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Film Doku „Der Maestro“

Morricones letzte Geheimnisse

Redakteur Feuilleton
„Ich habe zwei Gesichter“: Ennio Morricone „Ich habe zwei Gesichter“: Ennio Morricone
„Ich habe zwei Gesichter“: Ennio Morricone
Quelle: Plaion Pictures GmbH
Für Giuseppe Tornatores Kinoklassiker „Cinema Paradiso“ hat Ennio Morricone 1988 die Musik geschrieben. Nun porträtiert der Regisseur seinen verstorbenen Komponisten in einem monumentalen Film. Dabei erzählt „Der Maestro“ noch eine zweite, viel interessantere Geschichte.

Ennio Morricone sagt: „Uns gehen die möglichen Kombinationen für Melodien aus.“ Er spielt mit seinen Regisseuren Schach. Er wendet strenge Zwölftonregeln auf den Schlager an. Er setzt die Kontrapunkte nach den Formeln der barocken Klassiker. Er ist der Mathematiker unter den Filmmusikern.

Giuseppe Tornatore, der dem Komponisten seines eigenen ersten großen Kinofilms von 1988, „Cinema Paradiso“, nun ein zweieinhalbstündiges Denkmal setzt, staunt über Morricones mathematische Musik. Und so erzählt „Ennio Morricone – Der Maestro“ nicht nur, wer dieser Maestro war. Die Liebe zu den Zahlen und zur Logik wird zum zweiten Leitmotiv des Films. Für Tornatore ist die Schönheit, die daraus erwächst, ein Wunder. Als wäre Musik nicht immer schon Mathematik gewesen. Jedenfalls seit der Antike, seit Pythagoras, spätestens seit der Renaissance, als an den ersten Universitäten in Italien noch beide Fächer eins waren.

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PRAGUE CZECH REPUBLIC FEBRUARY 09: Italian composer and conducter Ennio Morricone poses for photographer before his concert at O2 Arena on February 9 2014 in Prague Czech Republic. (Vladimir Simicek/isifa/Getty Images)
Ennio Morricone †

Dass Morricone keine Melodien mochte, hat er selbst zu Lebzeiten verbreitet. „Der Maestro“ zeigt, warum. Der kleine Ennio aus Rom sollte Trompeter werden wie sein Vater. Er besuchte das Konservatorium, musste aber im Krieg in Tanzkapellen zuerst für die Deutschen und dann für die Amerikaner blasen. Im Kompositionsstudium plagten ihn Minderwertigkeitsgefühle als Trompeter und als Kleinbürger, die ihn sein Leben lang begleiten sollten. Sein Professor, Goffredo Petrassi, predigte Musik als autonome, absolute Kunst. „Ennio, schreib mir eine schöne Melodie, ein schönes Lied“, wünschte sich seine Mutter. Und Ennio schrieb die schönsten Melodien wie den Schlager „Se telefonando“, aber eben auch so hochkomplexe Partituren wie die Fuge über die vier Töne B, A, C, H, eng verschränkt mit einer folkloristischen Schmonzette für den „Clan der Sizilianer“.

„Der Western war mein Schicksal“

Tornatore konnte Morricone noch begleiten und befragen, bis zu dessen Tod im Jahr 2020, und so sieht man dem Maestro bei der Arbeit zu, mit 91 Jahren. Seine Komponierstube voller Papier und Bücher könnte auch das Studienzimmer eines Teilchenforschers sein. Er dirigiert seine Musik noch selbst in Mehrzweckhallen und auf Freilichtbühnen. Wenn er selbst spricht, redet er über die Würde, die er sich auch in der einfachsten Musik immer bewahren wollte, über seine künstlerischen Schuldgefühle und sogar von Rache an den Akademikern, die ihn geringschätzten, weil er auch einfache Musik schrieb, die eine alltägliche Funktion erfüllte.

Morricone sagt: „Ich habe zwei Gesichter.“ Was nicht stimmt. Er war zwar auch zur selben Zeit beim Festival in Darmstadt wie John Cage, er spielte bei Nuova Consonanza, einer Gruppe von Avantgardisten, und schrieb zeitgenössische Experimentalmusik. Dabei war er aber kein anderer als der Komponist mit der eckigen Brille und dem Rollkragenpullover neben Sergio Leone, Brian de Palma oder Giuseppe Tornatore. Die ersten zwanzig Minuten von „Spiel mir das Lied vom Tod“ stehen für sich als Meisterwerk konkreten Komponierens. Als sich Sergio Leone für „Zwei glorreiche Halunken“ eine Panflöte vorstellte, setzte Morricone lieber den Gesang eines Kojoten zu den anderen sonderbaren Stimmen seiner Partitur. Die Panflöte bekam Leone später für „Es war einmal in Amerika“. Da passte sie, weil sie weder zum Ort der Handlung passte noch zur Zeit des Films.

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„Der Western war mein Schicksal“, sagt Ennio Morricone zu Giuseppe Tornatore. Stimmt: Der Western hat ihn weltberühmt gemacht, er stand ihm aber auch im Weg. Am Ende hätte Quentin Tarantino für „The Hateful Eight“ lieber was mit Gitarren, Maultrommeln und Mundharmonikas gehabt, als eine Sinfonie im Stil Strawinskys. Aber dann war alles gut, im Februar 2016: Morricone bekam dafür endlich seinen ersten echten Oscar, nach fünf Nominierungen und einem Ehren-Oscar für sein Lebenswerk. Die Filmmusikverächter aus den ernsten Fächern schrieben ihm Entschuldigungsbriefe. Morricone war mit allen und mit allem, seiner Kunst und mit sich selbst versöhnt. „Heute halte ich Filmmusik für eine vollwertige Gattung“, sagt er. „Ich bereue sie nicht.“

„Ennio Morricone – Der Maestro“ möchte eine Hagiografie sein, in der möglichst viele wichtige Menschen über ein Genie viel Gutes sagen. Quincy Jones und Joan Baez, Bernardo Bertoluccui und Bruce Springsteen, Sergio Leone und Clint Eastwood, Pat Metheny und Hans Zimmer, Quentin Tarantino und John Williams. Einer sagt: Dass Morricone keine Melodien mochte und dabei die schönsten Melodien schrieb, sei einer harmlosen Schizophrenie des Meisters zu verdanken. Als käme die Schönheit nicht aus der Musik, ihrer Mathematik und ihrer inneren Logik. Der Maestro wusste das.

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