Der Reporter Jon Krakauer hat drei folgenreiche Bücher geschrieben. Mitte der Neunziger hat er die Geschichte des heillosen Romantikers Chris McCandless erzählt, der auf der Suche nach der Wildnis in einem aufgegebenem Bus in Alaska verhungert ist; im Mai 1996 war Krakauer bei der Katastrophe am Mount Everest dabei, der acht Menschen zum Opfer fielen. Sowohl „In eisigen Höhen“, Krakauers Everest-Buch, als auch „In die Wildnis“, seine McCandless-Ermittlung, sind heute Klassiker; das Kino hat sich lange bedient.
„In die Wildnis“ wurde 2007 von Sean Penn verfilmt; „In eisige Höhen“ zunächst fürs Fernsehen abgedreht, aber auch Baltasar Kormákurs „Everest“ ist ohne den Zeugen Krakauer nicht denkbar, im Film wird er von Michael Kelly gespielt. Krakauers drittes großes Buch ist im Vergleich dazu relativ unbekannt, vielleicht auch, weil er sich darin von einer anderen Seite zeigt. Denn „Im Auftrag Gottes“ erzählt nicht von der Wildnis außerhalb, sondern von der Wildnis drinnen.
Es geht um einen grausamen Doppelmord: Brenda Wright Lafferty und ihre kleine Tochter Erica Lane wurden am 24. Juli 1984 in American Fork, Utah County, mit Messerstichen geradezu hingerichtet. Statt in die Wildnis oder eisige Höhen reiste Jon Krakauer ins Mormonenland – und blieb damit seinem Hang zu Passionswegen treu; irgendwo gibt es zwischen dem Fanatismus des Aussteigers Chris McCandless, dem der Bezwinger des Mount Everest und dem derer, die Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Mormon Trail nach Westen zogen, eine Verbindung und vielleicht heißt sie ja wirklich „Religion“.
„Mord im Auftrag Gottes“ jedenfalls wollte nie nur eine True-Crime-Geschichte erzählen, sondern auch die Geschichte der Mormonen, von Joseph Smith, ihrem Gründer, über Brigham Young, ihrem historischen Patriarchen, bis zu Brenda und Erica Lafferty, die, glaubt man Krakauer, Smiths und Youngs späte Opfer sind.
Andrew Garfields beste Rolle seit „Hacksaw Ridge“
In der gleichnamigen Serie, die jetzt bei Disney läuft, hat sich diese Struktur erhalten: Man kriegt sowohl Joseph Smith als auch Brigham Young zu sehen, deren Pioniergeist allerdings vor allem der Vielehe gilt, und der lange Weg nach Utah entpuppt sich vor allem als Flucht vor einem amerikanischen Staat, der diesen Zivilisationsbruch nicht hinnehmen will. In diesen Rückblenden sieht „Mord im Auftrag Gottes“ tatsächlich wie ein Western aus: mit einem Joseph Smith, der wie ein Quacksalber geteert und gefedert wird, und einem Brigham Young als patriarchalem Schurken. Kein Zufall, dass auf der Gegenwartsebene des Jahres 1984 auch ein Native American (gespielt von Gil Birmingham) auf der Gegenseite steht.
Der Chefermittler allerdings ist selber Mormone, was der Serie am Ende ihren größten Reiz verleiht: Detective Jeb Pyre kämpft sieben Episoden lang um seinen Glauben. Gespielt wird Pyre von Ex-Spiderman Andrew Garfield, der seit Mel Gibsons Kriegsfilm „Hacksaw Ridge“ keine bessere Darstellung mehr abgeliefert hat.
Überhaupt ist die Serie in weiten Teilen grandios besetzt: die Britin Daisy Edgar-Jones (zuletzt leider in „Der Gesang der Flusskrebse“ zu sehen) überzeugt als für Utah-Verhältnisse allzu emanzipierte Brenda Lafferty, Wyatt Russell und Sam Worthington, den es sonst doch eigentlich nur als freundlichen amerikanischen Helden zu sehen gibt, lehren einen als Lafferty-Brüder nach und nach tatsächlich das Fürchten: Über sieben Folgen zeichnen sie deren Radikalisierung nach: mit zunehmend bedrohlicher Gestik, Mimik und bald quasi überall wucherndem Haar.
Düsteres Utah
Stichwort Radikalisierung: Als „Mord im Auftrag Gottes“ 2003 als Buch herauskam, schienen die Anschläge vom 11. September sein natürlicher Bezugspunkt zu sein – fast notgedrungen kamen die Laffertys einem wie mormonische Wahhabiten vor; das düstere Utah (das Krakauer schilderte und das die Serie perfekt in Szene setzt) musste eine Art amerikanisches Tora Bora sein.
2022 aber sind die Assoziationen andere, wenn man von einer Gruppe erzählt, die ihren Glauben über die Gesetze des Landes stellt: Diesmal denkt man, bevor man an den 11. September denkt, an den Sturm aufs Kapitol, an den Wahnsinn der QAnon-Bewegung und den MAGA-Quatsch von alter Größe.
Es wird seine Gründe haben, dass Jeb Pyres Co-Ermittler einmal sogar von den alternativen Fakten der mormonischen Geschichtsschreibung spricht. In diesem Moment meint er gewiss nicht die Heiligen der Letzten Tage, sondern die des 6. Januar.
„Mord im Auftrag Gottes“ ist bei Disney+ zu sehen.