Schwante einem nicht schon immer, dass die Sachsen ein besonderes Völkchen sind? Im Leipziger Grassi-Museum für Völkerkunde findet man seit Neuestem den Beweis. Jens-Thomas Nagel steht hinterm Biertresen seiner frisch musealisierten Kneipe „Weißes Roß“. Das Leipziger Traditionslokal musste 2019 nach 143 Jahren Betrieb schließen und wurde jetzt ins Museum verfrachtet – mitsamt Mobiliar und Wirt, der zu ausgewählten Veranstaltungen sein Grammophon mit Schellackplatten und das Prinzip Kneipe an und für sich erklärt.
Der letzte Betreiber parliert feinstes, hauchzartes Sächsisch und findet es kurios, mit seiner Kneipenkultur jetzt als genauso exotisch zu gelten wie Klangkunst von den Nikobaren oder Indigene vom Amazonas. Im Grunde passt der Ansatz, dass die deutsche Völkerkunde sich auch um einheimische Dinge kümmert, die museal geworden sind, ziemlich gut nach Sachsen, wo Mitglieder der Landesregierung Bücher schreiben, die identitätspolitische Titel tragen wie „Integriert doch erstmal uns!“
Der Trick aller Ethnologen, sich selbst auch als exotisch zu begreifen, ist von Claude Lévi-Strauss bis Heike Behrend international altbewährt. „Man kann am besten über andere reflektieren, wenn man auch über sich selbst reflektiert“, sagt die Leipziger Museumschefin Léontine Meijer-van Mensch. Die Niederländerin amtiert seit 2021 als Direktorin der sächsischen Völkerkundemuseen in Leipzig, Dresden und Herrnhut.
Die drei Häuser, die zum Verbund der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD) unter Führung von Marion Ackermann gehören, müssen sich wie alle ethnologischen Sammlungen in Deutschland gerade neu erfinden. Zu nachhaltig sind die Erschütterungen durch postkoloniale Diskurse im Land, zu heftig infrage gestellt wird das Selbstverständnis altehrwürdiger Museen, deren ethnologische Bestände sich aus Zeiten speisen, in denen die Welt noch ein Selbstbedienungsladen für Europa war.
Wie geht man heute damit um, was gehört restituiert? Im Zentrum dieser Debatte, die Deutschland und Europa seit einigen Jahren beschäftigt, stehen seit einigen Jahren Bronzefiguren aus Benin, die nach 1897 durch eine britische Plünderung im Königspalast von Benin in den Kunsthandel und anschließend in diverse europäische Völkerkunde-Museen gelangt waren, in Deutschland unter anderem in entsprechende Häuser in Hamburg, Stuttgart, Berlin, Dresden und Leipzig. Kurz vor Weihnachten konnten nun erste Benin-Bronzen aus Deutschland nach Nigeria heimreisen.
Aus Sachsen, das mit 263 Bronzen über den zweitgrößten Bestand in Deutschland verfügt, kehrten zunächst drei Exponate nach Benin City zurück. Andere Stücke bleiben als Leihgaben und Dauerleihgaben vorerst in den hiesigen Museen. Bereits 2021 hatten sich die sächsischen Sammlungen entschieden, ihre Vitrinen mit der Benin-Raubkunst leer zu lassen, solange die Rückübertragungen nicht geklärt sind. Aktuell sind in Leipzig wieder sieben Bronzen zu sehen, und zwar im Rahmen des Großprojekts mit dem etwas sperrigen Titel „Reinventing Grassi.SKD“. Dahinter steht die Idee, Ausstellungen in Zusammenarbeit mit den Kulturkreisen zu präsentieren, um deren Kult-Objekte und Exponate es eigentlich geht. So hat man Enotie Paul Ogbedor als Kurator nach Leipzig eingeladen. Der nigerianische Künstler und Kurator, der an der Konzeption des Edo Museum of West African Art in Benin City mitwirkt und im nächsten Jahr eine Einzelausstellung im British Museum eröffnen wird, hat im Grassi-Museum einen gelungenen Dialograum geschaffen.
In farbsatten Gemälden hat er sich von den prachtvollen historischen Bronzen inspirieren lassen. In seiner Zusammenschau erfährt man etwas über die Rolle der Frauen in Benin, aber auch über christliche Überschreibungen. Im heutigen Nigeria, erläutert Ogbedor, bestehe die Neigung, Benin-Bronzen als bloße Fetisch-Objekte oder gar Götzenbilder zu diskreditieren. Deutlich wird, dass jedes Kulturgut stets durch den Ort und die Gesellschaft, die es betrachtet, mit markiert wird.
Für Leontine Meijer-van Mensch ist das Bewusstsein dafür Teil der Neuerfindung der Völkerkunde, die in Sachsen noch so heißt, wie sie mancherorts nicht mehr heißen soll. Meijer-van Mensch vertritt die Idee in den Niederlanden schon viel selbstverständlicher gelebte Idee des modernen Netzwerkmuseums, das nicht mehr nur statisch und von oben herab belehren, sondern auf gesellschaftliche Anliegen reagieren will. Wer mit ihr durchs Museum geht, hört einerseits die gängigen, allseits bemühten Schlagworte wie „Partizipation“ und „Kooperation“. Andererseits Sätze wie „Etwas mehr Fehlerkultur würde Deutschland guttun“. Museen müssten nicht nur ihre Sammlungen öffnen, sondern auch ihr Selbstverständnis, sagt Meijer-van Mensch.
Das moderne Netzwerkmuseum
Selbstverständlich im Sinne von unhinterfragt und statisch bleibt in einer pluralen, diversen Gesellschaft immer weniger. Traditionelle Orte wie die Kneipe verschwinden aus dem Stadtbild, weil Mieten steigen und Menschen seltener und weniger selbstverständlich einkehren. Getalkt, gespielt und gestritten wird heute nicht mehr so sehr am Tresen, sondern im Fernsehen oder bei Social Media. Selbst zum Mut antrinken (wie die Leipziger es 1989 im „Weißen Roß“ taten, bevor sie auf die Montagsdemonstrationen gingen, die die Wende einläuteten) braucht heute offenbar niemand mehr eine Kneipe.
„Dritte Orte“ als Möglichkeiten der Begegnung und des Austauschs, wie sie Kneipen früher prototypisch boten, seien rar geworden. Menschen definierten sich nicht nur durch erste Orte (zum Wohnen) und zweite Orte (zum Arbeiten). Sie möchten auch gesellig sein, erklärt Meijer-van Mensch. Bibliotheken seien als „dritte Orte“ in Deutschland schon ganz gut, Museen noch nicht so sehr. Die 50-Jährige, die zuvor Programmdirektorin am Jüdischen Museum in Berlin war, versprüht den Esprit, der jeder Stadtgesellschaft genauso guttut wie der Weltgesellschaft. In diesem Sinne hat die Völkerkunde, die von der Vielfalt menschlicher Lebensweisen handelt, ihre beste Zeit hoffentlich noch vor sich.