Der Vorhang ist gefallen, der Deutsche Pavillon 2022 ist – leer. Maria Eichhorn hat ein Meisterwerk der Nachhaltigkeit abgeliefert. Kein Kunstwerk musste verschifft werden, und auch die Fassade bleibt, wie sie immer war: germanisch, monumental, kalt. Drinnen ist trotzdem etwas zu sehen: freigelegte Ziegelwände und ausgegrabene Fundamente, die beim Publikum Assoziationen wachrufen sollen.
Auf der ersten Biennale nach der Wiedervereinigung im Jahr 1993 hatte der Konzeptkünstler Hans Haacke den steinernen Boden des Deutschen Pavillons aufhacken lassen (übrigens ohne sich dafür die Genehmigung geben zu lassen). Es war eine brachiale und zugleich poetische Geste, eine Ansage mit langem Nachhall. Denn der Deutsche Pavillon ist bekanntlich Nazi-Architektur von 1938. Haacke demolierte das böse Erbe der Väter, es war im wahrsten Sinn ein Auf-Bruch. Damals gab es den Goldenen Löwen dafür.
Heute, knapp dreißig Jahre später schaut man wieder auf Löcher im Boden. Aber ist die Eichhorn-Ausgrabung eine Art Wiederholung, ein Re-Enactment des Jahres 1993? Yilmaz Dziewior, Direktor des Museum Ludwig in Köln und Kurator des Deutschen Pavillons, beantwortet die Frage mit einer Anekdote. Er habe mit dem Künstler Francis Alÿs am Eingang gestanden – der 62-Jährige stellt im belgischen Pavillon aus. Alÿs habe ihn gefragt, ob Haacke denn damals etwas gefunden habe beim Graben. Hat er natürlich nicht. Es ging um das Bild, den Raum, es ging um die Geste. Maria Eichhorn, geboren 1962 in Bamberg, geht ganz anders vor. Sie will wirklich wissen, was es mit diesem seltsamen Haus auf sich hat, mit diesem Schweregenerator, dieser Gravitasmaschine. Viele deutsche Künstler und Künstlerinnen haben die bad vibes für ihre Ausstellungen genutzt und mit Einbauten überformt, zuletzt. Im freundlich-modernistischen kanadischen Pavillon nebenan wäre so was kaum denkbar. Die Vergangenheit ist hier Last und Kapital zugleich, auch dieses Mal.
Eichhorn hat die Geschichte des Hauses recherchiert und dabei festgestellt, dass der 1909 hier errichtete Vorgängerbau, der Bayerische Pavillon, 1938 nicht beseitigt, sondern überformt und erweitert worden war. Eichhorn hat die Übergänge beider Bauten sichtbar gemacht, und man begreift, dass das hier einst ein ganz angenehmer Ort gewesen sein muss, weniger einschüchternd, eher wie bei den Franzosen und den Briten nebenan.
Unter dem monumentalen Gestus der Architektur litten die deutschen Nachkriegskünstler lange. Im Jahr 1958 wollte Kurator und Documenta-Gründer Arnold Bode den „typischen Epigonenbau des Nazisystems“ mit seiner „kalten, antihumanen Repräsentation“ umbauen lassen. Das ist nicht geschehen. Heute steht der Bau unter italienischem Denkmalschutz, aber was, dachte sich nun Maria Eichhorn, wenn sie als eingeladene Künstlerin den Pavillon einfach verschwinden lassen könnte, ohne ihn zu zerstören? Für diesen Zaubertrick hat sie zwei Angebote bei Fachfirmen eingeholt, und nun wissen wir auch, wie schwer die deutsche Geschichte in den Giardini wiegt: 1500 Tonnen, die man mit einem Kran hieven und dann verschiffen könnte, wie die Angebote ergaben.
Den Pavillon verschiffen? Die zurückhaltend-präzise Berlinerin Maria Eichhorn kann auch noch den größten Wahnsinn als Option ausgeben. Nach so viel Grundsätzlichkeit nimmt man viele andere Pavillons wie lustige, vollgestopfte Schaubuden war, was sie teils auch sind. Sonia Boyce (*1962) hat für Großbritannien eine Art multimediales Tonstudio eingerichtet, in dem vier schwarze Sängerinnen das Zusammenklingen proben. Frankreichs Pavillon ist von Zineb Zedira in eine Filmkulisse verwandelt worden, inspiriert von alten Streifen, ausgestattet mit einem Kino, das eine Videoarbeit der in Algerien geborenen Künstlerin zeigt.
Geradezu klassisch-modernistisch wirken dagegen die Plastiken der in Chicago lebenden Simone Leigh im amerikanischen Pavillon. Der Bau, ein 1930 errichtetes Zitat von Thomas Jeffersons von Sklaven bewirtschafteten Farm Monticello, hat von Leigh eine Fassade aus Holzsäulen und ein Strohdach verpasst bekommen. Er wirkt nun wie ein westafrikanischer Tempel oder besser wie das europäische Zitat eines solchen Tempels für eine Kolonialausstellung, und das soll natürlich auch so sein.
„Sovereignity“ heißt die Schau, es geht um afrikanische Mythen und Schwarze in Amerika und um Selbstbestimmtheit – Simone Leigh hat wohl gute Chancen auf den Löwen. Wie auch der polnische Beitrag. Małgorzata Mirga-Tas (*1978) hat den Bau mit einer zwölfteiligen Textil-Collage behängt, die sich an Renaissance-Fresken in der toskanischen Stadt Ferrara anlehnt. Der Effekt ist überwältigend: Erzählerisch, komplex und doch nicht überladen wird hier die Geschichte wichtiger Roma-Frauen erzählt, verknüpft mit Darstellungen von Menschen aus Mirga-Tas familiärem Umfeld und einer Umformung und Aneignung von Roma-Klischees. Österreich wiederum hat sich tief in die Siebziger gestürzt – das Paar Jakob Lena Knebl und Ashley Hans Scheirl hat begehbare Gemälde geschaffen, grotesk und freundlich zugleich.
Das alles klingt alles etwas wallend und poppig, doch es gibt Ausnahmen. Der Däne Uffe Isolotto (*1976) hat ein naturalistisch-surreales Horrorkabinett inszeniert – man solle doch lieber von „Darkmark“ sprechen, sagt ein jugendlicher Besucher zu seiner Mutter beim Betrachten eines erhängten Kentauren. Australien wiederum hat eine Performance von Marco Fusinato anzubieten, ein ohrenbetäubender Lärm, erzeugt vom Künstler und dazu eine Videowand mit arbiträr wirkenden Bilderfolgen. Die Länderpavillons sind ein wildes Durcheinander, vor allem dort, wo sich Nationen Säle teilen wie in den lang gestreckten Hallen des Arsenals, den zum Teil immer noch militärisch genutzten ehemaligen Werften der Republik Venedig.
Paul Gauguin, der Chauvinist
Yuki Kihara, die aus Samoa stammt und für Neuseeland antritt, hat eine Südsee-Fototapete an die Wand gebracht. Darauf hängen Porträts von samoanischen Nonbinaries, den sogenannten Fa’afafine. Ausgerechnet Paul Gauguin, der angeblich so chauvinistische Südseemaler, hat bleibende und für heute lebende Fa’afafine relevante Darstellungen geschaffen – ein komplexes Spiel aus (post-)kolonialer Aneignung.
Was muss man sonst gesehen haben? Francis Alÿs im Belgischen Pavillon mit seinen in aller Welt dokumentierten Kinderspielen ist gut, man verpasst ihn auch nicht leicht, da Belgien am Wegesrand zur Hauptausstellung im zentralen Pavillon liegt. Anderes muss man finden. Es lohnt sich diesmal, die lange Strecke bis zum Ende der Arsenale zu gehen und sich den italienischen Beitrag anzusehen. Die riesige Installation von Gian Maria Tosatti hat ein bißchen was von Gregor Schneider in ihrer mimetischen Rätselhaftigkeit – mehr sei hier nicht verraten.
Und der Krieg, fragt man sich nach so viel Kunst, was ist eigentlich mit dem Krieg? Während in der Ukraine gekämpft wird, ringt die Kunstwelt allenfalls mit dem Kater nach den vielen Empfängen, die im Umfeld der Biennale stattfinden. In quasi letzter Minute haben die ukrainischen Kuratoren auf Einladung der Biennale einen temporären Pavillon in den Giardini gebaut, eine Art Pergola aus angeflammtem Holz mit einem Berg aus Sandsäcken in der Mitte – Sandsäcke, wie man sie auftürmt, um Denkmäler zu schützen. Fertig wurde dieser temporäre Bau erst am ersten Previewtag. Ob die Geste wirkungsvoll ist oder ob man ihn für eine weitere Installation unter vielen hält, wird sich noch zeigen. Der eigentliche ukrainische Beitrag, eine Installation von Pavlo Makov, ist etwas versteckt in den Arsenalen zu sehen, es handelt sich um eine Arbeit namens „Brunnen der Erschöpfung“ von 1996.
Den russischen Beitrag hatten die Kuratoren schon bei Kriegsbeginn abgesagt. Russlands Pavillon liegt an der Hauptachse der Giardini, mitten im Kunsttrubel, im Zentrum dieser Welt im Kleinen. Es ist eine Leerstelle bei gleichzeitiger Anwesenheit, gar nicht unähnlich dem Vorhaben von Maria Eichhorn, den toxischen Deutschen Pavillon abzuräumen und einzulagern. Nur geht das eben nicht. Auf der Rückseite ist eine Zahl zu lesen, die dort schon lange prangt, und die dieses Mal doch völlig anders wirkt. Es ist das Jahr der Errichtung des russischen Pavillons, das düstere Jahr 1914.