorbei mit dem schönen Frühlingswetter, nun ist das Wetter kalt und regnerisch geworden. Drinnen ist es dagegen warm und gemütlich. Altes Mobiliar, etwas k.-u.-k. Nostalgie. Eine recht typische Lemberger Kneipe. Hier spielt man gerne mit dem Mythos.

Es ist das erste Mal seit Kriegsanfang, dass ich in einem Café herumsitze und es nicht wirklich eilig habe. Vorher war es immer nur ein Stück Pizza im Vorbeilaufen. Und es ist die erste Carmen, mit der ich Kaffee trinke. Und auch die erste Amneris, die Rivalin von Aida in Verdis Oper.

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Wir kennen uns schon lange. Ein paar Mal war ich in ihren Aufführungen und Konzerten. Vor acht Jahren habe ich bereits über Marfa Schumkowa, die Mezzosopranistin an der Lemberger Oper, geschrieben. Es war 2014, kurz nach dem Euromaidan in Kiew. Diese Zeit war für sie die erste schwierige Phase. Ihre Freunde und Bekannten in Russland wollten plötzlich nichts mehr von ihr wissen. Sie wurde beschimpft und angepöbelt. Selbst mit ihrer Mutter hat sie zwei Monate lang nicht gesprochen. Der Grund: Marfa hatte versucht zu erklären, dass die Proteste im Winter von 2013/2014 kein „vom Westen bezahlter faschistischer Umsturz“ in Kiew waren. Alles vergeblich. Sie ist plötzlich zu einer „Verräterin“ geworden. Die aggressive Putinsche Propaganda hatte bereits die Mehrheit russischer Menschen in hasserfüllte Zombies verwandelt.

Marfa Schumkowa ist russische Staatsbürgerin. Geboren und aufgewachsen in Jekaterinburg, wo ihre Eltern bis heute leben, hat sie ihr Studium am Moskauer Konservatorium absolviert. Dort lernte sie einen Pianisten aus Lemberg kennen. Nach dem Studium zog das Paar in die Heimatstadt des Ehemannes um. Die Familie und der Freundeskreis waren russischsprachig. Die Stadt gefiel Marfa sofort. Bald bekam sie das Engagement an der Oper. Der Himmel über Lemberg schien wolkenlos zu sein.

Nach einiger Zeit trennte sich das Paar. Der Mann ging nach Moskau zurück. Marfa blieb in Lemberg. Inzwischen sprach sie perfekt Ukrainisch mit einem leichten Lemberger Akzent. Den Maidan erlebte sie bei den Proben zu ihrer neuen Rolle als Amneris, Tochter des Pharaos in Giuseppe Verdis Oper „Aida“.

Zu Friedenszeiten: abends in der Altstadt von Lemberg
Zu Friedenszeiten: abends in der Altstadt von Lemberg
Quelle: picture alliance / pressefoto_korb/ Micha Korb

Damals schrieb Marfa von normalen Menschen, die gegen ein korruptes Regime protestierten. Von menschlicher Würde und vom Wunsch, in Freiheit zu leben. „Wenn du mir nicht glaubst, schau dir ‚Doschd‘ an“, sagte sie ihrem Vater. Bei diesem unabhängigen TV-Sender, der Anfang März 2022 nach dem russischen Überfall auf die Ukraine von den Moskauer Behörden gesperrt wurde, konnte man sich über die Ereignisse ziemlich objektiv informieren. Der Vater wollte es nicht.

Später hat sie verstanden, warum. Ihr Vater hatte Angst, die Wahrheit zu erfahren. Ein Syndrom, psychologisch begründet: Wenn man die Wahrheit erfährt, bricht eine Welt zusammen. Eine Welt, an die man geglaubt, die aber nie existiert hat. Also klammert man sich immer fester an das von der Propaganda erfundene Weltbild mit seinen Märchen von überall lauernden Feinden und Verschwörungen. Ein tödliches Gift, das jede Diktatur ihren Bürgern in immer größeren Dosen verabreicht.

Heute ist alles noch viel schlimmer geworden. Auch das Internet wird immer stärker zensiert. „Ich kann trotzdem nicht verstehen, warum meine Verwandten und Freunde, die mich gut kennen, mir kein Wort glauben. Das ganze Land lebt wie unter einer luftdichten Decke. In dieser Parallelwelt führt Russland keinen Krieg und verübt keine Verbrechen“. Jedes Argument prallt wie an einer Mauer ab.

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Immerhin laufen nicht alle wie Zombies umher. „Einige schreiben mir, dass sie sich dafür schämen, was Russland gemacht hat, und sprechen von einer kollektiven Verantwortung“. Viele sind es allerdings nicht.

Inzwischen hat Marfa die Kommunikation mit ihren Verwandten und vielen anderen Bekannten auf ein Minimum reduziert. Es sei alles in Ordnung bei ihr, sie sei gesund. Punkt. Am Ende fügt sie nur ein paar harte Fakten im Telegrammstil hinzu, selbst wenn viele ihrer Freunde in Lemberg meinen, sie sollte es lassen: Die Entbindungsstation in Mariupol zerbombt. Häuser in Charkiw von russischen Raketen zerstört. Halb Tschernihiw in Ruinen. Nicht um ihre Gesprächspartner in Russland zu überzeugen. Sondern damit diese später nicht sagen können, sie hätten von nichts gewusst.

Lemberg, den 31. März, abends

Seit gestern fühlt es sich wie ein Dammbruch. Zumindest ein winziger. Immer wieder Geschichten ukrainischer Frauen. Die eine Geschichte schlimmer als die andere. Das Schicksal einer Frau, deren Mann erschossen und sie selbst – Pistole am Kopf – vergewaltigt wurde, während ihr vierjähriger Sohn im Keller weinte. Die britische „The Times“ hat die Geschichte bereits vor zwei Tagen veröffentlicht. Eine Frau in Irpin weint vor der Kamera im „heute journal“ des ZDF. Eine Frau in Mariupol überlebt die Vergewaltigung nicht, ihr Kind bleibt am Leben. Drei Soldaten einer russischen Panzertruppe, die über ein Mädchen herfallen. Es sind keine zufälligen Gräueltaten. Es ist ein System.

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Herausforderung für den Westen

Dagegen erscheinen die Marodeure fast wie jämmerliche, kleine Diebe. Ein abgefangenes Telefonat zeigt aber auch hier die Abgründe der menschlichen Seele. Ein russischer Soldat, vielleicht sogar ein Offizier, berichtet ungeniert im Gespräch mit seiner Frau, wie er und seine Kameraden sich in einem verlassenen Haus schamlos bedienen. „Ich habe ein bisschen Kosmetik mitgenommen. Allerdings waren nur Probedöschen da … Dann Damensportschuhe, ein Paar NB, alles Markenartikel, weißt du … Größe 38.“

Alle Jungs würden sich die Tragetaschen vollstopfen, kein Problem. T-Shirts, Trikots, Vitamine. Eine sportliche Familie. Ein Haus mit Sauna. Die Soldaten würden sich schon seit zwei Tagen dort entspannen. Nur das Notebook will der Mann nicht mitgehen lassen, die Sache sei ihm doch zu heikel, man könne damit auffliegen. Das ruft bei seiner Frau nur Bedauern hervor, schließlich hätte ihre kleine Tochter, die bald zur Schule geht, doch einen Computer gebraucht. Ansonsten darf ihr Mann alles nehmen: je mehr, desto besser. Sie würde sich über einen „Gruß“ aus der Ukraine freuen. Und T-Shirts brauche man sowieso immer.

Die Trümmer der Regionalverwaltung von Mykolajiw
Die Trümmer der Regionalverwaltung von Mykolajiw
Quelle: AFP

Die „Befreiung auf Russisch“ setzt sich fort. „Befreiung“ vom Eigentum. „Befreiung“ von jeglicher Würde. „Befreiung“ vom Leben. Eine andere Bedeutung des Wortes kennt man in Russland offenbar nicht mehr. Sie ist aus dem Wortschatz spurlos verschwunden.

„Schau doch mal, wie sie gelebt haben, ja? … Dafür kämpfen sie doch“. Die Frau des russischen Soldaten hat nichts kapiert. Sie war einfach nicht imstande zu verstehen, dass wir für die Freiheit kämpfen. Dieser Begriff ist in ihrem Heimatland längst zu einem Fremdwort geworden. Zu finden nur noch in einem Fremdwörterbuch.

Lemberg, den 30. März, nachmittags

Kriegsgeschichten handeln nicht nur von Bomben und Raketen. Nicht nur von gefallenen Soldaten und getöteten Zivilisten. Nicht nur von zerstörten Städten und Millionen von Flüchtlingen. Es sind nicht nur Durchhalteparolen und tägliche Berichte über die Lage an der Front und zerstörtes Militärgerät.

Solche Geschichten sind überall präsent, man kann jeden Tag Bilder davon sehen. Im Fernsehen und in den Magazinen. Ein Loch mitten im Gebäude der Regionalverwaltung in Mykolajiw. Ratlose Menschen am Hauptbahnhof in Lemberg. Traumatisierte Kinder in den Schutzkellern von Charkiw. Ein krebskrankes Mädchen auf dem Krankenbett, völlig entkräftet nach zwanzig Stunden im überfüllten Evakuierungszug. Eine Kolonne verbrannter russischer Panzer. Das alles hat man unzählige Male in den bisherigen fünf Wochen des russischen Angriffskriegs gesehen.

Eine Frau vor dem zerstörten Gebäude der Regionalverwaltung in Mykolajiw
Eine Frau vor dem zerstörten Gebäude der Regionalverwaltung in Mykolajiw
Quelle: REUTERS

Doch Kriegsgeschichten sind auch Geschichten von Vergewaltigungen und marodierenden Soldaten in einem fremden Land. Davon gibt es keine Bilder. Sie erzählt man nicht als Aufmacher in den Zeitungen mit allen sadistischen Details. Sie lassen sich nicht immer überprüfen. Nicht sofort, nur selten in der Zukunft. Man will nicht darüber reden. Und trotzdem gibt es sie in jedem Krieg.

Im Facebook findet man nicht nur Slapstick, sondern auch Horror. Ein kurzer Post, nicht mal einen ganzen Smartphone-Bildschirm füllend. Dann weiß man plötzlich, dass man über nichts Anderes schreiben kann.

Es gibt schwere Kämpfe in der Region Tschernihiw im ukrainischen Nordosten. Das an Russland grenzende Teilgebiet wurde von den russischen Truppen bereits wenige Stunden nach der Invasion besetzt. Vor zwei Tagen wurden in ein Krankenhaus auf dem von der Ukraine kontrollierten Gebiet verwundete Soldaten eingeliefert. Und Menschen, die in russischer Gefangenschaft waren. Darunter acht junge Frauen, Teenager. Alle mit schweren Verletzungen am Unterleib. Mit starken inneren Blutungen. Ein Mädchen wird es wahrscheinlich nicht überleben. Für alle hat der Horror mehrere Tage gedauert.

Gepostet wurde das von der Nichte der Ärztin in der Aufnahmestation. Fast im Telegrammstil. Anders als die Hasstiraden der russischen Trolle. Nur am Ende ein dringlicher Appell an jede, die diese Bestien sieht. Nein, nicht töten. Wegrennen. In den Wald oder wohin auch immer.

Ich wünschte, dass jene, die immer noch glauben, es sei nur Putins Krieg und man müsse mit Russland verhandeln, nach Tschernihiw fahren würden. Oder zumindest in das von der ukrainischen Armee neulich befreite Irpin in der Nähe von Kiew. Auch dort sollen sich in den Kellern ähnliche Horrorgeschichten abgespielt haben, wie es der Bürgermeister angedeutet hat. Fast verschämt in einem Nebensatz.

Lemberg, den 29. März, abends

Wenn wir schon beim Thema „Zahlen“ sind … In den frühen 1990er-Jahren bemerkte der aus Odessa stammende russische Schriftsteller und Drehbuchautor Grigori Oster, dass Schulbücher für Mathe und Physik immer noch den alten sowjetischen Mustern folgen und für Kinder total langweilig erscheinen müssen. In der Sowjetunion musste man nämlich ständig irgendwelche Aufgaben lösen, wo es um Erfüllung des Plansolls oder Einbringung der Ernte ging. Es fing schon in der Grundschule an. Alle Kinder in den Schulbüchern sahen brav und artig aus, trugen rote Halstücher und saubere Uniformen, halfen den Eltern und lernten fleißig.

Irgendwie passte es nicht mehr zu den 1990er-Jahren. Grigori Oster kam auf die Idee, ein unorthodoxes Mathebuch mit unorthodoxen Formulierungen der ganz normalen Rechenaufgaben zu schreiben. Im damaligen Russland war das möglich. In einem gewissen Sinne war das Land zu jener Zeit demokratisch.

Als Ergebnis sind „Schulbücher“ entstanden, die jedes Kind zum Lachen bringen konnten. Vielleicht halfen sie einigen Grundschülern tatsächlich, Mathegeheimnisse zu entziffern. Eine der Rechenaufgaben lautete beispielsweise so: „Der Papagei von Captain Flint hat 1.567 Schimpfwörter aus verschiedenen Sprachen gelernt. Davon stammen 271 aus dem Englischen, 352 aus dem Französischen und 127 aus dem Spanischen. Der Rest entstammt der großen und mächtigen russischen Sprache. Wie viele Schimpfwörter aus dem Russischen beherrscht der Papagei von Captain Flint?“ In diesem Stil verfasste Grigori Oster mehrere Bücher, einige davon wurden auch ins Ukrainische übersetzt.

Heute wären solche lustigen Matheaufgaben nicht mehr wirklich aktuell. Auf jeden Fall nicht für vom Krieg traumatisierte Kinder. Man braucht andere Formulierungen. Eine der Aufgaben könnte derzeit zum Beispiel so lauten: „Laut ukrainischen Angaben wurden in 33 Tagen nach dem russischen Überfall 600 russische Panzer zerstört. Wie lange würde es dauern, bis alle russischen Panzer zerstört sein werden, wenn Russland laut Military Balance etwa 3.400 Panzer besitzt?“ Für Fortgeschrittene könnte man die Aufgabe komplizierter machen, wenn man eine Variable hinzufügen würde, welche die Produktion neuer Panzer berücksichtigen würde. Und auch die Engpässe bei der Beschaffung der notwendigen Komponenten. Es wäre schon fast ein Thema für Militärplaner.

Eine andere mögliche Aufgabe: „An einem Tag hat Russland 70 Raketen auf die Ukraine abgefeuert, an einem anderen Tag aber nur 40. Wie viele Raketen wurden durchschnittlich an diesen zwei Tagen abgefeuert?“ Im Krieg tun sich ganz neue Möglichkeiten für martialische Rechenaufgaben auf.

Ein ukrainischer Soldat auf einem zerstörten russischen Fahrzeug bei Charkiw
Ein ukrainischer Soldat auf einem zerstörten russischen Fahrzeug bei Charkiw
Quelle: AP

Eine der wichtigsten Fragen wäre jedoch: „Seit Beginn des russischen Angriffskrieges sterben im Durchschnitt 300 bis 500 russische Soldaten täglich. Wie lange wird es dauern, bis die Soldatenmütter in Russland protestieren?“ Auf diese Frage gibt es keine Antwort.
Wenn man das Interview liest, dass die russische Redaktion der „Deutschen Welle“ mit der Mutter eines gefallenen russischen Soldaten geführt hat, fühlt man sich bestenfalls verstört. Sie ist überzeugt, dass ihr Sohn nicht umsonst, sondern für Russland gestorben sei. Dafür, dass es keinen Krieg gebe. Dafür, dass keine Bomben auf Russland fallen würden. Und weil bereits so viele russische Soldaten gefallen seien, müsse man weiter kämpfen. Bis zum Sieg.

Darauf hätte wohl auch der heute 74-jährige Grigori Oster keine Antwort gewusst. Vielleicht deswegen hat er bisher zum russischen Angriffskrieg geschwiegen.

Lemberg, den 28. März, abends

Der Krieg wirft alle meine Vorstellungen von Mathe über den Haufen. Oder besser gesagt: vom Zusammenhang zwischen Zahlen und Logik. Ich spreche jetzt gar nicht über die getöteten russischen Soldaten. Ein Menschenleben war in Russland nie etwas wert. Ich spreche auch nicht von zerstörten Panzern oder abgeschossenen Kampfjets. Dazu gibt es jeden Tag neue Statistiken. Eine Zahl hat mich gestern jedoch wirklich sprachlos gemacht.

Die russische Internetzeitung „The Insider“, die sich auf investigative Berichterstattung spezialisiert und deswegen ihre Redaktion längst nicht mehr in Moskau, sondern in der lettischen Hauptstadt Riga hat, veröffentlichte am Sonntag eine relativ kurze, unauffällige Meldung. Russland habe am vergangenen Samstag siebzig Raketen auf die Ukraine abgefeuert und somit einen neuen Tagesrekord in seinem Angriffskrieg aufgestellt. Die meisten, nämlich 52 Raketen, wurden laut „The Insider“ vorliegenden Informationen von russischen Schiffen aus Sewastopol abgeschossen; der Rest – eineinhalb Dutzend – aus Belarus. Die ukrainische Flugabwehr hat 62 Raketen davon abgefangen. Auch das ist ein Rekord. Nur acht Raketen haben ihr Ziel erreicht.

Im Prinzip ist es nichts Neues. Russland feuert seine Raketen seit den ersten Minuten des Überfalls auf die Ukraine ab. Oft wahllos gegen Wohnhäuser und Schulen. Manchmal etwas gezielter gegen Militärobjekte. Manchmal gegen Flugzeugattrappen. Eine besondere Effizienz ist bei dieser Taktik nicht zu erkennen, eine besondere Brutalität schon. Dass an einem Tag am Himmel über der Ukraine plötzlich mehr Raketenverkehr als üblich zu beobachten war, konnte mich auch nicht wirklich verwundern. Wenn da nicht diese eine Zahl wäre.

„Die Ukraine wird gewinnen“, steht auf diesem Schild eines Mannes in Charkiw am Samstag, 26. März
„Die Ukraine wird gewinnen“, steht auf diesem Schild eines Mannes in Charkiw am Samstag, 26. März
Quelle: REUTERS

Laut „The Insider“ belaufen sich die Gesamtkosten für diese Kanonade auf bis zu 500 Millionen US-Dollar. Darin sind die Kosten für die Herstellung und Logistik enthalten. Und das nur für die von den Schiffen der russischen Schwarzmeerflotte abgefeuerten Flugkörper. Also müsste noch etwas für die Raketen aus Belarus dazukommen. Das ist aber nicht mehr so wichtig.

Ich muss es einfach noch einmal zusammenfassen. Siebzig Raketen abgefeuert. Acht haben ihr Ziel erreicht. 500 Millionen US-Dollar. Eine halbe Milliarde. Wofür? Um ein Paar Öltanks zu zerdeppern und auf dem Gelände eines Panzerreparaturwerks einen Krater zu wühlen? Der Militärführung in Moskau ist wahrhaftig kein Preis zu hoch, um die Menschen in der Ukraine zu „befreien“.

Lemberg, den 27. März, morgens

Manchmal machen sich die Texte selbstständig und führen ein Eigenleben. Was für ein seltsames Gefühl – dein Text über Gänse, der noch vor den Raketeneinschlägen in Lemberg fertig war, steht online. Als ob nichts passiert wäre. Als hätte es keine Bilder gegeben, auf denen gewaltige Flammen und dicker schwarzer Rauch von brennenden Öltanks zum Himmel aufstiegen. Bilder, die Menschen zeigen, wie sie in Panik wegrennen: Männer, Frauen, Kinder.

Ein Fahrradfahrer radelt vorbei; es sieht nicht so aus, als hätte er besonders eilig. Ein großer Baumarkt im Hintergrund. Eine Tankstelle nebenan. Ein CNN-Reporter, der für eine Schalte in der Nähe positioniert ist und sich immer wieder zu den Flammen wegdreht. Dann kann man ihn nicht wirklich hören. Es wäre besser, wenn er ein Headset gehabt hätte. Aber eigentlich ist es nicht so wichtig, was er sagt. Man hat den Eindruck, er ist mittendrin und doch in einer sicheren Entfernung. Kugelsichere Weste mit „PRESS“ drauf, auf dem Kopf ein Schutzhelm. Typisch CNN. Die wegrennenden Menschen und alle um ihn herum haben keine.

Auch das australische Fernsehen zeigt die Flammen. Sky News. Deutsche Welle. Ach … na ja, alle. Selbst auf einem YouTube-Kanal für Angler wird ein Handyvideo gepostet, aus einem fahrenden Auto aufgenommen. Der Mythos Lemberg in Flammen. Die ganze Welt schaut zu. Manche Fernsehteams waren wohl schneller da als die Feuerwehr. Die Gänse haben die Stadt nicht vor dem Raketenangriff retten können.

Der Marktplatz in der Lemberger Altstadt zu Friedenszeiten
Der Marktplatz in der Lemberger Altstadt zu Friedenszeiten
Quelle: picture alliance / pressefoto_korb/ Micha Korb

Der zweite Angriff, etwa eineinhalb Stunden später, wird nur noch beiläufig erwähnt. War auch nicht spektakulär. Keine Flammen, keine Rauchschwaden. Zwei Raketen seien auf dem Gelände eines Reparaturwerks für Panzer eingeschlagen. Panzer habe es dort keine gegeben, hieß es. Selbst wenn welche da gewesen wären, hätte man es wohl nicht gesagt.

Beide Angriffsziele liegen zwar in den Außenbezirken, aber doch in einer dicht besiedelten Gegend. Drumherum Hochhäuser aus der späten Sowjetzeit, hier und da ein moderner Neubau. Plötzlich denkt man, es sei doch gut, dass Russland Präzisionswaffen habe, die manchmal besser funktionieren als die russischen Generäle. Man kann sich kaum vorstellen, was passiert wäre, wenn die Raketen ihr Ziel verfehlt hätten und irgendwo mitten in einem Wohnblock explodiert wären. Ein irrer Gedanke.

So ist das Ganze noch relativ glimpflich ausgegangen. Fünf Verletzte, keine Tote. Wie schwer die Verletzungen sind, bleibt unklar. Bei einem explodierenden Öltank denkt man vor allem an Verbrennungen. Nach vierzehn Stunden hat die Feuerwehr den Brand gelöscht. So wie er aussah, könnte man vermuten, dass es viel länger dauern würde. Toll gemacht, Leute, danke!

Jetzt rufen wieder viele Freunde und Bekannte an. Oder sie schreiben und fragen, was los ist. Gut verständlich. Ist es ein Schock? Für viele Einwohner ganz bestimmt. Es ist ja das erste Mal in Lemberg. Na gut, eigentlich das Zweite. Aber wenn das erste schon mehr als eine Woche zurückliegt, dann fühlt es sich jetzt wieder wie zum ersten Mal. Wenn es bereits das zwanzigste Mal wäre, hätte man bestimmt anders reagiert. Nach solchen Eindrücken sollte man eher die Menschen in Charkiw oder in Mariupol fragen. Sie können viel besser erzählen, wie es sich anfühlt.

Heute geht das Leben ganz normal weiter. Wie bei der Formel 1. Sie fährt an diesem Wochenende das Rennen in Saudi-Arabien trotz der dortigen Raketeneinschläge auf ein nur wenige Kilometer von der Strecke entferntes Öllager.

Viele Kommentatoren interpretieren den Angriff auf Lemberg als ein Warnsignal an die USA. Als einen Gruß an den US-Präsidenten, der zur gleichen Zeit in Warschau eine Rede hielt. Gut möglich. Vielleicht war es aber eine Art Aufforderung an den Westen, doch Raketenabwehrsysteme an die Ukraine zu liefern? Bisher war man in den westlichen Hauptstädten eher der Meinung, wir sollten unsere Gänse besser trainieren.

Lemberg, den 26. März, nachmittags

Was wissen wir eigentlich über Gänse? Ich auf jeden Fall nicht besonders viel. Außer dass es eine Hausgans und eine Wildgans gibt, und dass der Schwan eigentlich auch eine Gans ist, nur eine etwas größere und schönere. Und dass alle Gänse im Grunde genommen Enten sind. Das war’s. Ich bin nicht mal ganz sicher, ob ich das Fleisch einer Ente vom Fleisch einer Gans sofort unterscheiden könnte.

Wenn man über eine Tierart mehr wissen will, versucht man es heutzutage zunächst bei Wikipedia. Dort heißt es, dass eine Wildgans korrekterweise eine Graugans genannt werden soll. Man kann mehr über das Aussehen und Lebensweise der Gänse erfahren, über ihre Fortpflanzung und Ernährung, dann gibt es noch Literaturhinweise, weitere Weblinks etc. Lesedauer: 14 bis 17 Minuten, sagt mein Browser.

Über die Gans als biologische Waffe steht da nichts. Auch nicht über deren Einsatz als Kampfgans. Höchstens ein Absatz über Gänserufe. Vielleicht sind die Wikipedia-Autoren einfach nicht schnell genug. Sie schaffen es nicht, den perversen Fantasien der russischen Propagandamaschinerie in Echtzeit zu folgen.

Diese behauptete neulich, die Ukrainer würden Zugvögel mit Viren infizieren, damit sie anschließend in Russland Krankheitserreger verbreiten, die in den geheimen ukrainischen Biolaboren entwickelt worden wären. Auch mit Fledermäusen würde experimentiert.

Ich weiß nicht mehr, ob da eine bestimmte Vogelart explizit genannt wurde. Das ukrainische Internet lacht seitdem über Karikaturen von Kampfgänsen, bewaffneten Hühnern und Ninja-Spatzen.

Sind hier vielleicht diese geheimen Bio-Waffen versteckt? Beschädigtes Gebäude östlich von Kiew
Sind hier vielleicht diese geheimen Bio-Waffen versteckt? Beschädigtes Gebäude östlich von Kiew
Quelle: AP

Je grotesker die Behauptung, desto besser. Wahrscheinlich hat man unter den russischen Propagandisten einen Wettbewerb ausgeschrieben. Man soll sich nicht wundern, wenn demnächst eine Boulevardzeitung folgende Schlagzeile zum Aufmacher macht: „Russischer Kampfjet von ukrainischer Wildgans abgeschossen“. Aber lassen wir mal die Gänse in Ruhe. Es gibt so viele andere Tierarten. Man könnte zum Beispiel Bienen trainieren. Oder Mücken. Und im Notfall Dinosaurier züchten.

Lemberg, den 25. März, abends

„Russland bittet die Nato, den Himmel über Tschornobajiwka zu schützen. Die Nato lehnt ab“, lautet ein neuer ukrainischer Witz. Der kleine Ort im Süden der Ukraine, vor dem Krieg kaum jemandem bekannt, ist mittlerweile nicht nur landesweit in aller Munde, sondern kann in die Handbücher als Beispiel einer sinnlosen, selbst verschuldeten Truppendezimierung Einzug finden.

Tschornobajiwka liegt nur etwa zehn Kilometer westlich von der Gebietshauptstadt Cherson, die derzeit unter russischer Kontrolle ist. In der Nähe befindet sich der regionale Flughafen, der bereits am ersten Tag des russischen Überfalls mit Raketen beschossen wurde. Früher startete von hier zweimal in der Woche eine Ryanair-Maschine nach Krakau. Am Ortsrand verläuft eine wichtige Fernstraße, die in Richtung Mykolajiw führt. Sie ist sogar Teil der Europastraße 58, die Wien mit Rostow am Don verbindet. Auf ihrem Weg durchquert sie mehrere Orte der früheren Donaumonarchie, bevor sie an den Ufern des Don im heutigen Putin-Reich endet. Über Europastraßen und Flugverbindungen macht sich dort im Moment niemand Gedanken.

Die Russen kommen nicht durch: Vorbereitete Verteidigungsstellungen in Mykolajiw
Die Russen kommen nicht durch: Vorbereitete Verteidigungsstellungen in Mykolajiw
Quelle: Getty Images

Innerhalb der letzten Wochen haben die russischen Truppen bereits zehnmal versucht, aus Cherson weiter nach Westen vorzudringen. Ob ihr Endziel die etwa 70 Kilometer westlich liegende Hafenstadt Mykolajiw oder eventuell sogar Wien war, ist nicht näher bekannt. Das Problem ist nur, dass es dort eine einzige Straße gibt, die der untergehenden Sonne folgt. Jedes Mal sind die russischen Kolonnen unter schweren Artilleriebeschuss geraten und waren gezwungen, nach Verlusten die Flucht anzutreten. Jedes Mal wiederholte sich die Geschichte mit kleinen Variationen. Aber immer mit demselben Resultat.

Albert Einstein wird manchmal folgendes Zitat zugeschrieben: „Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten“. Tatsächlich hat er das wohl nie gesagt. Dürfte auch egal sein, die russischen Generäle haben ihn ja nicht gelesen. Aber ihre Taktik scheint dieser Definition zu folgen. Vielleicht ist es einfach die geheimnisvolle Seele der russischen Offiziere.

In Tschornobajiwka hat die Fußballmannschaft der toten russischen Generäle Verstärkung bekommen. Der neue Spieler könnte seinem Rang nach sogar die Kapitänsbinde tragen. Davon berichten mehrere Quellen, allerdings ist die Information noch nicht offiziell bestätigt. Wie es bei den sonstigen Transfers üblicherweise der Fall ist: zunächst das Gerücht, dann die Verlautbarung. Bleibt nur noch abzuwarten, ob auch bei ihm die Empfehlung kommt, den Eintrag in der russischen Wikipedia zu löschen.

Juri Durkot wurde für seine Übersetzungen der Werke von Serhij Zhadan – gemeinsam mit Sabine Stöhr – mit dem Brücke Berlin-Preis und dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.

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