Der Putsch ist gescheitert. Der Sturm tausender rechter Demonstranten auf Brasiliens Regierungsviertel hat jede Menge Scherben, kaputte Kunstwerke und tausende hässlicher Bilder hinterlassen. Die Bolsonaro-Anhänger sind vertrieben und teils in Haft genommen. Die Demokratie im riesigen Land scheint vorerst gerettet.
Der Sturm auf Brasília ist aber nicht so überraschend wie der auf das Kapitol – es ist erstaunlich einfach, ins brasilianische Parlament zu kommen, wenn keine Sitzung stattfindet. Man stolpert durch marmorne Hallen, dann steht man schon im Plenarsaal. Gepolsterte Ledersitze, modernistisches Dekor, beiger Teppichboden – in den Plenarsaal des Bundestages kommt man weniger einfach.
Brasília ist eine offene Stadt. Demonstranten ziehen regelmäßig bis unmittelbar vor das Parlamentsgebäude mit der Kuppel (Senat) und der Schale (Abgeordnetenkammer) und schwenken ihre Banner auf dem grünen Rasen.
Doch die Bolsonaro-Putschisten wollten ja nicht nur demonstrieren, sie wollten die Demokratie schleifen – und haben dabei mehr beschädigt als ein paar Fensterscheiben und Kunstwerke. Die Retortenstadt, die nach Plänen von Lucio Costa und Oscar Niemeyer in Rekordzeit auf einem bewaldeten Plateau in der Mitte des Nichts geschaffen wurde, ist der Inbegriff des unbedingten Glaubens an eine bessere, schönere, schnellere Zukunft für alle.
Ihr Grundriss soll ein Kreuz symbolisieren, erinnert aber eher an ein Flugzeug. In Brasília wird der Ford Galaxy des Präsidenten Juscelino Kubitschek öffentlich in einem Glaspavillon ausgestellt wie eine Reliquie, hier regieren das individuell bewegte Automobil und ein quasi-sozialistisches Pathos Hand in Hand. Alles an der Architektur blickt ausschließlich nach vorne, auch die Adressen heißen nicht nach irgendwelchen Königen, sondern werden wie die Teile einer Maschine nach ihrer Funktion und ihrer Lage bezeichnet.
Brasílias Gründung war der maximale Bruch mit der imperialen Vergangenheit des Landes, die die Bolsonaro-Verehrer ja am liebsten zurückhaben würden. Aber auch die kleinteiligen Fahrradparadiese, die im Europa der Gegenwart ja favorisiert werden, sind dort nicht möglich, dafür ist die Stadtplanung zu radikal mit den Utopien ihrer Zeit verschmolzen.
Den rechtsradikalen Sturm auf Parlament, Präsidentenpalast und Obersten Gerichtshof zu sehen, ist deshalb doppelt erschreckend. Die Bolsonaristas brachen demonstrativ mit der menschlichen Zivilisation, die hier triumphiert. Sie erleichterten sich, soffen, krakeelten, zerstörten Kunstwerke, die hundert Jahre brasilianische Geschichte verkörpern.
Aber da ist noch etwas, das man auf den Fotos nicht sieht, das man nur fühlen kann. Der Stadtplan Brasílias verläuft symmetrisch entlang der zentralen Achse, so scheint alles doppelt zu existieren. Man wähnt sich als Besucher dann gern in einer leicht verschobenenen, zweiten Stadt mit derselben Bebauung, ist aber nur auf der anderen Seite der Achse gelandet.
Das gibt den Ereignissen des vergangenen Wochenendes eine zweite beunruhigende Ebene: Die Demokratie muss nicht immer gestürmt werden, um sich in ihr Gegenteil zu verwandeln. Manchmal reicht es, wenn sie sachte kippt.