Es ist ein kostbarer Moment des Friedens, den die Eheleute zu Beginn auf ihrem kleinen Balkon verbringen. Sie haben sich zum Apéritif verabredet. Die pensionierte Psychiaterin (Fraçoise Lebrun) und ihr Mann (Dario Argento) bedenken die Abenddämmerung ihres altgedienten Glücks.
Das Leben sei ein Traum, sagt sie heiter. Als Filmkritiker hat er eine etwas andere Sicht; schließlich arbeitet er seit langem an einem Buch über dieses Thema. Mit Edgar Allan Poe besteht er darauf, dass es ein Traum in einem Traum sei.
Die Idylle hat im Kino jedoch immer nur ein kurzes Bleiberecht. Irgendwann während der Ellipse, die Gaspar Noé vor dem Beginn der eigentlich Handlung setzt, fand sie brüsk ein Ende. Eines Morgens wachte sie in einer Welt auf, die sie nicht mehr erkennt. Seitdem ist ihre Demenz rasend schnell vorangeschritten.
Ihre lichten Momente werden immer seltener; vorhersehbar sind sie nicht. Die Verrichtungen ihres Alltags, in die der Film sein Publikum geduldig einweiht, haben alle Selbstverständlichkeit verloren. Das Zuhause ist ein Minenfeld geworden. Eine nicht ausgeschaltete Gasflamme, die offen gelassene Wohnungstür Tür laden das Unheil ein.
Nur eine heikle Routine behauptet sich noch gegen das Unausweichliche. Ihre Wohnung war schon davor ein enges Labyrinth der Bücherregale und weiterer Zeugnisse eines geteilten Lebens als wachsame, engagierte Linksintellektuelle. Jetzt hat es sich in eine verschlungene Höhle verwandelt, durch die sie mit verlorenem Blick wandert.
Die Krankheit verrichtet ihr Zerstörungswerk gründlich. Das Zusammenleben ist ein Kampf mit und gegeneinander geworden. Er sucht Zuflucht in einer anderen aufgebrauchten Liebe. Wenn die Wege der Eheleute sich nun kreuzen, begegnen sie sich als Fremde.
Rauschhafter Laborversuch der Agonie
Achtsam führt „Vortex“ Protokoll über diesen Alptraum in einem Alptraum. Kein Moment ist ihm nebensächlich, jeder ist erzählenswert. Gaspar Noé hat sich dafür mit einer leisen, zärtlichen Beharrlichkeit gewappnet, die verblüffen muss. Bislang fiel dieser Regisseur nicht durch Zurückhaltung auf. Vielmehr suchte er beharrlich den Skandal: als ein Wüterich im Regiestuhl, dessen Kino ein Angriff auf die Sinne und Eingeweide war.
Spätestens mit „Irreversibel“ formierte sich sein Werk zu einem einzigen rauschhaften Laborversuch der Agonie. Es schürte den Argwohn, er würde die Anhäufung von Katastrophen nicht allein aus dramaturgischen Gründen begrüßen, sondern damit gleichsam eine nihilistische Fürsorgepflicht erfüllen.
Filme wie „Climax“ bestachen darin, dass sie keine Anstrengungen unternahmen, Sympathie für ihre irrlichternden Figuren zu wecken. Schwer vorstellbar, dass Noés Herz für sie schlug. Seine nicht enden wollenden Kamerafahrten verschmolzen Zeit und Raum zu einem infernalischen Pensum, das es durchzustehen galt.
„Vortex“ nun handelt von familiären Implosionen. Noés neuer Film ist aus einer ungekannten, entschieden persönlichen Betroffenheit heraus entstanden: der klaffenden Lücke, die der Tod seiner Mutter im Leben des Filmemachers hinterließ sowie einer Hirnblutung, die er selbst 2019 erlitt und die ihn bereits vor dem ersten, pandemiebedingten Hausarrest an seine Wohnung fesselte.
Der Einfall, den Regisseur Dario Argento in seiner ersten Kinorolle zu besetzen, unterstreicht noch sacht diesen lebensgeschichtlichen Hintergrund: Der untilgbare Akzent, mit dem dieser Französisch spricht, erinnerte Noé an den seines italo-argentinischen Vaters.
Erinnerung an die Entfesselung im Kino
Bei einem so zitierfreudigen Regisseur wie ihm (momentan reflektiert er intensiv die Bildstrategien des dänischen Protestanten Carl Theodor Dreyer) nimmt es nicht wunder, dass seine beiden Protagonisten auch als Kinolegenden besetzt sind. Lebrun ist eine Überlebende der klaustrophobischen Zimmerschlachten aus „Die Mama und die Hure“ von Jean Eustache. Argento ruft er ebenfalls als einen Repräsentanten der Entfesselung im Kino der 1970er Jahre auf.
Wenn er als Ehemann seine Frau vor der Welt draußen warnt, die voller Gefahren und schrecklicher Menschen stecke, wird dies durch sein Schaffen als Giallo-Regisseur hinreichend beglaubigt. Aber darin erschöpft sich Noés Neugier auf seine Darsteller nicht.
Er hat sie ihre Szenen weitgehend improvisieren lassen, voller Zuversicht, dass aus der Kollision dieser unterschiedlichen Temperamente eine Chemie der Unvereinbarkeit entsteht. Dieser Wette mit der Inkongruenz spielt auch die Besetzung von Alex Lutz zu, der ihren ratlosen, schon vom eigenen Leben überforderten Sohn verkörpert: Er ist von Haus aus Komiker.
„Vortex“ markiert mithin ein schillerndes Einlenken, das den unbedingten Stilwillen Noés nicht kompromittiert. Der Weg, den der einstige Provokateur Francois Ozon letzthin gewählt hat – hin zu bürgerlicher Reife und einer Inszenierung, die akkurat hinter die Gravitas der Konflikte zurücktritt – steht ihm nicht offen.
Man könnte auch sagen, diese Chance hat er glücklich verspielt: Einem Regisseur, dessen Filme stets ein Faustschlag ins Gesicht der Konvention waren, bietet sich deren Sicherheitsnetz nicht mehr an. Er muss eine radikalere formale Lösung finden.
Aber die Illusionsmaschinerie des Kinos taugt nur bedingt, um diesen Absturz ins Unbekannte zu fassen; auch auf seine eigene Spielart des Visionären, Halluzinatorischen mag Noé diesmal nicht zurückgreifen. Statt dessen schildert er den Verlust der Realität, in dem er sich dem Realismus verschreibt.
Dieser hat Widerhaken. Noé filmt den Kreuzweg des Paares fast durchgehend im Split-Screen-Verfahren, mit dem er zuvor in „Lux Aeterna“ noch etwas kokett experimentierte. Es geht ein Riss durch ihr Leben und die Bilder, die der Film dafür findet. Zuerst verläuft er als eine Grenzlinie, die das Bettlager der beiden auftrennt. Danach sind sie kaum je in einer Einstellung zusammen zu sehen.
Benoit Debies Kamera folgt ihnen beharrlich auf ihren je eigenen Wegen. Zuweilen schmiegen sich die Perspektiven aneinander – nie harmonisch, aber stets ertragreich wehmütig-, stehen aber meist gegeneinander. Die beiden Bildsegmente konkurrieren miteinander, indem sie unterschiedliche, gegensätzliche Appelle an das Publikum richten. Es muss eine Wahl treffen, wem es seine Aufmerksamkeit schenkt.
Sie ist ungerecht und schlicht unmöglich. Es wohnt zwei Einsamkeiten bei, die ihre Berührungspunkte unwiderruflich verlieren. Einmal gibt es einen dankbar lang ausgekosteten Augenblick des Einvernehmens. Aber die herzzerreißende Pointe, auf welche die Noés Blickführung hinausläuft, ist der Moment, in dem einer der Bildkader leer sein wird.